Der Missbrauchsskandal und die Medien
Wenn man die Äußerungen von Vertretern der katholischen Kirche und ihr nahe stehenden Journalisten zum Missbrauchsskandal verfolgt, fällt vor allen eines auf: Hilflosigkeit, in Worte gefasste Ratlosigkeit, manchmal in sehr viele Worte gefasste Verwirrung. Allerdings nicht in jeder Hinsicht: Die moralische und theologische Position ist klar, die kirchen- und strafrechtliche hat sich geklärt, der Aufdeckungswille ist eindeutig. Hilflosigkeit herrscht bei der human- und sozialwissenschaftlichen Analyse der Ursachen und – da Letzteres Ersteres voraussetzt – bei der Zukunftsgestaltung.
Die katholische Kirche ist ein komplexes soziales System mit eigenen Rollen, Machtverhältnissen und Entscheidungswegen, mit diversen inneren Milieus und einer gewissen Undurchsichtigkeit – auch für sie selbst. Wie der erschreckende Umfang von vergangenen Missbrauchsfällen mit der kirchlichen „societas“ zusammenhängt, erfährt man nicht, weil die Sprecher der katholischen Kirche die Vielfalt der Wirkfaktoren selbst nicht verstehen oder sie nicht medientauglich erläutern können. Denn der Zusammenhang ist komplex, und nur eine differenzierte Analyse könnte ihm gerecht werden. Eine solche ist aber weder erhältlich noch vermittelbar. Deshalb dominieren bei Kirchenkritikern und Kirchenleuten realitätsferne Vereinfachungen. Das Zölibat verursacht Pädophilie nicht, wird betont. Natürlich nicht in einer einzelnen Biografie. Aber haben das Zölibat und die sexuelle Praxis (oder Nicht-Praxis), die es bewirkt, auch systemisch nichts mit den Missbrauchsfällen zu tun? Jede Einrichtung, die mit Kindern und Jugendlichen umgeht, ist für Pädophile attraktiv, heißt es. Richtig – und Missbrauch gibt es auch anderswo. Aber das Gefährdungspotential hängt von dem Umfeld ab, in dem sich eine pädophile Lehrkraft bewegt. Wie kann es gesenkt werden? Die Richtlinien zum innerkirchlichen Umgang mit Missbrauchsfällen sind gut, sagt man, und sie werden weiter verbessert. Das stimmt, aber das Problem liegt bei der mangelnden Einhaltung und hat seine Gründe im sozialen System. Was für Gedanken hat man sich dazu gemacht?
Selbst der ehrliche und lesenswerte Beitrag von Karl Kardinal Lehmann in der FAZ vom 31.3.2010 hat in Sachen Analyse kaum etwas zu bieten, und er ist einer der besten. Man habe die Gefahr der Pädophilie lange unterschätzt, schreibt der Kardinal. Aber das lag sicher nicht nur an der einen Ursache, die er anführt, nämlich am niedrigen medizinisch-psychologischen Wissensstand.
Andere Äußerungen sind vergleichsweise peinlich, nicht nur diejenigen des inzwischen zurückgetretenen Bischofs Walter Mixa, der die Welt nicht mehr versteht. In der FAZ vom 19.4.2010 versucht sich Gerd Roellecke an einem Vergleich zwischen dem Rücktritt der evangelischen Bischöfin Margot Käßmann und den Rücktrittsforderungen gegenüber Bischof Mixa wegen des Vorwurfs, Kinder geschlagen zu haben. Drei Spalten moralischer Sophisterei werden von vornherein dadurch entwertet, dass der Autor den einfachen, für jedermann erkennbaren Unterschied der beiden Fälle missachtet: Margot Käßmann trat wegen eines privaten Fehlverhaltens zurück, nicht wegen Dienstvergehen. Weder hat sie Spendengelder dubios verwendet noch ihr anvertraute Kinder verletzt. Was immer ihr Problem mit ihrer Person zu tun hat – ein Zusammenhang mit dem sozialen System „Kirche“ ist nicht erkennbar. Was soll also der Vergleich? Nun, er soll Sprachlosigkeit verschleiern.
Man könnte sich auf evangelischer Seite über solche Artikel ärgern. Aber besser ist es, so zu reagieren, wie die mediale Bewusstseinsindustrie nicht reagieren kann: mit Verständnis. Die evangelische Kirche kann als ökumenischer Partner kirchliche Ratlosigkeit verstehen, und sie kann Rücksicht darauf nehmen, dass differenzierte Ursachenforschung Zeit und Abstand braucht. Das soziale System, in dem man selbst agiert, von innen heraus zu begreifen, ist ein schwieriges Unterfangen, nicht nur für katholische Würdenträger.
Darüber hinaus kann gerade die evangelische Kirche daran erinnern, dass die soziale Wirklichkeit einer Volkskirche nicht mit ihrer Medienpräsenz identisch ist, eher im Gegenteil. In Tausenden von Gemeinden wird Gottesdienst gefeiert, werden Kinder und Jugendliche gefördert, wird Menschen geholfen, gibt es reiches geistliches Leben, ohne dass Medienauftritte von Bischöfen und Zeitungsartikel irritierter katholischer Journalisten viel damit zu tun hätten. Wo Leben ist, gibt es Hoffnung, und man hat Kraft zur Geduld. Diese kirchliche Wirklichkeit wird in den Medien völlig unsichtbar. Man kann in einer Talkshow nicht sagen: „Wir wissen nicht, wie es dazu kommen konnte, und wir wissen nicht, wie es weitergeht. Wir brauchen Zeit.“ Aber genau so ist es, und vielleicht hilft es, wenn jemand anderes es wenigstens von außen sagt. Ach ja, noch eine Bemerkung am Rande: Die Situation lädt zu ekklesiologischer Kritik am katholischen Kirchen- und Amtsverständnis von evangelischer Seite ein. Auch die gab es in intellektuell gehobenen Medien bereits nachzulesen. Aber dafür ist jetzt nicht der rechte Zeitpunkt.
Hansjörg Hemminger