Celalettin Kartal

Deutsche Yeziden. Geschichte - Gegenwart - Perspektiven

Celalettin Kartal: Deutsche Yeziden. Geschichte - Gegenwart - Perspektiven ( Religionen aktuell 17), Tectum-Verlag, Marburg 2016, 149 Seiten, 19,95 Euro.

Als der sogenannte Islamische Staat am 3. August 2014 Angehörige der Religionsgemeinschaft der Yeziden im kurdischen Shengal-Bergland im Norden Iraks einkesselte, Frauen versklavte und Männer ermordete, war diese Religionsgemeinschaft wenigen in Deutschland bekannt. Dies ist insofern überraschend, als bereits aufgrund des Anwerbeabkommens für „Gastarbeiter“ aus der Türkei die ersten Yeziden im Jahr 1964 nach Deutschland kamen, sodass seit einem halben Jahrhundert Angehörige dieser Religion v. a. in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen leben.

In engagiert-betroffener Weise bespricht Celalettin Kartal diese Religion mit folgenden großen Themen: Er skizziert ihre Herkunft und ihre Beziehungen zu anderen Religionen (v. a. 19-32), behandelt die „Geschichte der Wehrlosen“ (32-53) und die unterschiedlichen Gründe der Flucht bzw. Migration nach Deutschland (53-63). Den Hauptteil des Buches bildet die Darstellung des Glaubenssystems (64-73), der Divergenzen in der Theologie (74-84) und der Stellung der Frauen (84-91), wobei frauenspezifische Aspekte auch bei der Darstellung der Praxis (z. B. Heiratsvorschriften, 93f; Jungfräulichkeit, Brautpreis, arrangierte Ehen, Eheschließung, Scheidung, 97-102) zur Sprache kommen. Die Veränderungen der Religion in Deutschland (103-120) werden in mehreren Unterabschnitten (zu Identität; Rolle der kurdischen Sprache; Vereine; Diskussion über Reformen) behandelt. Prägnant fasst Kartal die wichtigsten Themen und Inhalte des Yezidentums zusammen (120-123), und sein kommentierter Überblick zu wichtigen Arbeiten über die Yeziden (124-134) vermittelt eine gute Information zu den Forschermeinungen. Diese beiden letzten Abschnitte sind der nützlichste Teil des Buches. So weit ein Inhaltsüberblick, wobei ich im Folgenden nur einige strittige Detailfragen bespreche.

