Der Transhumanismus
Annäherungen an ein diffuses Phänomen
Der Transhumanismus1, seine Implikationen und Auswirkungen werden derzeit kontrovers und vielschichtig, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, in diversen Milieus thematisiert: im journalistischen Diskurs2, in politischen Debatten3, in wissenschaftlichen Publikationen4, in Fragen der Erziehung5, in Kunst und Unterhaltung6 sowie auf Plattformen von Verschwörungstheoretikern7. Auch im kirchlichen Kontext taucht das Thema „Transhumanismus“ vermehrt auf.8 In seiner expliziten Adressierung bleibt es aber letztlich doch ein Randphänomen.
Das verwundert einerseits, weil der mit dem Transhumanismus unzertrennlich verbundene technologische und wissenschaftliche Fortschritt auch eine kirchliche Haltung herausfordert: Kann im Angesicht einer Transhumanisierung des Menschen überhaupt noch ein christliches Menschenbild plausibel vertreten werden? Ist die Rede von einem Gott, der dem Menschen zwar nah, aber nicht in diesem selbst zu finden ist, angesichts der Selbstvergötterung des Menschen überhaupt noch relevant? Und kann die Kirche im Angesicht der neuen, zahlreichen ethischen Herausforderungen überhaupt noch als ethischer Kompass mit gesellschaftlicher Ausstrahlung wahrgenommen werden?
Andererseits ist der transhumanistische Diskurs so stark von Zukunftsutopien bzw. -dystopien, z. B. der Unsterblichkeit einerseits und der Auslöschung der Menschheit andererseits, durchsetzt,9 dass Zurückhaltung und vorsichtiges Abwägen von Urteilen als valide kirchliche Strategie im Umgang mit solchen transhumanistischen Zukunftsszenarien erscheint. Denn anstatt zu spekulieren, welches destruktive oder produktive Potenzial technologischer Fortschritt für die Menschheit und deren Entwicklung beinhalten mag, lohnt es sich, ja ist es vielleicht sogar theologisch geboten, das Hier und Jetzt proaktiv und menschenzugewandt mit den verfügbaren Ressourcen und Technologien zu gestalten.10 Aber gehört zu diesen Ressourcen und Technologien eben nicht auch ein Großteil dessen, was Transhumanisten diskutieren und vorantreiben?
Doch was ist das genau, was Transhumanisten diskutieren und vorantreiben? Eine eindeutige Antwort lässt sich nicht finden. Die transhumanistische Gemeinschaft wird nämlich zu Recht oft als lose, heterogene Bewegung charakterisiert.11 Der Gemeinschaft fehlt ein verbindlicher Schriftenkanon, der eine gemeinsame Basis definiert.12 Sie weist einen niedrigen Organisationsgrad, eine unverbindliche Zugehörigkeitsstruktur sowie einen hohen Meinungs- und Weltanschauungspluralismus auf. Es gibt hauptsächlich Vereine und Netzwerke, die entweder als Plattform oder einem Forschungszweck dienen. Die Mitgliederzahlen in den Gruppen sind sehr überschaubar, wenn sie überhaupt erhoben werden. Ein Großteil der transhumanistischen Gemeinschaft organisiert sich vielmehr spontan und unverbindlich zu lokalen Meetups, diskutiert ihre Anliegen über Facebook- oder Reddit-Gruppen. Die meisten Transhumanisten sind vermutlich sog. „stumme“ bzw. de facto Transhumanisten, also Menschen, die der Idee (unbewusst) zustimmen, aber keine aktive Rolle in der Gestaltung bzw. der Verbreitung übernehmen. Selbst eine grobe Schätzung, wie viele Transhumanisten es weltweit gibt, ist damit unmöglich.13 Die einzelnen Vertreter verfolgen sehr unterschiedliche Interessen, Ziele und Agenden.14 In dieser Vielfalt, Verschiedenheit und Vagheit entsteht schnell die Frage: In welcher Hinsicht lässt sich überhaupt von Transhumanismus und Transhumanisten sprechen?
