Bertram Schmitz

Der Koran: Sure 2 „Die Kuh“. Ein religionshistorischer Kommentar

Bertram Schmitz, Der Koran: Sure 2 „Die Kuh“. Ein religionshistorischer Kommentar, Verlag W. Kohlhammer,  Stuttgart 2009, 363 Seiten, 44,00 Euro.


Ein Kommentar zum Koran, nicht von einem Arabisten oder Islamwissenschaftler, nicht aus explizit historischer Sicht, nicht als theologische Auslegung? Man mag sich zunächst fragen, was es mit einem religionswissenschaftlichen Kommentar auf sich hat. Fest steht, dass diese Herangehensweise ungewohnt und in systematischer Durchführung neu ist – und dass sie einen erfrischend neuen Blick auf den Koran eröffnet.

Der Hannoveraner Privatdozent Bertram Schmitz interpretiert den Koran in seinen interreligiösen Bezügen religionsgeschichtlich, und dies vorrangig im Gegenüber zu den biblischen Religionen Judentum und Christentum. Exemplarisch wird Sure 2 als wichtiges Zeugnis der Entstehung des Islam als eigenständige Religion gleichsam „in den religiösen und theologischen Fluss der Religionsgeschichte eingearbeitet“ (12). Dabei geht es allerdings nicht so sehr um Einflüsse, Anleihen, literarische Abhängigkeiten, nicht um Herleitung koranischer Inhalte aus Früherem, wozu durchaus eine Genealogie bedeutsamer Studien von A. Geiger über H. Speyer bis hin zu G. Lüling und anderen zu nennen wäre. Vielmehr sucht der Kommentar die religiöse Botschaft des Korans durch die Korrelierung mit religionsgeschichtlich relevanten – verwandten, parallelen, gegenläufigen – Themen, Denkmustern und Argumentationen gerade in ihrer Eigengestalt sichtbar zu machen – und dies unter Wahrung der religionswissenschaftlichen Distanz. Dazu werden Analogien und Vergleichspunkte mehr phänomenologisch und diskursorientiert als historisch-kritisch ins Gespräch gebracht. So werden etwa Psalmenmotive wie „Lobpreis der Tora“ (Ps 19) oder die Eröffnung des Psalters (Ps 1), semantische Beziehungen, Stellen aus den Schriftpropheten sowie weisheitliche Texte, die Sündenlehre des Paulus, Gleichnisse Jesu, Passagen aus der jüdischen Traditionsliteratur oder patristische Texte usf. in großer Breite herangezogen, um Parallelitäten und Divergenzen aufzuspüren.

Aus dieser konzentrierten interreligiös-intertextuellen Lektüre ergibt sich nicht nur eine Fülle interessanter Details im Blick auf mögliche ursprüngliche Verständnisebenen, sondern in der Zusammenschau die wohlbegründete These, dass der Tora – die fünf Bücher Mose – nicht nur als Grundlage für das Judentum und indirekt für das Christentum, sondern in spezifischer Weise auch für den entstehenden Islam entscheidende Bedeutung zukommt. Insofern die Tora grundsätzlich als Offenbarung anerkannt, auf der Basis der zweiten Sure aber auch modifiziert bzw. rekonstituiert wird, kann Sure 2 in religionsgeschichtlicher Hinsicht geradezu als „Neue Tora“ bezeichnet werden. Schmitz möchte am Ende gar „beinahe“ von einem „Tritonomium“ sprechen, einem zum dritten Mal genannten Gesetz – so sehr fallen die Parallelen zum „Deuteronomium“ ins Auge.

Neben der Mikroebene der Versanalysen wird also in dieser Hinsicht der Makroebene besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sie bildet sich in der Gliederung des Buches ab, die selbst unmittelbar der Textlektüre folgt: Sure 2 enthält nach einer allgemeinen Grundlegung (V. 2-29) einen geschichtlichen Teil (V. 30-141), einen Mittel- und Wendepunkt (V. 142-162) sowie einen kultisch-rechtlichen Teil (V. 163-283) mit Abschluss (V. 284-286). Der Durchgang wird mit der genannten These in einer Art Fazit beendet, worauf eine außerordentlich ergiebige, detailliert gegliederte Inhaltsangabe zu allen Versen der gesamten Sure mit Unterüberschriften sowie hier und da eingeschobenen kommentierenden Bemerkungen folgt („Vers-inhalte“, 347-359!). Leider ist dem Band nur ein sehr sparsames Literaturverzeichnis beigegeben, Register fehlen.

Dem Autor gelingt es, den parallelen Aufbau von Tora und Sure 2 in den erzählenden Teilen (Haggada) wie auch im Gesetz (Halacha) aufzuzeigen, und zwar sowohl was die entscheidenden Themenkomplexe als auch deren Abfolge in der Darstellung betrifft. So spannt Sure 2 den Bogen von der Urgeschichte über Mose und die Wüstenwanderung bis ins Gelobte Land. Desgleichen läuft der Gesetzeskomplex Sure 2,142-274 mit der Themenfolge Kultzentrum (ein Ort, ein Glaube), Speisegebote, Feste, Frauen und Abgaben erstaunlich parallel zu Dtn 12.14.16.21-22.24-25.26. Bedeutsame Abweichungen werden inhaltlich begründet, etwa dass die Nachordnung der Väterüberlieferung mit dem Schwerpunkt Abraham (V. 124-141) hinter die Mosegeschichte argumentativ plausibel ist, da sich der Islam als Erneuerung eben der Religion Abrahams versteht. Die entscheidende Schlüsselstelle um die keineswegs nur räumlich-geographisch, sondern durchaus grundsätzlich theologisch zu begreifende Wendung von Jerusalem nach Mekka, die argumentativ durch Abraham als Vater des Glaubens in Mekka vorbereitet und durch die Änderung der Gebetsrichtung (V. 142-145) vollzogen wird, ist somit markiert und kaum zufällig genau in der Mitte von Sure 2 platziert. So lässt die Sure durch ihre kunstvolle Komposition einerseits erkennen, dass und wie Muhammad sich auf die Tora als Maßstab bezogen hat, andererseits formuliert sie den zu Beginn der medinischen Zeit sich ankündigenden Anspruch des Korans, nun seinerseits als Maßstab für die Tora und ihre Wirkungsgeschichte zu gelten.

Auf verschiedenen Ebenen zeigt die Studie, dass Relationen aufzuzeigen nicht Relativierung der „Originalität des arabischen Propheten“ (Johann Fück) bedeutet. Es gerät nicht aus dem Blick, dass die Sure vielfach in polemischer Abgrenzung gegen Juden und Christen argumentiert. Sie steht selbstbestimmt und souverän gegenüber der Tora – symbolisiert in der „Umwendung zur Kaaba“, die zugleich die praktische Lösung von den biblischen Religionen vorzeichnet (346). Dieses in seinem religiösen Moment im Kontext der Religionen nachzuvollziehen, ist Aufgabe und Ziel des Buches. Es gelingt ihm ausgezeichnet. Ein Beitrag zur gegenseitigen Religionsverständigung, wie beabsichtigt, kann es daher mit Sicherheit sein. Deshalb sei die Lektüre allen am Koran und am christlich-muslimischen Dialog Interessierten warm empfohlen.


Friedmann Eißler