Unlängst hat der „Materialdienst“ (5/2016, 172) mit dem Hinweis „Keine rein akademische Angelegenheit“ drei Beiträge eingeleitet, die konträr die Namensformen Eziden und Yeziden bzw. – unter der Berücksichtigung von diakritischen Zeichen – die Singularform Êzîdi diskutieren. Obwohl Kartal im Titel seines Buches von „Yeziden“ spricht, verwendet er im Text die Form „Êzîden“, die er etymologisch von ez da (Schöpfer) herleitet (14), was sprachlich unzulässig ist. Die Diskussion der etymologischen Herleitung der Bezeichnung hat dabei religionsgeschichtliche und theologische Implikationen. Beide Namensformen – Yeziden bzw. Êzîden – gehen auf ein altiranisches Wort yazata- („verehrungswürdiges Wesen“, „Gottheit“) zurück. Das Wort ist in mehreren iranischen Sprachen bezeugt, im Neupersischen in der Form ’īzad, wobei der muslimisch-neupersische Kontext die Bedeutung zu „Engel“ verschiebt. Eine vergleichbare Verschiebung des Wortanlauts ya- zu einem langen ’ī- bzw. einem langen ê- zeigt auch die kurdische Aussprache und Schreibweise des Begriffs êzîdi bei (y)ezidischen Kurden in der Türkei, während Kurden im Irak und Iran mit arabisch-persischer Schrift die Form yazīdi verwenden. Wenn manche Yeziden diese Form wegen der Verbindung mit dem Namen des (sunnitischen) Kalifen Yazīd ablehnen, so beruht dies auf einem Missverständnis. Auch der Name Yazīd geht etymologisch – gleich wie die Bezeichnung der Religionsangehörigen – auf den genannten Begriff yazata- zurück, da dieses religiös positiv konnotierte Wort gerne in Personennamen verwendet wurde, um die Nähe des Namensträgers zum göttlichen Wirken auszudrücken. Diese (etymologische) Namensähnlichkeit drückt aber keine – wie auch immer geartete – Beziehung zwischen dem islamischen Herrscher und den Religionsangehörigen aus. Beide Formen – Yeziden und Êzîden – sind dabei inhaltlich identisch, wobei eine definitive Entscheidung über die „richtige“ Form der Umschrift des Namens aber nicht möglich ist: Fokussiert die Fragestellung auf den (westiranischen) Ursprung der Religion bzw. auf Yeziden im heutigen Irak bzw. Iran (und einer arabisch-persisch-kurdischen Schriftkultur), so liegt die Umschrift Yeziden nahe. Êzîden in Deutschland, die mehrheitlich aus der Türkei stammen und daher auf ihre lokale – auf der Lateinschrift beruhende – Schreibweise ihrer kurdischen Sprache rekurrieren, favorisieren daher in ihrer Selbstbezeichnung die sprachliche Weiterentwicklung zum vokalischen Wortanlaut. Da aber nicht alle Yeziden aus diesem geografischen Gebiet stammen, könnte man der „älteren“ konsonantisch mit ya- [yä-] / ye- anlautenden Sprachform den Vorzug als „Oberbegriff“ geben, wobei inhaltlich zu betonen bleibt, dass beide Ausspracheformen etymologisch dieselbe Grundlage haben und die Zuordnung der Yeziden/Êzîden auf das „Göttliche“ (altiranisch yazata-) ausdrücken.

Kartal betont (17), dass es sich beim Yezidentum um eine vorislamische bzw. vorjüdische Religion handelt, doch ist die Zwischenüberschrift „uralte Religion der Germanen“ (19) völlig verfehlt, da hier der Vf. die Begriffe „germanisch“, „indo-germanisch“ und „indo-europäisch“ durcheinanderbringt. Religionsgeschichtlich fußt die yezidische Religion auf älteren (west-)iranischen religiösen Vorstellungen, sodass sich einige mythologische sowie kultische Inhalte des Yezidentums auch bei den „Geschwisterreligionen“ (21) des Zoroastrismus, der Religion der Yaresan und der Religion der Alewiten finden. Zutreffend distanziert sich der Vf. von einer (politischen) Vereinnahmung des Zoroastrismus für eine nationalistisch-kurdische Identitätsbildung, durch die manche Yeziden versuchen, eine eigenständige kurdische Identität zu schaffen, die älter als der Islam ist. Mit den Yaresan im Iran und im irakisch-iranischen Grenzgebiet teilen Yeziden einige Vorstellungen (z. B. sieben mystische Wesen; Überlieferungen hinsichtlich der Schöpfung; ähnliche rituelle Praktiken), durch die sie sich vom Zoroastrismus unterscheiden. Diese Ausführungen des Vf. gehen im Wesentlichen auf Forschungen von Philip G. Kreyenbroek zurück. Dass sich auch „Unterschiede zu Universalreligionen“ (28) zeigen, ist selbstverständlich; wenn der Vf. jedoch v. a. den „Pazifismus“ als Besonderheit der Yeziden-Religion dem Christentum und dem Islam und ihren im Namen von Religion geführten Kriegen gegenüberstellt oder wenn er betont, dass yezidische Texte keine Beschimpfungen über Nicht-Yeziden kennen (29f), so tragen solche Pauschalaussagen wenig zum Verständnis von Religionen bei.