Dieser Frage nach- und von der Beobachtung einer pluralistischen transhumanistischen Gemeinschaft ausgehend soll in diesem Artikel für die Unterscheidung zwischen einer transhumanistischen Idee und vielen, diese Idee realisierenden Erscheinungsformen argumentiert werden. Den Transhumanismus gibt es also nicht, sondern vielmehr zahlreiche Transhumanismen. Die transhumanistische Idee bildet dabei das ideelle Gerüst für alle Transhumanismen. Ein Gerüst, das in seiner Struktur überzeugungsarm und deutungsoffen ist. Aufgrund dieser Struktur muss die transhumanistische Idee sich in ein bereits vorhandenes Überzeugungssystem einnisten, welches die Überzeugungen ausdeutet und ggf. weitere Überzeugungen für eine (umfassende) Erklärung von Mensch und Welt bereitstellt. Die Auswahl eines solchen weltanschaulichen Wirtes ist beliebig, sofern er mit der Idee kompatibel ist. Ein solches Verständnis fordert einerseits dazu auf, die weltanschaulichen Grundlagen transhumanistischer Erscheinungsformen stärker in den Blick zu nehmen (und die bisher sehr starke technozentrische Perspektive zu ergänzen15), und erklärt andererseits, wie unterschiedliche, z. T. sogar widersprüchliche Transhumanismen entstehen, beispielsweise ein atheistischer und ein christlicher. Mit einem Blick auf Letzteres und einer Zusammenfassung schließt der Artikel.
Den Transhumanismus gibt es nicht
Aufgrund der Vielschichtigkeit des Phänomens entsteht in der Bestimmung des Begriffs „Transhumanismus“ häufig konzeptuelle Konfusion. Der „Transhumanismus“ wird einerseits oft mit ähnlichen Konzepten, wie z. B. dem Posthumanismus, verwechselt, und andererseits werden zahlreiche, z. T. sich ausschließende Bedeutungsbestimmungen vorgenommen.16
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Anmerkungen
1 Wegen seines „-ismus“-Suffixes oft als Ideologie mit klaren inhaltlichen und handlungsleitenden Konturen bestimmt, wird das Konzept „Transhumanismus“ hier hingegen erst einmal als eine Art allgemeiner, unbestimmter Containerbegriff verstanden, unter den zahlreiche, hauptsächlich die Verbesserung bzw. Perfektionierung des Menschen anstrebende Bewegungen, Strömungen und Gedanken subsumiert werden.
2 Exemplarisch sei auf FAZ Quarterly 2/2017 mit dem Titel „Der neue Mensch“ verwiesen.
3 So versucht z. B. die transhumane Partei Deutschlands, den Anliegen der Bewegung Gehör zu verschaffen. Auch auf internationaler Ebene gibt es zahlreiche transhumanistische Parteien (vgl. https://hpluspedia.org/wiki/Transhumanist_political_organisations ). Siehe auch Roland Benedikter/Katja Siepmann: Der neue Politiktrend: Transhumanismus, in: Aufklärung und Kritik 3/2015.
4 Ein guter Überblick bei Janina Loh: Trans- und Posthumanismus. Zur Einführung, Hamburg 2018, oder bei Robert Ranisch/Stefan Lorenz Sorgner: Introducing Post- and Transhumanism, in: dies. (Hg.): Post- and Transhumanism, Frankfurt a. M. 2014, 7ff.
5 Vgl. z. B. Martin Dust u. a. (Hg.): Jahrbuch für Pädagogik 2014. Menschenverbesserung. Transhumanismus, Frankfurt a. M. 2014.
6 Vgl. den Grundlagenartikel von Natasha Vita-More: Aesthetics: Bringing the Arts & Design into the Discussion of Transhumanism, in: Max More/Natasha Vita-More: The Transhumanist Reader, New York 2013. Siehe auch das Kapitel „Paragone of the Arts“ in Ranisch/Sorgner (Hg.): Post- and Transhumanism (s. Fußnote 4).
