Der Kopftuchstreit wird weitergehen
Prophetische Einsichten sind nicht erforderlich, um weitere Debatten über das Kopftuchtragen von Lehrkräften in öffentlichen Schulen zu prognostizieren. Insofern stellt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) vom 27.1.2015, veröffentlicht am 13.3.2015, keine Beendigung einer Streitfrage dar. Die Intentionen des BVG können gewürdigt werden: Mit seiner Entscheidung will es die fundamentale Bedeutung der Religionsfreiheit unterstreichen. Es will die weltanschauliche Neutralität des Staates hervorheben, die unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften im öffentlichen Raum Platz gibt und auch religiös begründete Bekleidungsvorschriften akzeptiert. Das Gericht folgt einer anderen Rechtstradition, als dies z. B. im laizistisch geprägten Frankreich der Fall ist.
Brennglasartig bündeln sich im Streit über das Kopftuch verschiedene offene integrationspolitische Fragestellungen: Was bedeutet die weltanschauliche Neutralität des Staates im schulischen Raum? Wie ist in der Kopftuchdebatte das Verhältnis von positiver und negativer Religionsfreiheit zu bestimmen, also zwischen dem Grundrecht auf freie Religionsausübung aufseiten der Lehrkräfte und den Rechten der Eltern und Schüler? Ist das Kopftuch primär religiöses oder politisches Symbol, Ausdruck des politischen Islam oder Kennzeichen für ein selbstbestimmtes Leben muslimischer Frauen in der Diaspora? Steht es für Emanzipation oder Fortsetzung der Diskriminierung von Frauen?
Das Kopftuchtragen kann unterschiedlich motiviert sein. Es muss zugleich in globalen religionspolitischen Kontexten betrachtet werden. Bekleidungsvorschriften für Frauen, mit religiösen Begründungen von Männern verordnet, stehen oft im Zusammenhang mit patriarchalischen Optionen, übrigens auch im Christentum. Das von bestimmten Ausprägungen des Islam geforderte Kopftuch setzt insofern eine Zuordnung von Mann und Frau voraus, deren Übereinstimmung mit Werten moderner Gesellschaften zu bezweifeln ist. In großstädtischen Milieus ist die wachsende Tendenz, ein Kopftuch zu tragen, Ausdruck von religiös-politischen Fundamentalisierungsprozessen.
Das Zusammenleben im Kontext einer zunehmenden religiösen Vielfalt ist eine anstrengende Angelegenheit, erfordert Rücksichtnahme und u. U. auch den Verzicht auf die kulturelle Selbstbehauptung einzelner Gruppen. Der Widerspruch gegen die Entscheidung des BVG artikuliert sich bereits im Urteil selbst: in dem Minderheitenvotum von zwei Verfassungsrichtern. Sie sagen m. E. mit Recht: „Die Bewertung des Senats, das Tragen religiös konnotierter Bekleidung durch Pädagoginnen und Pädagogen beeinträchtige die negative Glaubensfreiheit von Schülerinnen und Schülern sowie das Elterngrundrecht nicht, halten wir für nicht realitätsgerecht.“ Widerspruch zeigt sich auch in zahlreichen Reaktionen von Verantwortlichen im Bildungsbereich, die in Ausübung ihres Berufs auch die Werte der Verfassung repräsentieren. Für Schüler in der Grundschule sind die Lehrkräfte zentrale Identifikationsfiguren. Das Recht auf Freiheit der Religionsausübung steht in der Schule im engen Zusammenhang mit Eltern- und Kinderrechten, die nicht beeinträchtigt werden dürfen.
Zahlreiche Bundesländer werden überlegen müssen, wie sie den Vorgaben des BVG entsprechen wollen. Das Urteil hebt nicht jeden Ermessensspielraum auf. Es verweist Kontroversen zum Kopftuch an die Schulen zurück. In begründeten Einzelfällen können Verbote ausgesprochen werden: wenn eine ernsthafte Gefahr für den Schulfrieden gegeben ist. Darüber, wann eine solche Situation eingetreten ist, wird zu streiten sein.
Reinhard Hempelmann