Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus
Frank Hörtreiter: Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2021, 416 Seiten, 46,00 Euro.
In diesem Jahr wird die Christengemeinschaft 100 Jahre alt. Als Gründungsdatum gilt der 16. September 1922. Damals vollzog Friedrich Rittelmeyer in Dornach die erste Menschenweihehandlung. Rudolf Steiner war zugegen – er hatte die liturgischen Texte formuliert. Weil das seinerzeit ein Ereignis ausschließlich unter Priestern war, die Christengemeinschaft sich jedoch zu den Menschen gesandt fühlt, gibt es Stimmen, die etwas später datieren. So könnten die ersten Gemeindegründungen als Geburtsstunde gerechnet werden. Damit wäre der Advent 1922 die Zeit der Gründung der Christengemeinschaft, über die Oberlenker Oliver Steinrueck kürzlich in einem Interview sagte: „Sie war vorher schon da, aber noch nicht ganz zur Welt geboren.“
Wie auch immer – das 100-jährige Bestehen der „Bewegung für religiöse Erneuerung“ ist ein Anlass innezuhalten. Für Anfang Oktober bereitet die Christengemeinschaft in Dortmund eine größere Tagung unter dem Motto „LOGOS – Consecrating Humanity. 100 Jahre Christengemeinschaft. Tagung zum Aufbruch in ihr zweites Jahrhundert“ vor. Das nun rechtzeitig vorliegende Buch von Frank Hörtreiter passt sehr gut in diese Zeit des Innehaltens und der Selbstvergewisserung.
Bereits im Vorwort eröffnet der Autor – er ist Pfarrer der Christengemeinschaft und Altphilologe – die Breite des Themas. Er schreibt, dass die Christengemeinschaft sich jahrzehntelang selbst gern als „naziverfolgt“ gesehen habe, wofür einiges spricht. So wurde sie 1941 verboten, und führende Pfarrer waren inhaftiert. Aber weist das schon auf eine Gegnerschaft hin oder vielmehr auf ein Lavieren ums eigene Überleben? Denn das Verbot von 1941 kann man ja auch so interpretieren, dass die Christengemeinschaft erst 1941 verboten wurde und damit immerhin zwei Drittel der Zeit des Hitlerregimes (acht von zwölf Jahren) nicht verboten war. Wie ist das zu verstehen und, wichtiger noch, wie stellten sich die Gemeinden zu ihren jüdischen, also verfolgten Mitgliedern? Fanden diese Schutz, gab es Solidarität? Und wie positionierte sich die Priesterschaft? Gab es möglicherweise unter den Priestern mehr Kraft zur Distanz als in den Gemeinden?
Um diese Fragen zu erhellen, bedarf es geduldiger Recherchen in Bibliotheken und Archiven. Doch genau hier liegt beim vorliegenden Thema eine besondere Schwierigkeit. Denn zahlreiche Lebenserinnerungen, Pfarrerbiografien und Gemeindechroniken sind verstreut und nicht zentral auffindbar. Mehr noch: Die interne Korrespondenz, die sog. „Priesterrundbriefe“ sind Außenstehenden bis heute nicht zugänglich. Hörtreiter formuliert das so: „Es bestand – und besteht – unter den Pfarrern die Verabredung, die Rundbriefe im Pfarrerkreise vertraulich zu halten“ (8). Mit anderen Worten: Außenstehende hätten die vorliegende Untersuchung gar nicht schreiben können, da ihnen der Zugang zu den internen Dokumenten, zumal der Jahre 1933 bis 1941, verwehrt geblieben wäre.
Damit ist ein methodisches Problem der vorliegenden Arbeit benannt: Hörtreiter ist seit 1970 Priester der Christengemeinschaft. Er beschreibt eine Kirche, der er selbst stark verbunden ist und in der er alle derzeit amtierenden Amtsträger persönlich kennt. Mehr noch: Die in den 1930er und 1940er Jahren handelnden Personen sind oftmals die Vorfahren heutiger Amtsträger. Ich möchte dem Verfasser nicht unterstellen, dass er einen parteiischen Zugang zum Thema einnimmt – dafür habe ich keine Indizien gefunden. Aber es gibt eine besondere Nähe des Verfassers zum Untersuchungsgegenstand, und diese muss in einer Rezension erwähnt werden.
