Die Diaspora der Yeziden in Deutschland - eine Religionsgemeinschaft zwischen alter Tradition und Neuaufbrüchen
(Letzter Bericht: 3/2019, 108f) In einer zentralen Gedenkveranstaltung erinnert der „Zentralrat der Êzîden in Deutschland“ (ZÊD) alljährlich an den Beginn der Massaker an den Yeziden am 3. August 2014. Im Beisein zahlreicher Vertreter aus Politik und Zivilgesellschaft wurde auch in diesem Jahr, diesmal in der evangelischen Johanneskirche in Düsseldorf, des Schicksals eines Volkes gedacht, dessen Leidensgeschichte weit über den Genozid hinausreicht, der in den Jahren 2014f durch den sog. „Islamischen Staat“ (IS) an ihm verübt wurde.
Die Yeziden (zur Schreibweise vgl. MdEZW 5/2016, 172 – 182), die seit Jahrtausenden in den Kurdengebieten des Iraks, Syriens und der Türkei leben, gehören zur Volksgruppe der Kurden, stellen aber innerhalb dieser eine religiöse Minderheit dar. Ähnlich wie im Judentum ist die Religionszugehörigkeit eng mit der Volkszugehörigkeit verbunden. Man wird Yezide durch seine yezidischen Eltern. Das Yezidentum ist eine gegenüber dem Christentum, Judentum und Islam eigenständige monotheistische Religion. Yeziden glauben an den Schöpfergott Xwedês und an dessen Statthalter in der Herrschaft und höchsten Engel Tawûsî Melek.Tawûsî Melek wird in Pfauengestalt dargestellt und ist neben der Sonne das zentrale religiöse Symbol des Yezidentums. Das zentrale Heiligtum, zu dem jährliche Pilgerreisen stattfinden, befindet sich in Lalisch im Nordirak.
Als religiöse Minderheit wurden die Yeziden seit Jahrhunderten immer wieder Opfer von Verfolgungen und Vertreibungen. Unter strenggläubigen Muslimen gelten sie aufgrund ihrer religiösen Tradition, die einerseits an mystische Traditionen des Islam anknüpft, sich andererseits aber deutlich von diesen absetzt, als Ungläubige und Häretiker. Der schwerwiegendste Vorwurf, der ihnen von muslimischer Seite aus gemacht wird, ist der Vorwurf, „Teufelsanbeter“ zu sein. Er rührt daher, dass die Rolle, die dem Engel Tawûsî Melek im yezidischen Schöpfungsmythos zukommt, große Ähnlichkeit mit der Rolle aufweist, die Satan im islamischen Schöpfungsmythos hat. Tawûsî Melek wird von den Yeziden allerdings positiv gedeutet.
Am 3. August 2014 griff der IS im Zuge seines Eroberungsfeldzugs die Region Schengal an, eines der beiden Hauptsiedlungsgebiete der Yeziden im Irak. Tausende Yeziden wurden getötet oder vom IS verschleppt. Andere flohen in die angrenzenden unwegsamen Berge, wo sie Hunger und Durst schutzlos ausgesetzt waren. Schon vor 2014 waren viele Yeziden aufgrund von Verfolgung und Diskriminierung aus der Türkei und aus Syrien geflohen und seit der Einnahme des Nordiraks durch den IS 2014 auch schon aus ihren Hochburgen im Irak. Viele von ihnen haben in Deutschland, vor allem in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, eine neue Heimat gefunden.
In Deutschland lebende Yeziden kommen aber auch aus Georgien und Armenien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren viele von der Türkei aus in die früheren Sowjetrepubliken geflohen, da sie in der Türkei aufgrund von Diskriminierung keine Zukunft für ihre Familien sahen. Die aufstrebende Sowjetunion brauchte Arbeitskräfte und war offen für Flüchtlinge aus der Türkei. Wie andere Minderheiten auch konnten die Yeziden ihre kulturellen Rechte ohne nennenswerten staatlichen Druck wahrnehmen (vgl. Kartal 2016, 62). Dies änderte sich schlagartig nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Veranlasst durch die schlechte wirtschaftliche Lage, aber auch durch Erfahrungen von Diskriminierung, emigrierten Anfang der 1990er tausende Yeziden nach Deutschland und sahen sich dort, in der Diaspora, zu einer vertieften und auch kontroversen Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Identität veranlasst.
