„Die entweihte Donareiche zu Fritzlar“
Germanische Neuheiden machen juristisch gegen Bonifatiusdenkmal mobil
Der heidnische Grafiker und Schriftsteller Thomas Vömel – in Heidenkreisen als „Voenix“ bekannt – hat mit einigen Unterstützern nach jahrelangem Kampf mit den Behörden der hessischen Kleinstadt Fritzlar Klage vor dem Verwaltungsgericht Kassel eingereicht, um die Anbringung einer Plakette neben dem Bonifatiusdenkmal in Fritzlar zu erzwingen. Das berichtet die neueste Ausgabe (22/2016) der Zeitschrift „Ringhorn“ des Vereins für Germanisches Heidentum (VfGH).
Die Vorgeschichte des Streits reicht bis ins Jahr 2005 zurück. Damals sah Vömel das Denkmal erstmals, das 1999 anlässlich der 1250-Jahrfeier Fritzlars zur Erinnerung an den Stadtgründer Bonifatius auf dem Domplatz aufgestellt worden war. Es zeigt den Heiligen auf dem Stumpf der Donareiche stehend, eine Axt in der einen, eine Kirche in der anderen Hand. Geschaffen wurde die Skulptur von dem hessischen Bildhauer, Geistheiler und Astrologen Ubbo Enninga.1 Der Legende nach hat Bonifatius den Baum gefällt und damit die Machtlosigkeit des germanischen Gottes Donar gegenüber dem neuen Gott der Christen demonstriert und die Christianisierung des örtlichen Germanenstamms der Chatten befördert. Das war – man denke etwa an die Legende des heiligen Gallus – ein damals verbreitetes Vorgehen von Germanenmissionaren. Aus neuheidnischer Sicht zeigt das Denkmal Bonifatius „mit wohlgefällig triumphierendem Gesichtsausdruck“2.
Neuheidnischer Opferstatus?
Bemerkenswert und nicht untypisch für die Seelenlage vieler Neuheiden ist Vömels Beschreibung seiner ersten Reaktion angesichts der Statue: Das, „für was sie steht, traf mich unvorbereitet wie eine Ohrfeige. Dazu muss ich anführen, dass ich weder ein politisch orientierter, noch ein besonders religiöser Mensch bin. Umso überraschter war ich deshalb von meiner eigenen Reaktion, die sich in einem heftigen Gefühlsausbruch Luft machte. Ich war verletzt, zornig und traurig zugleich. Verletzt über diese so offensichtliche Zurschaustellung eines gewaltsamen Aktes, der unsere Vorfahren so radikal ihrer religiösen Wurzeln beraubt hat. Zornig, dass … der Wunsch danach besteht, sich mit der einstigen Fällung der Donar-Eiche schmücken zu müssen, ungeachtet all jener Menschen, für die dieser Akt bis heute ein unverarbeitetes Trauma innerhalb der urheidnischen Kollektivseele darstellt.“3
Damit traf Vömel einen Nerv unter seinen Glaubensgeschwistern. Viele Heiden neigen dazu, die eigene Identität auf erlittenes Unrecht der Ahnen zu gründen und einen Opferstatus geltend zu machen. Das ist die neuheidnische Version eines typischen Räsonnements in Zeiten der Identitätspolitik, wo Minderheiten um Aufmerksamkeit, Anerkennung, Rücksichtnahme, gesellschaftlichen Einfluss und teilweise um Entschädigungen und Privilegien aufgrund behaupteter oder tatsächlicher Viktimisierung in der Geschichte konkurrieren.
Die Argumentation ist im Fall des Neuheidentums besonders schwierig, denn sie gründet darauf, dass man sich durch einen Willensakt in eine lange ausgestorbene und überhaupt nur in gröbsten Umrissen rekonstruierbare religiöse Tradition stellt, sich als deren Erbe definiert und behauptet, man sei ersatzweise für die vor 1000 Jahren verschwundenen geistigen Vorväter geschädigt oder sogar „traumatisiert“. Ähnlich argumentieren publizistisch durchaus erfolgreich die Neuen Hexen, die ihre Opferidentität aus der Zeit der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen herleiten. Jedoch wird deren Position durch den Anschluss an feministische Diskurse zwar nicht plausibler begründet, aber gesellschaftlich akzeptabel. In dieser Hinsicht sind germanische Neuheiden, die auch bei andern Heidenströmungen als patriarchalisch gelten, benachteiligt.