7 Z. B. bei NuoViso.tv (www.youtube.com/watch?v=XnVpxYfLbOA ); alle Links wurden am 11.3.2019 aufgerufen), bei der 16. AZK (www.anti-zensur.info/azk16/azk16_Erich_Hambach_Transhumanismus ) oder auf der Webseite des Kopp-Verlags. Dort haben sich interessanterweise auch fundiert-wissenschaftliche Bücher ins Sortiment gemischt – vielleicht weil sie den Begriff „Kritik“ im Titel beinhalten?
8 Vgl. z. B. die Artikel von Benedikt Paul Göcke im Studienbrief R 24 der AMD 2/2018 (Transhumanismus und der Glaube an Gott) und von Matthias Wirth in Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 1/2018 (Doketisch, pelagianisch, sarkisch? Transhumanismus und technologische Modifikationen des Körpers in einer theologischen Perspektive).
9 Gerne wird eingewendet, dass Transhumanisten keine Utopie errichten wollen, sondern sich in einem ständigen Verbesserungsprozess befinden (vgl. Max More: The Philosophy, in: The Transhumanist Reader [s. Fußnote 6], 14), oder dass es sich dabei nur um ein rhetorisches Mittel handle, das Aufmerksamkeit für die Agenda schaffen solle (vgl. Stefan Lorenz Sorgner: Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt“!?, Freiburg i. Br. 2016, 11). Doch wie überzeugend ist das, wenn zahlreiche Transhumanisten voller Überzeugung utopische Zukunftsszenarien malen?
10 Eine Perspektive, die so (ähnlich) z. B. Volker Jung, Kirchenpräsident (EKHN), in seinem Buch „Digital Mensch bleiben“, München 2018, skizziert.
11 So z. B. auch in der Selbstbeschreibung, vgl. http://humanityplus.org/philosophy/philosophy-2.
12 Auch wenn wohl Bücher und Artikel von Huxley, More, Fm-2030, Bostrom, Hughes u. v. m. zentral sind, haben sie nicht den verbindlichen, grundlegenden Status wie z. B. die Bibel für das Christentum.
13 Wenn in Artikeln, wie z. B. bei Zoltan Istvan (vgl. www.huffingtonpost.com/zoltan-istvan/a-new-generation-of-trans_b_4921319.html ), von einer Verdreifachung der Transhumanisten in den letzten Jahren gesprochen wird, muss das erst einmal als Strategie der Aufmerksamkeitserregung verstanden werden. Konkrete Zahlen beziehen sich dann meist nur auf eine bestimmte transhumanistische Ausprägung oder Gruppe. So hat sich die Mitgliederzahl bei humanity+, dem wohl derzeit größten Transhumanisten-Netzwerk, von 2005 bis heute versiebenfacht, allerdings lediglich von ca. 3000 auf knapp 20000 (aktuelle Zahlen aus privater Korrespondenz, alte Zahlen bei James Hughes: Report on the 2005 Interests and Beliefs Survey of the Members of the World Transhumanist Association, 2005, und James Hughes: Report on the 2007 Interests and Beliefs Survey of the Members of the World Transhumanist Association, 2008).
14 Z. B. in der Politik (s. o.), der Kunst (z. B. unter dem Genre „cyberpunk“, www.neondystopia.com/what-is-cyberpunk ), der Ethik (https://ieet.org ), im Bereich der lebensverlängernden Maßnahmen (www.lifeextension.com ) u. v. m.
15 Und damit rücken auch andere, weniger spekulative Fragen in den Vordergrund. Nicht: Wie könnte der Mensch sein, wenn diese oder jene Technologie erfunden ist? Sondern: Was ist der Mensch und wie wird er durch Technologie und Fortschritt verändert?
16 Vgl. Ranisch/Sorgner: Introducing Post- and Transhumanism (s. Fußnote 4). Aktueller Loh: Trans- und Posthumanismus (s. Fußnote 4).