Die Anthroposophie. Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2019, 288 Seiten, 39,90 Euro.
Demeter, dm-Drogeriemärkte, Weleda, Wala, Waldorfpädagogik: Die Namen sind bekannt, weniger jedoch der weltanschauliche Hintergrund, den das vorliegende Werk näher beleuchtet. Als „Florilegium von punktuellen Impressionen“, als „Blütenlese wichtiger und irritierender und anregender Facetten“ möchte der in Fribourg/Schweiz lehrende Religionshistoriker Helmut Zander sein neuestes Werk zur Anthroposophie verstanden wissen (13). Bereits 1995 erschien seine Studie „Reinkarnation und Christentum. Rudolf Steiners Theorie der Wiederverkörperung im Dialog mit der Theologie“. 2007 legte Zander die voluminöse zweibändige Studie „Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884 – 1945“ vor, vier Jahre später die Biografie Rudolf Steiners (2011). In seiner neuesten Studie geht er der Frage nach, wie es um den esoterischen Kern anthroposophischer Praxis bestellt „und was aus diesem Kind des theosophischen Okkultismus und Steiners philosophischer Pflege geworden ist“ (9).
In 48 Einzelartikeln zu Alnatura über Christengemeinschaft/Christentum, dm-Drogeriemärkte, Esoterische Schule, Freimaurerei, Heilpädagogik, Landwirtschaft, Medizin, Nationalsozialismus, Protestantismus – Katholizismus, Rassen/Rassismus, Theosophie bis hin zu Waldorfpädagogik und „Weltanschauung – Religion – Wissenschaft“ untersucht Zander die anthroposophische Bewegung. Dabei analysiert er das breite Spektrum anthroposophischer Praxisfelder und liefert interessante Hintergrundinformationen und Einschätzungen. Ihr esoterischer Kern führe nicht zu einer Weltabgewandtheit, sondern – im Gegenteil – zu einem breiten kulturellen Leben. Die Anthroposophie sei im „alternativkulturellen Milieu … eine Großmacht“ (8). So richtet Zander seinen Fokus auf die „aktuelle Anthroposophie“ in Deutschland, in der er deutliche Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse beobachtet. Er identifiziert „Glaubensanthroposophen“, die keinerlei Kritik an den Aussagen des „Dr. Steiner“ zulassen, und „leise Anthroposophen“, „die Steiner vielleicht als Ausgangspunkt für eine kreative Pädagogik nutzen, aber nicht mehr als Automaten für objektive Wahrheiten“ (11).
Für die Anthroposophische Bewegung ist die geistige Autorität Rudolf Steiner (1861 – 1925), der „charismatische Übervater“, nach wie vor prägend. Rund 400 Bände zählt die Gesamtausgabe seiner Werke (217). Innerhalb der Anthroposophie erblickt Zander gegenwärtig einen „Kampf zwischen einer historisch-kritischen und einer spirituellen Steiner-Deutung“ (8).
Organisatorische Basis ist bis heute die Anthroposophische Gesellschaft, deren Mitgliederzahl in Deutschland (2017: ca. 12 000 Mitglieder) und weltweit (2017: 44 000) seit Jahren rückläufig ist. Die meisten Menschen werden nach Zander über die Begegnung mit den anthroposophischen Praxisfeldern zu Anthroposophen (34). Besonders anziehend für viele scheint die Anthroposophie als „universales Wissenssystem“ zu sein. Diejenigen, die sich von ihr enttäuscht abwenden, bemängeln meist die Autorität der von Steiner geschauten Weltanschauung. Andere wünschten sich mehr Anthroposophie in den Einrichtungen ohne Kompromisse, wiederum andere gingen in die innere Emigration (36).
Unter dem Stichwort „Christengemeinschaft/Christentum“ betont der Verfasser, dass in der von Steiner inspirierten Christengemeinschaft (CG) die anthroposophische Anthropologie in der lediglich als „kraftstärkendes“ Sakrament verstandenen „Beichte“ besonderes Gewicht erhält: Der Mensch sei demzufolge nicht mehr auf einen vergebenden Gott angewiesen, „weil er selbst göttlich ist“ (61). Das Verhältnis zwischen Anthroposophischer Gesellschaft und CG war niemals spannungsfrei. Für Zündstoff sorgte nicht zuletzt die Veröffentlichung der Ritualtexte der CG in der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe zwischen 1993 und 2001. Doch wurden, wie es heißt, nicht alle Texte veröffentlicht. So befinden sich Texte der Gespräche zwischen Priestern und Steiner im alleinigen Besitz der CG. Und das Verhältnis zur christlichen Ökumene? Die offene Frage sei letztlich, ob die „höhere Erkenntnis“ Steiners der Bibel vor- oder nachgeordnet sei (70).