Hörtreiter beginnt seine detailkundige Untersuchung bei Friedrich Rittelmeyer, der bis zu seinem Tode 1938 die zentrale Persönlichkeit der Christengemeinschaft war. Wie nicht anders zu erwarten, ergibt sich ein differenziertes Bild. Unter den Gemeindegliedern gab es zahlreiche, die mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. Unter den geweihten Priesterinnen und Priestern finden sich lediglich zwei, die sich der NS-Bewegung zuwandten: Der Holländer Jan Eekhof und Johannes Werner Klein. Eekhof widmet Hörtreiter zwei eigene Kapitel (234 – 241), Klein ist von geringer Bedeutung, da er sich bereits 1929, also vor der sog. Machtergreifung Hitlers, von der Christengemeinschaft gelöst hatte.
Die Haltung der Priesterschaft gegenüber dem NS-Staat lässt sich vergleichsweise gut erfassen, da es die bereits erwähnten internen Rundbriefe gibt – für die ja eigentlich Vertraulichkeit verabredet war. Aber was ist „Vertraulichkeit“ in einem totalitären Staat (vgl. 110)? Natürlich wussten die beteiligten Priester, dass die Gestapo die Texte las und auswertete. Insofern bedürfen die Rundbriefe einer besonnenen Interpretation dessen, was da steht und (mehr noch) dessen, was nicht geschrieben wurde.
Unter den „normalen“ Gemeindegliedern fanden sich einige, die entweder in einflussreicher Stellung arbeiteten oder privat über gute Kontakte zu den Machthabern verfügten. Hörtreiter nennt drei Persönlichkeiten und dokumentiert deren Bemühungen, ein Verbot der Gemeinschaft abzuwenden (105). Was das im Einzelnen bewirkt hat, ist unklar. Hörtreiter vermutet, dass so die Haftentlassung einiger Priester und Waldorflehrer erreicht werden konnte; vermutlich auch jene von „Erzoberlenker“ Emil Bock am 5.2.1942.
Mit Interesse habe ich von den Bemühungen gelesen, jüdische Gemeindeglieder vor der Vernichtung zu retten, indem man sie über interne Kanäle nach England schleuste (109). Obwohl der Verfasser eine unglaubliche Fülle von Dokumenten eingesehen hat, kann er über die Zahl der so geretteten Menschen nichts aussagen (112). Zugleich war die Lage widersprüchlich: Es hatte wohl intern Gerüchte gegeben, wonach jüdischstämmigen Gemeindegliedern nahegelegt worden sei, die Menschenweihehandlung nicht zu besuchen. Hörtreiter schreibt, dass er dafür keine Belege habe finden können (117).
Etwas vereinfachend kann man sagen: Von Staatsfeindlichkeit kann man bei der Christengemeinschaft nicht reden; ebenso wenig von Staatsfreundlichkeit, trotz einiger – wohl auch taktisch motivierter – Äußerungen Friedrich Rittelmeyers und sicherlich auch mancher Gemeindeglieder. Hörtreiter zitiert Kurt von Wistinghausen wie folgt: „Dass die Christengemeinschaft zwar verfolgt wurde, aber sich keines Widerstandes gegen den NS-Staat rühmen darf“ (51).
Etwa ein Drittel des Buchs sind Dokumente, die zumeist noch nie veröffentlich wurden, darunter ein sehr interessanter Bericht über einen kleinen Zirkel der Christengemeinschaft im KZ Theresienstadt. Auch wenn eine förmliche Menschenweihehandlung nicht möglich war, so versammelte man sich in Dachkammern, um die Texte wenigstens zu hören (121, 311ff). Die abgedruckten Dokumente machen es dem Leser leichter, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Ein Namensverzeichnis der Pfarrerinnen und Pfarrer aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs sowie ausführliche Quellen- und Literaturangaben runden das Werk ab. Das vorliegende Buch ist eine Fundgrube und wird auf lange Zeit für alle unentbehrlich sein, die die Entwicklung der Christengemeinschaft in den 1930er und 1940er Jahren untersuchen. Hörtreiter hat „seiner“ Christengemeinschaft ein großes Geburtstagsgeschenk gemacht.
Andreas Fincke, Erfurt, 13.07.2022