Eine nach wie vor nicht gänzlich geklärte Frage in der Erforschung der Yeziden ist die Rolle, die Sheikh Adi (gest. 1161/1162) als Reformer spielt. Der Vf. selbst scheint dabei eher zwei – prinzipiell – widersprüchliche Positionen zu vertreten. Einerseits (38f) hebt er hervor, dass es Sheikh Adi als Reformer zu verdanken ist, dass die Yeziden im 12. Jahrhundert vor der Auflösung und dem Untergang bewahrt wurden. Hinsichtlich der Sufi-Elemente, die durch Sheikh Adi Eingang in die Religion gefunden haben (68), betont er jedoch, dass diese Vorstellung von den meisten Yeziden abgelehnt würde; überhaupt reduziert der Vf. die Frage nach der historischen Rolle von Sheikh Adi völlig und sagt: „Vielmehr gehen fromme Êzîden davon aus, dass es der Chefengel [M. H.: damit bezeichnet der Vf. Tawus-e Melek, den „Engel Pfau“] selbst war, der zu ihrer Rettung sein Mysterium an Sheikh Adi übertragen hat“ (38). – Diese De-Historisierung ist m. E. nicht nur unzulässig, sondern auch für ein Verständnis der Komplexität der Yeziden-Theologie und Religionsgeschichte wenig hilfreich. Dass Sheikh Adi in der Theologie überhöht und manchmal als Inkarnation von Tawus-e Melek angesehen wird und dadurch – theologisch-sekundär – in die göttliche Welt erhoben wird, ist zutreffend (und auch teilweise Kritikpunkt von Muslimen an Yeziden), allerdings darf in einer wissenschaftlichen Studie, die auch die Geschichte einer Religion erhellen möchte, die Historizität einer Person nicht derart in den Hintergrund gerückt werden, da dies keineswegs „gänzlich belanglos“ (38) ist, wie der Vf. behauptet.

Da die Yeziden in den letzten Jahrzehnten auf dem Weg sind, ihre Theologie und ihr Selbstverständnis – v. a. in der Diaspora – neu und systematisch zu entfalten, und dadurch von Yeziden über ihre eigene Religion sehr unterschiedliche, z. T. divergierende Meinungen vertreten werden (deren Vielfalt der Vf. nennt, aber meist eine Gewichtung zur Orientierung des Lesers unterlässt), ist es notwendig, historisch Gesichertes als Basis jeder Theologiebildung zu benennen. Die drei behandelten Punkte – Name; religionsgeschichtliche Einbettung in den Strom westiranischer Religionen; Rolle von Sheikh Adi – sind Eckpunkte, mit denen sich eine solche Theologie auseinandersetzen muss. Da der Vf. aber dazu oft unsystematisch Aussagen aneinanderreiht, ist der Ertrag des Buches als Einführung in die Religion der Yeziden für einen wenig informierten Leser leider sehr gering anzusetzen.

Die in Deutschland lebenden Yeziden stammen aus unterschiedlichen Herkunftsregionen, wobei erst seit einer 1992 gefällten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Türkei nicht bereit sei, Yeziden vor muslimischen Übergriffen zu schützen, Yeziden problemlos als Flüchtlinge anerkannt werden können (54). Seit 2011 hat auch die Zahl von aus Syrien stammenden yezidischen Flüchtlingen deutlich zugenommen. Yeziden, die aus Georgien oder Armenien nach Deutschland geflohen sind, haben schlechte Chancen auf Asyl (61f). Die meisten Yeziden betrachten Deutschland als ihre (neue) Heimat, und sie werden auch für immer hier bleiben, wobei derzeit bereits die ersten Angehörigen der vierten Generation hier leben (63) und nach Schätzungen 80 Prozent von ihnen inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen (104).

Die somit auf Dauer ausgelegte Anwesenheit in Deutschland führte seit ca. 1990 zu einem Ringen um eine Definition des eigenen Selbstverständnisses. Dabei plädiert der Vf. für eine stärkere Förderung der Gemeinschaft vonseiten öffentlicher Stellen (vgl. 109f), da nach seiner Meinung Yeziden etwa in Fragen des Religionsunterrichts oder eines kurdisch-muttersprachlichen Unterrichts für Yeziden-Kinder gegenüber Muslimen hinsichtlich einer öffentlichen Unterstützung klar im Nachteil sind. Dass in solchen Fragen Verbesserungsbedarf besteht, um den Yeziden die Bewahrung (inklusive einer Re-Interpretation) ihrer Kultur unter den Bedingungen der Migrationssituation zu ermöglichen, ist unbestritten, doch bleibt das Plädoyer des Vf. eine oberflächliche Schwarz-Weiß-Darstellung.

