Gesellschaft

Deutscher Ethikrat debattiert über Beschneidungsfrage

(Letzter Bericht: 9/2012, 332ff) Die Kenntnis und Akzeptanz des Selbstverständnisses und der Vorstellungen vom guten Leben des jeweils Anderen ist nicht in allen Handlungssituationen in unserer Gesellschaft gefordert. Aber nicht, weil beides nicht alle unsere Handlungen bestimmen würde, sondern weil man auch aus unterschiedlichen Perspektiven zur gleichen Wertschätzung eines gemeinschaftlichen Gutes kommen kann. In diesem Fall kann auf die Kommunikation des Selbstverständnisses und der Vorstellung vom guten Leben, wie sie exemplarisch in Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften stattfindet, auch in den Institutionen der Politik, Ökonomie und Wissenschaft verzichtet werden. Kommt es aber zu Konflikten über die Wertschätzung eines bestimmten Gutes, braucht es Institutionen, in denen über das jeweilige Selbstverständnis und die Vorstellung vom guten Leben kommuniziert wird. Eine Institution, die dies in besonders qualifizierter Weise und sogar richtungsweisend für die Politik tun soll, ist der Deutsche Ethikrat.

Am 23.8.2012 hat der Ethikrat die Öffentlichkeit zu seiner monatlichen Sitzung zugelassen. Dieses Mal war er nicht Initiator einer gesellschaftlichen Debatte, sondern griff auf, was seit Monaten in der Gesellschaft in den unterschiedlichsten Formen diskutiert wurde: die Frage der Beschneidung von nicht einwilligungsfähigen Jungen. Der Einstein-Saal in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, in der sich auch die Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrats befindet, war zur Hälfte mit den im Halbkreis aufgestellten Tischen der Ethikratsmitglieder gefüllt. Hinter ihnen saß das Publikum, das aufgrund der sehr begrenzten Sitzmöglichkeiten nur zum Teil in den Saal gelassen wurde. Auch wenn Einzelne aus dem Publikum durch sehr emotionale Kommentare an manchen Stellen eine sachliche Diskussion der Mitglieder des Ethikrats erschwerten, konnte man in den fünf Vorträgen zu medizinischen, religiös-kulturellen, straf- und verfassungsrechtlichen sowie ethischen Aspekten der Debatte und der anschließenden Diskussion eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit der weltanschaulichen Dimension der Beschneidungsfrage erkennen.

Bei den ersten beiden Vorträgen eines jüdischen (Leo Latasch) und eines muslimischen Mitglieds (Ilhan Ilkilic) des Ethikrats war nicht klar, ob die beiden als Vertreter ihrer Religionsgemeinschaft sprachen oder ihrer Profession als Mediziner bzw. Philosoph. Zur Einführung in die theologische Frage der Beschneidung in beiden Religionen wären zwei Theologen aus den jeweiligen Religionsgemeinschaften sicherlich hilfreich gewesen. Die Ausführung der medizinischen Aspekte mutete durch die Doppelfunktion der Referenten eher apologetisch an. Dass im Folgenden der Strafrechtler Reinhard Merkel in seinem Vortrag zur rechtlichen Frage zahlreiche medizinische Studien anführte, die selbst und in Auswahl methodologisch fragwürdig waren, verbesserte die medizinische Informationslage nicht, auch wenn sich die Frage stellte, ob es überhaupt solide medizinische Daten zu den Folgen von Beschneidungen gibt. Mit dem nachfolgenden Redner, Verfassungsrechtler Wolfram Höfling, war sich Reinhard Merkel nur in dem Punkt einig, dass die Beschneidung rechtlich vor allem eine Frage des Erziehungsrechtes der Eltern (Art. 6 GG) sei. Nach der argumentativ überzeugenden, wenn auch in ihrer Repräsentativität für die zu vermutende Auffassung der Verfassungsrechtler asymmetrischen rechtlichen Diskussion hatte der evangelische Sozialethiker Peter Dabrock Schwierigkeiten, die Debatte wieder zu weiten und den religiösen Aspekt der Debatte wieder einzuholen. Für ihn zeigte sich in der aktuellen Diskussion zur Beschneidung, dass die eingespielte Verhältnisbestimmung zwischen weltanschaulich neutralem Staat und Religion durch die für manchen Säkularen irritierenden religiösen Bräuche zweier Religionsgemeinschaften, die in der Mitte der Gesellschaft angekommen seien, ins Wanken gerate. Die Frage des Gerechten als vorrangige Mindestforderung des Miteinanders werde durch die Suche nach einer Beantwortung der Frage nach dem guten Leben, auf dem das Gerechte letztendlich natürlich gründe, neu aufgegeben.

In der folgenden Diskussion blieb der religiöse Aspekt ein schwieriger Punkt. Der Medizinethiker Thomas Heinemann fragte Leo Latasch, ob es nicht eine Alternative zur vollen Beschneidung oder eine eingeschränkte Art im Judentum gebe, wenn diese zwar als Akt des Bundesschlusses mit Gott von hohem Stellenwert, aber „nur“ ein Symbol sei. Der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff verwies darauf, dass entgegen der Theorie Habermas’ sich weltanschauliche Überzeugungen eben nicht vollständig rational übersetzen ließen und immer etwas Befremdendes im Auge des Betrachters bleiben würde. Er forderte unabhängig von seiner Überzeugung, dass die Beschneidung im Judentum und Islam erlaubt sein müsste, vielmehr eine Debatte über das Symbol der Beschneidung, das vom Christentum auf eigene Weise interpretiert wurde und deshalb – nicht wegen des körperlichen Beschädigungspotenzials – in der Geschichte des Christentums zur Ablehnung der Beschneidung geführt hat. Reinhard Merkel führte den religiösen Aspekt seinem Vorschlag eines Sonderrechts für Juden und Muslime folgend vor allem in Abgrenzung zu gedankenphilosophischen Situationen an, in denen aus ästhetischen oder sogar Trainingszwecken beschnitten wird. Für den Medizinrechtler Jochen Taupitz führte dieses Sonderecht für eine bestimmte Religionsgemeinschaft aufgrund der damit zusammenhängenden Motivsuche bei den Eltern „in Teufels Küche“. Nach dieser Argumentation sei es bei Juden am achten Tag vorgeschrieben, bei Muslimen könne man warten. Auf die Frage der Medizinerin Christiane Fischer, was denn mit dem säkularen, atheistischen Judentum sei, das ebenfalls beschneide, gab es keine Antwort. Der Jurist Hubert Mertin wollte sich die gesellschaftliche Debatte um den religiösen Aspekt am liebsten ersparen und die Beschneidung auch aus medizinischen Gründen erlauben.

Der Deutsche Ethikrat plädierte trotz dieser tiefgreifenden Differenzen in grundlegenden Fragen – wie er in der Pressemitteilung am Ende der Sitzung betonte – einmütig für die Zulassung der Beschneidung aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen. Einig war man sich vor allem über die Mindestanforderungen 1. einer umfassenden Aufklärung und Einwilligung der Sorgeberechtigten, 2. einer qualifizierten Schmerzbehandlung, 3. einer fachgerechten Durchführung des Eingriffs sowie 4. einer Anerkennung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts des betroffenen Jungen. (Die indirekten Zitate aus der Diskussion können ebenso wie die Vorträge in der Simultanmitschrift auf der Internetseite des Deutschen Ethikrats nachgelesen werden, www.ethikrat.org.)


Robin Bachmann, Berlin