In einer 2016 erschienenen Autobiografie mit dem Titel „Wenn der Pfau weint“ berichtet die Yezidin Irina Badavi, die 1995 als Fünfzehnjährige mit ihrer Familie nach Deutschland emigrierte, über ihren Kampf gegen die patriarchalen Machtstrukturen in der Geschlossenheit yezidischer Familien. Ihre emotionale Erzählung über die leidvolle Erfahrung von häuslicher Gewalt in einer arrangierten Ehe, über wiederholte Suizidversuche und schließlich über die Flucht ins Frauenhaus wirft eine Reihe von beunruhigenden Fragen auf: Wie ist die Stellung der Frau im Yezidentum? Wie wird das Thema Heirat und Ehe gehandhabt? Wie integrationsbereit sind Yeziden in Deutschland, und wie groß ist das Problem sog. Parallelgesellschaften? Kritische Rezensionen werfen dem Buch vor, es schüre Vorurteile und ziele mit einer dramatischen Erzählung nur auf Profit, und dies auf Kosten einer unterdrückten und verfolgten Minderheit. Im Vorwort weist Angela Kandt, die Coautorin des Buches, auf den subjektiven Charakter der Schilderungen hin: Irina Badavi „möchte mit diesem Buch die jesidische Religion und das jesidische Volk nicht pauschal anklagen, sondern die frauenverachtenden Traditionen, die sie in Georgien erfahren hat und die sich in der jesidischen Parallelgesellschaft in Deutschland erhalten haben. Ihre Geschichte zeigt, was passiert, wenn ein Staat sich nicht um die Integration von geflüchteten Menschen kümmert“ (Badavi / Kandt 2016, 11). Die von Badavi kritisierten Traditionen greift auch Celalettin Kartal in seiner Studie über „Deutsche Yeziden“ (2016) auf und ordnet sie nochmals in einen größeren Zusammenhang ein.
Zunächst ist zu bedenken, dass das Yezidentum keine Schriftreligion ist, sondern die religiösen Überzeugungen in Form von „Gesangshymnen“ und Gebeten mündlich tradiert werden. Dadurch existieren häufig verschiedene Versionen einer Überlieferung. Auch war es üblich, die religiösen Texte über die Zeit zu verändern oder mit Hinzufügungen zu versehen. Hinzu kommt, dass sich viele Yeziden ihrer eigenen religiösen Traditionen kaum bis gar nicht mehr bewusst sind. Nach yezidischen Traditionen werden beispielsweise durchaus auch den Frauen Aufgaben der geistlichen Begleitung zugesprochen, und die Autorität der Mutter als Zentrum der Familie wird betont. Die theoretische Gleichheit von Mann und Frau und die damit gegebenen Freiheitsräume werden durch die von rechtlichen Erwägungen (z. B. Ehe-, Scheidungs- und Zeugnisrecht) und der Vorrangstellung der Männer geprägte Alltagspraxis in vielerlei Hinsicht erheblich eingeschränkt. Hinzu kommen weitere der patriarchalischen Tradition entstammende Bräuche, wie sie auch aus der islamischen Kultur bekannt sind (frühe bzw. arrangierte Ehen, Verbot von Mischehen, Brautpreis usw.). Beobachtungen zeigen, dass die Legitimität solcher Bräuche, die in der ersten Migrantengeneration noch sehr präsent waren, bei den nachfolgenden Generationen zunehmend hinterfragt werden (vgl. Kartal 2016, 97ff). Diese Infragestellung, die sogar die bisher untrennbare Verbindung von Volks- und Religionszugehörigkeit einschließt, wird auch das yezidische System der Gesellschaftskasten nicht unberührt lassen, das zwischen den sog. sheikhs und pîrs, den religiösen Würdenträgern, und den Laien (murîds) unterscheidet (vgl. Kartal 2016, 71).
Die Erinnerung an die leidvolle Vergangenheit im Irak und die Potenziale der Diasporaexistenz dürften, so ist zu vermuten, die Anstrengungen der Yeziden, ein integraler Bestandteil der pluralistischen Gesellschaft in Deutschland zu werden, auf alle Fälle befördern. Bereits 2007 haben Affolderbach und Geisler festgestellt, dass die Tatsache integrationsfördernd wirkt, dass eine Rückkehr für viele Yeziden aus politischen und religiösen Gründen nahezu unmöglich ist (vgl. Affolderbach / Geisler 2007, 25). Damit sind die von Badavi in ihrer Autobiografie beschriebenen Erfahrungen nicht aus der Welt. Doch es zeigt sich zugleich: Die junge Generation der in Deutschland lebenden Yezidinnen und Yeziden öffnet sich mehr und mehr unserer Gesellschaft und deren Wertvorstellungen.
Alexander Dett, 3.11.2021
Quellen
Affolderbach, Martin / Geisler, Ralf (2007): Die Yeziden, EZW-Texte 192, Berlin.
Badavi, Irina / Kandt, Angela (2016): Wenn der Pfau weint – Wie ich mich als Jesidin aus der Gewalt einer Parallelgesellschaft in Deutschland befreien konnte, Gütersloh.
Eziden, Yeziden oder Jesiden? Keine rein akademische Angelegenheit, in: MdEZW 5/2016, 172 – 182.
Kartal, Celalettin (2016): Deutsche Yeziden. Geschichte – Gegenwart – Prognosen, Marburg.