Erschwert wird das Ringen um ein yezidisches Selbstverständnis auch durch eine noch fehlende koordinierte Zusammenarbeit verschiedener yezidischer Vereine (vgl. 112f), da diese in zwei große Lager gespalten sind. Die Meinungsdifferenzen betreffen politische Fragen, so die Option auf Rückkehr in die Ursprungsgebiete, die etwa die „Föderation der Êzîdischen Vereine in Deutschland“ vertritt, sowie die unterschiedliche Orientierung am kurdischen Nationalismus. Aber auch in theologischer Hinsicht ist eine Zusammenarbeit der einzelnen Vereine schwierig, da die Einstellung zur Religion ebenfalls sehr unterschiedlich gewichtet ist. So sagt der Vf., dass die Mehrheit der Yeziden an Festen nicht oder kaum mehr teilnimmt und die meisten Yeziden bzw. diejenigen, die eine Reform der Religion in Deutschland befürworten, kaum über die eigene Religion und deren Inhalt Bescheid wissen (118). Daher formuliert er als herausfordernde Zukunftsaufgabe, nicht nur eine standardisierte Theologie zu schaffen und das Yezidentum nach außen zu öffnen, sondern auch – mittel- bzw. langfristig – die drei traditionellen Gesellschaftsschichten (Sheikh, Pīr, Murīd) zunächst auf die beiden letzteren als „religiöse Spezialisten“ bzw. „Laien“ zu reduzieren, um diese Unterscheidung letztlich möglichst abzuschaffen (119). Auch wenn sich Religionen immer wieder wandeln und reformieren (müssen), geht dieses Postulat einer Reform m. E. entschieden zu weit. Das Ergebnis eines solchen religiösen Wandels hätte kaum noch etwas mit dem traditionellen Yezidentum als ethno-religiöse Gemeinschaft zu tun, sondern es wäre nur mehr eine verwestlichte neue Religion, die eventuell noch oberflächlich ihre ursprüngliche westiranische bzw. kurdische Herkunft erkennen ließe.

Yeziden in Deutschland – nach Schätzungen ein Zehntel aller Yeziden weltweit – stehen vor vielfältigen Herausforderungen. Die Frage, wie sich diese Religionsgemeinschaft in Deutschland weiter entwickeln und noch verändern wird, ist nämlich auch für Personen außerhalb der Religionsgemeinschaft interessant, die mit religiösem Pluralismus oder interreligiösen Kontakten in der Gesellschaft befasst sind, wofür fundierte Kenntnisse über die Yeziden wünschenswert sind. Leider trägt das hier vorgestellte Buch wenig dazu bei, da es dem Vf. – anders als im Vorwort vom Reihenherausgeber zu optimistisch formuliert – kaum gelungen ist, „ihre Kultur, ihre Geschichte und den klassischen Aufbau ihres Gesellschaftssystems“ zu erläutern und „kenntnisreich den Lesenden mit den Êzîden vertraut zu machen“ (8). Alternativ zu Kartals Buch seien daher den Lesern zwei andere Darstellungen empfohlen: als Kurzinformation der Beitrag von Thorsten Wettich, Die Yeziden in Deutschland (in: M. Klöcker / U. Tworuschka [Hg.], Handbuch der Religionen, 46. Ergänzungslieferung, München 2015, VI-1, 1-16), bzw. das Buch von Şefik Tagay und Serhat Ortaç, Die Eziden und das Ezidentum. Geschichte und Gegenwart einer vom Untergang bedrohten Religion (Hamburg 2016).


Manfred Hutter, Bonn