Ortwin Schweitzer

Deutschland - Meine Liebe! Von der Berufung Deutschlands

Ortwin Schweitzer, Deutschland – Meine Liebe! Von der Berufung Deutschlands, Verlag Gottfried Bernard, Solingen 2003, 138 Seiten, 9,95 Euro.


Der innerprotestantische Dialog ist ja nicht selten viel schwieriger als der interkonfessionelle, der seine ordentlichen kirchenamtlichen und wissenschaftlichen Institutionen hat. Ein kurzer Besuch in einer evangelikalen / pfingstlerischen Buchhandlung in einer süddeutschen Kleinstadt öffnet die Augen, wie da höchst unterschiedliche Ströme an Literatur recht beziehungslos nebeneinander her auf die interessierte Christenheit niedergehen. Wenigstens Rezensionen sollten als Rubriken dienlich sein, diese oft eher selbstreferentiellen Strömungen miteinander ins Gespräch zu bringen.

Das angezeigte Buch stammt von dem alten evangelikalen bzw. charismatischen Fahrensmann Ortwin Schweitzer1, Jg. 1937, immer wieder im Aufbruch, die letzten Jahre als „Beter im Aufbruch“ mit einer monatlichen politischen Gebetsmeinung.

In diesem Buch möchte Schweitzer der im 20. Jahrhundert durch die Schande der Nazi-Tyrannei tief verwundeten deutschen Volksseele geistliche und damit auch sozialpsychologische Heilung bringen, damit Deutschland wieder seiner göttlichen Berufung (hier verwendet er gerne den amerikanischen Begriff „redemptive purpose“) zu einer fürsorglichen, kämpferischen und friedliebenden Vaterschaft Europas entsprechen kann.

Auch wenn sich Schweitzer mit dieser einseitigen Zuspitzung auf den Begriff der „Vaterschaft“ den Vorwurf des europa- und geschlechterpolitischen Chauvinismus aus eigener Fahrlässigkeit zuzieht, so ist doch nicht zu verkennen, dass er mit der Frage nach der kollektiven Identität unseres Volkes auf eine tiefe und diskursbedürftige Wunde hinweist.

Um diese Bestrebungen, in denen Schweitzer sich mit Teilen der charismatischen und pfingstlerischen Bewegung verbunden fühlt, zu begründen, bemüht er sich zuerst um biblisch-theologische und methodische Herleitungen, in der größeren zweiten Hälfte des Buches wendet er sich konkret der älteren und der jüngsten deutschen Geschichte und Mentalität zu, dazwischen ein Kapitel von Astrid Eichler aus der Perspektive der neuen Bundesländer bzw. der DDR-Geschichte.

Schweitzer schreibt vieles im Stil einer profunden Bibelarbeit, vieles auch (nach eigenen Angaben) im Stil einer „freien Begriffsmeditation“. Hinweise auf oder Auseinandersetzungen mit theologischer Fachliteratur, oder gar einem Text wie Barmen V, fehlen fast völlig. Damit begibt er sich einer Korrekturmöglichkeit, die ihm hätte helfen können, fundamentaltheologische Weichenstellungen schärfer zu beleuchten.

Ganz grundlegend ist Schweitzers Verständnis der Völker / Länder / Nationen (von ihm promiscue gebraucht) als Geschöpfe Gottes, die – anscheinend – geradezu aus einer Art conceptio immaculata entstehen. Diese guten Geschöpfe („soziale Kreaturen“) verfallen freilich auch der Sünde, können aber erlöst werden und so wieder ihrer Berufung entsprechen. „Die Erlösung [in Jesus] stellt die Werke Gottes in ihrer ursprünglichen Ordnung wieder her.“ Das ist „redemptive purpose“ konkret.

Diese These Schweitzers entspricht nun jedoch – nach Auffassung des Rezensenten – gewiss nicht reformatorischer Erkenntnis, die von der gänzlichen Verderbtheit durch den Sündenfall ausgeht und nach der unverdienten Rechtfertigung des Gottlosen diesem nur eine je werdende Heiligung zutraut. Demgemäss geht die Sündhaftigkeit der Entstehung auch der Völker sachlogisch voraus (vgl. Gen 8,21f) und ihr nicht erst hinterher. Auch die Völker sind in Sünden empfangen und tragen die Erbsünde in sich, es sei denn, man ginge davon aus, dass die Völker rein politisch-kulturelle Konstrukte ohne moralischen Kern seien. Wenn wir auch in der theologischen Erkenntnistheorie bedenken, dass der Cherub vor dem Paradies steht, dann ist uns die paradiesische Bestimmung des deutschen Volkes unzugänglich, zumal wenn unsere Erkenntnisbemühungen „remoto Christo“ arbeiten, um Anselm von Canterburys Wortwahl zu verwenden. Genau diesen Weg jedoch einer direkten Schöpfungserkenntnis versucht Schweitzer zu gehen.