In Zanders Werk erfährt man bislang eher weniger Bekanntes, etwa über die Berliner Anthroposophin Judith von Halle, die seit 2004 die Wundmale Christi an ihrem Körper tragen soll (98-101). So offenbare das Praxisfeld der „Heilpädagogik“ den anthroposophischen Reinkarnationsgedanken, wonach Behinderte sich ihren Autismus oder ihr Down-Syndrom letztlich selbst ausgesucht hätten (104). Besonders spannend liest sich der Abschnitt „Historische Kritik“. Hier wird Steiner wissenschaftshistorisch eingeordnet, und seine kulturellen Vernetzungen bzw. Kontexte werden aufgezeigt. Nicht zuletzt die vonseiten mancher Anthroposophen äußerst heftigen Reaktionen auf Zanders umfassende Studie „Anthroposophie in Deutschland“ zeigen, wie schwer man sich mit einer historisch-kritischen Einordnung Steiners tut.
Was unter dem Stichwort „Landwirtschaft“ gesagt wird, gilt auch für den Bereich „Medizin“: „Das Wissen um konkrete Wirkungen beziehen Anthroposophen erstmal aus Steiners geistiger Schau“ (141). Unter dem Thema „Masern“ wird auch die mangelnde Impfbereitschaft bzw. „Impffeindschaft“ unter Anthroposophen und die Rolle anthroposophischer Ärzte in diesem Zusammenhang untersucht. Die Rolle von Anthroposophen im Nationalsozialismus war durchaus ambivalent. Zander benennt weltanschauliche Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen. Insgesamt sei dies ein historisch noch aufzuarbeitendes Thema (172). Generell beobachtet der Verfasser, dass eher die sehr konservativen Kräfte das Erscheinungsbild der Anthroposophie in der Öffentlichkeit bestimmen, während die liberalen eher still und zurückhaltend seien (174).
Zander betrachtet die Anthroposophie als „ein Kind des Protestantismus“ (189). Die Gründe dafür seien historischer Natur: Offensichtlich erwies sich die Anthroposophie als passgenau zu der im 19. Jahrhundert aufkommenden neuprotestantischen Tendenz, das Individuum der Kirche vorzuordnen und die kognitive Seite von Religion zu betonen. Damit konnten Steiners Auffassungen das bürgerlich-protestantische Milieu erfassen. Hinzu kam der Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommende Wunsch nach Emotionalität und religiösem Gefühl – ein Anliegen, das den ersten „Erzoberlenker“ der CG, Friedrich Rittelmeyer, von der liberalen Theologie schließlich zur Anthroposophie Steiners führte. Nicht zuletzt die Vielzahl anthroposophischer Verlage, Publikationen und Periodika gibt sie – so Zander – als „Leseweltanschauung mit Wurzeln im protestantischen Bildungsbürgertum“ (195) zu erkennen. Deutlich werden indes die Schattenseiten der Steiner‘schen Weltanschauung, etwa beim Stichwort „Rassen/Rassismus“, benannt. Es dürfte – wie der Autor vermutet – kein Zufall sein, dass die Anthroposophie bei etlichen Reichsbürgern aufgrund von Steiners deutsch-nationalen Aussagen und nicht zuletzt wegen der Themen Direktdemokratie und Grundeinkommensforderung hoch im Kurs steht (203).
Die Reinkarnationsidee Steiners ist eingebettet in eine Fortentwicklungsgeschichte zum Geistigen. Dies hat eine radikale Autonomie beim Menschen zur Folge. Zander konstatiert: Aus anthroposophischer Sicht ist der Mensch für sein Schicksal selbst verantwortlich. „Konkret: Wenn 500 Menschen bei einem Theaterbrand umkommen, haben sie, so Steiner, im letzten Leben etwas verbrochen und bestrafen sich jetzt selbst oder bereiten sich auf eine bessere künftige Existenz vor und tun sich mit dem Feuertod etwas Gutes“ (207). Hilfreich ist die Auflistung mehrerer „anthroposophischer Firmen“ (229-234).
Rund 30 Seiten befassen sich mit dem bekanntesten anthroposophischen Praxisfeld, der Waldorfpädagogik (239-270). Der Autor würdigt ihre positiven, aber auch negativen Aspekte. Dabei ist er sich des Dilemmas seiner Analyse bewusst: „Viele Kritiker werden die Darstellung der positiven Seiten als Ausdruck meiner Blindheit sehen und viele Anthroposophen angesichts der Kritik nichts als eine chronique scandaleuse“ (244). Vielen Eltern ist, wenn sie ihr Kind auf die Waldorfschule schicken, deren weltanschaulicher Hintergrund nicht bewusst. Gerade dieser Abschnitt ist besonders empfehlenswert, gibt er doch – umsichtig und differenziert – wichtige Hintergrundinformationen zur eigenen Urteilsbildung an die Hand.
Zanders Buch, das ein ausführliches Stichwortregister und mehrere Abbildungen enthält, bietet zahlreiche Detailinformationen zu anthroposophischen Praxisfeldern und Initiativen, die man anderswo vergeblich sucht. Wer mehr über das aktuelle Erscheinungsbild der Anthroposophischen Bewegung wissen möchte, kommt an diesem Werk nicht vorbei.
Matthias Pöhlmann, München, 03.07.2020