„Heiden vereinigt euch!“
Vömel berief einige Jahre nach dieser ersten Begegnung mit dem Denkmal 2012, 2014 und 2016 Neuheidentreffen für „die entweihte Donareiche zu Fritzlar“ auf dem dortigen Domplatz ein, um unter dem Motto „Heiden vereinigt euch!“ gegen die Statue zu protestieren und der „Opfer der Zwangschristianisierung“ zu gedenken.4 Absicht dieses Projekts war es nach eigener Aussage auch, „die verschiedenen Strömungen von Heiden zusammenzubringen“5. Die pagane Szene ist sehr kleinteilig zersplittert und teilweise öffentlichkeitsscheu. Vömel, der keiner bestimmten heidnischen Vereinigung oder Organisation angehört, sondern „freifliegend“ agiert, ist als gut vernetzter Szene-Künstler in verschiedensten Gruppen anerkannt, also gut geeignet, eine solche gemeinsame Aktion ins Leben zu rufen. Als Betreiber des YouTube-Kanals „Heiden-TV“ bemüht er sich außerdem um die öffentlich zugängliche Dokumentation heidnischer Aktivitäten in Deutschland.
Die Fritzlarer Treffen fanden immer Mitte Juni nahe der Sommersonnenwende und kurz nach dem Bonifatiustag (5. Juni) statt. 2014 wurde beim anschließenden „traditionellen Gelage“ auf einem nahegelegenen Grillplatz zur Erinnerung rituell eine Eiche gepflanzt. Im selben Jahr wurde kurz nach dem Treffen das Denkmal durch Vandalismus beschädigt, wobei damals selbst Neuheiden die Täter in ihren eigenen Reihen vermuteten (siehe MD 1/2015, 29f).
Aus diesen Treffen entwickelte sich die Idee, nahe des Denkmals eine Tafel mit folgender Inschrift anzubringen: „In Gedenken an die Ahnen und alten Götter, deren Heiligtum zerstört wurde. Mögen die unterschiedlichen Religionen zukünftig im gegenseitigen Respekt friedlich miteinander auskommen. Gestiftet von den Anhängern des Neuheidentums und der vorchristlichen Kulte Europas.“6 Dieser Vorschlag wurde der Stadt Fritzlar und anderen Verwaltungseinheiten unterbreitet, die dem Ansinnen aber über mehrere Instanzen hinweg Absagen erteilten. Dagegen wurde jetzt Klage eingereicht.
Da das Neuheidentreffen, das 2014 noch 170 Besucher hatte, 2016 auf die Hälfte abgeschmolzen war, hat Organisator Vömel vorläufig kein weiteres Treffen in Fritzlar geplant.
Feindbild „Kirche“
Vömel verbindet mit seinen Aktionen auch eine Hoffnung im Hinblick auf die Kirchen. Er wünscht sich eine „vorsichtige gegenseitige Annäherung, um die Möglichkeit zu schaffen, wenigstens einige der beidseitig bestehenden Vorurteile abzubauen, insbesondere auf dem in Deutschland noch immer von vielen Altlasten behafteten, weiten Feld von Kirche und Heidentum“7. Ob ein solches Gesprächsangebot allerdings besonders geschickt im Kontext einer Totalkritik an der Christianisierung der Germanen angesiedelt ist, noch dazu bei einer Veranstaltung, die dem Zweck dient, die zersplitterten Heiden in Abgrenzung zu einem Feindbild „Kirche“ und „Zwangschristianisierung“ zusammenzubringen? Denn anders als ihre längst in interreligiösen Gesprächskreisen angekommenen britischen Pendants sind deutsche Neuheiden in ihren Publikationen oft noch in einer polemisch vorgetragenen, undifferenzierten Kirchenkritik gefangen.8
Sogar an das zuständige Bistum Fulda richtete Vömel, dessen Kirchenkritik moderater und sachlicher ausfällt als bei vielen seiner Glaubensgeschwister, eine Bitte um Unterstützung seines Vorstoßes für eine Gedenktafel. In diesem Brief argumentiert der Künstler durchaus geschickt und kenntnisreich mit verschiedenen dialogbezogenen kirchlichen Dokumenten vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis zu jüngeren päpstlichen Ansprachen und Vergebungsbitten zu den Themen Mission und Kolonialismus. Er appelliert an den von verschiedenen Päpsten beschworenen Geist der Toleranz für andere Religionen. Hatte nicht Papst Franziskus im Sommer 2015 Respekt für andere Glaubensformen angemahnt und demütig um Vergebung für die Sünden der Kirche und die Verbrechen gegen die Urbevölkerung im Zusammenhang der Eroberung Südamerikas gebeten? Sicher müsse diese Haltung doch auch über Amerika hinaus gelten? Westliche Neuheiden verstehen sich selbst als Teil der nichtchristlichen indigenen Naturreligionen der Gegenwart und Vergangenheit – konnten sich also durch die päpstlichen Worte mitangesprochen fühlen.