Schweitzer schichtet die Heilsgeschichte ab in Schöpfung und Erlösung, übergeht jedoch die Notordnung nach dem Sündenfall, in der – nach reformatorischem Verständnis – Gott gegen Sünde, Tod und Teufel kämpft auch mit den Instrumenten der weltlichen Arbeit und Machtausübung als Regiment zur Linken, also im Gegenüber zum unverdienten Zuspruch des Evangeliums im Regiment zur Rechten.

Im Kontrast zu dieser vom Rezensenten angerissenen lutherischen „Theodizee“ sucht Schweitzer nach einer immanenten Wirkung der Erlösung, die im Spenerschen Sinne uns Hoffnung auf bessere Zeiten erlaubt. Damit kann er freilich große emotionale Kräfte und geistliche Sehnsüchte freisetzen, wie seine Hinweise auf politische Gebetsversammlungen mit Fahnenritualen, aber auch tief beeindruckende Versöhnungsreisen zu ehemaligen Kriegsgegnern zeigen, bis hin zu einem regelrechten Übergabegebet am Schluss des Buches.

Der Rezensent muss bekennen, dass ihm soviel Überschwang nicht zu Gebote steht, ihn vielmehr die Weltgeschichte als Wirken des deus absconditus beeindruckt, und auch bedrückt. Und dann kommen ihm natürlich viele einzelne Anmerkungen zu den argumentativen Schritten Schweitzers. Die gewichtigsten scheinen da zu liegen, wo es um die germanische „corporate identity“ geht. Schweitzer charakterisiert diese, übrigens in positiver Bezugnahme auf Ernst Troeltsch, als monarchisch-väterlich, kämpferisch, ordnungsliebend, fürsorglich für Familie und Untergebene.

Völlig unterbelichtet bleibt bei Schweitzer jedoch die tiefe germanische Verwurzelung des genossenschaftlichen Denkens, das die Kirche im Mittelalter mit der gemeinschaftsbildenden Dimension der heiligen Kommunion verband, womit ein ungeheuerer Aufschwung gerade nicht-monarchischer Gemeinwesen möglich wurde.

Damit ist ein Stichwort gefallen, das der Rezensent bei Schweitzer ziemlich vermisst. Warum verwendet er nicht das schöne deutsche Wort vom „Gemeinwesen“, sondern dauernd das business-speak „corporate identity“? Schweitzer versteht dies als „körperschaftliche Identität“, und so kann er sein aus der evangelikalen Sexualseelsorge bewährtes Identitäts- und Heilungsverständnis auf die Therapie der Nation übertragen.

Demgegenüber wäre daran zu erinnern, dass „corporate identity“ ein technokratischer Begriff des „social engineering“ ist, der zudem vom amerikanischen unternehmensrechtlichen Begriff der „corporation“ abhängig ist. Und diese corporation ist nach US-höchstrichterlichem Diktum nichts als eine juristische Fiktion, sie existiert nur in der juristischen Kontemplation.

Also, warum nicht lieber das gute alte deutsche „Gemeinwesen“? Oder würde es dann zu sehr auffallen, dass Schweitzer die handfesten, aber so prosaischen alltäglichen Aufgaben eines Gemeinwesens so wenig betont: Wie die Daseinsvorsorge im Bildungs- und Sozialbereich, die Sorge für Recht und Ordnung in einer offenen Gesellschaft mit offenen Grenzen wie bei uns, das Bemühen eben, dem Chaos der Sünde und der Unvollkommenheit immer wieder redlich und unverdrossen entgegenzuarbeiten.

Dem Rezensenten verbleibt positiv der Impuls, den Schweitzer gibt, dass die deutsche Frage, die Frage nach dem rechten Ort des Patriotismus im christlichen Ethos, wie die Frage nach der Rolle der Kirche in diesem Diskurs bearbeitet gehört, damit wir uns den Aufgaben, die uns Gott im Europa des 21. Jahrhundert zumutet, stellen können. Aber dass unsere deutsche Identität eben auch eine Zumutung ist, darum kommen wir wohl nicht herum.

1 Ortwin Schweitzer, Oberstudienrat i.R., Jg. 1937, ev., verheiratet, vier erwachsene Kinder, lebt in der Nähe von Stuttgart. Studium der Neuphilologie und evang. Theologie in Tübingen, Basel und Reading/England. 30 Jahre tätig in verschiedenen Diensten der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er ist heute einer der Gebetsleiter auf nationaler Ebene mit dem besonderen Schwerpunkt „Politik und Gesellschaft“. Er gibt monatlich im Rahmen der Gebetsinitiative des „Wächterrufs“ die „Politische Seite“ heraus, die ein jeweils aktuelles politisches Thema aufgreift, dieses versucht von Gott her zu verstehen und zum Gebet anzuleiten (www.waechterruf.de > Gebetsinfos > Politische Seite).