Allerdings übersieht die heidnische Argumentation an dieser Stelle, dass Papst Franziskus nur für die Verbrechen gegen die Menschen, nicht für deren Annahme des Christentums um Vergebung gebeten hatte. Beides hängt zusammen, ist aber nicht identisch. Wer heute in die entsprechenden Gebiete reist und mit Menschen spricht, weiß: Die Kritik an der Bekehrung zum Christentum indigener Völker kommt praktisch nie aus diesen Kirchen selbst. Derartige Totalkritik ist fast ausschließlich eine Sache von Westlern, die zu den indigenen Religionen und Kulturen ein museal-ethnologisches oder, wie im Falle der Neuheiden, ein besitzergreifend-romantisierendes Verhältnis haben. Die heutigen Christen Lateinamerikas und anderer ehemaliger Missionsgebiete sind in der Regel für ihren Glauben dankbar und gedenken ihrer Missionare trotz deren Schwächen oft ausgesprochen liebevoll. Christen aus den einstigen Missionsgebieten der Dritten Welt haben kaum Verständnis für ihre Instrumentalisierung für die europäische Kirchenkritik. Das gilt auch für die Christen im ehemaligen Missionsgebiet Nordhessen: Wie die Stadt Fritzlar mochte auch das Bistum Fulda der neuheidnischen Argumentation nicht folgen und die Gedenktafel nicht unterstützen. Nun muss also ein Gericht entscheiden.
Ein gewisser Widerspruch
Die neuheidnische Argumentation mit dem „eigenen“ Opferstatus aufgrund von Ereignissen im Frühmittelalter ist wenig durchdacht. Das wird besonders sichtbar, wenn man nach dem Artikel in der genannten Ausgabe von „Ringhorn“ weiterblättert. Dort erzählt die gleiche Autorin, die soeben noch eine Gedenktafel für Bonifatius‘ „Gewalttat“ beim Fällen einer Eiche verlangte, voller Bewunderung die Sage von Ragnar Lodbrok.9 Dieser Wikingerheld des 9. Jahrhunderts verbrachte sein gesamtes Leben demnach mit „allsommerlichen Streifzügen“, konkret also mit blutigen Überfällen auf die an Meeresküsten und Flussufern gelegenen Städte, Klöster und Dörfer ganz Europas sowie der Ermordung oder Versklavung der Einheimischen.
Mit besonderer Detailfreude, aber ohne Distanzierung und ohne erkennbare Selbstironie berichtet die Autorin von einem Fall, wo die Wikinger unter dem Vorwand, einen Todkranken taufen lassen zu wollen, was ihnen die christliche Nächstenliebe nicht abschlagen konnte, in eine zuvor vergeblich belagerte christliche Stadt eingelassen wurden. Kaum drinnen sprang der Todkranke, Ehrenwort hin, Ehrenwort her, mitten in der Kirche mit einem Schwert in der Hand auf, „enthauptete den Bischof und erschlug die Priester. Danach wurden die Einwohner erschlagen und die Stadt geplündert.“10
Für heutige Heiden ist die skandinavische Geschichte, Sagen- und Mythenwelt wichtigste historische Grundlage ihres Glaubens und ihres Ethos. Es ist nicht bekannt, ob und wo die Neuheiden zur Erinnerung an diese und ähnliche, sich über Jahrhunderte wiederholende Heldentaten ihrer heidnischen Vorfahren Gedenktafeln anbringen wollen. Jedenfalls gehört ein Problembewusstsein für diese kriegslüsternen Aspekte und das dazugehörige Männlichkeitsideal der eigenen Religiosität nicht zur Standardausstattung der neuen Germanen. Auch wenn man von einer so jungen Bewegung wie dem Neuheidentum noch nicht zu viel verlangen darf, so wäre doch – auch angesichts der oft geschichtlich begründeten Polemik gegen Christen – eine wenigstens ansatzweise selbstkritische Aufarbeitung der eigenen Vorgeschichte und der Traditionen, in die man sich stellt, sicher ein Beitrag zu einem Gelingen des für die Zukunft gewünschten Gesprächs.
Anmerkungen
- Siehe www.ubbo-enninga.de.
- Nathalie Cue Gomez, Das 3. heidnische Treffen in Fritzlar, in: Ringhorn. Zeitschrift für das Neuheidentum heute 22 (2016), Heft 87, 14-17, hier 14.
- Ebd.
- Alle Zitate ebd.
- Gespräch mit dem Verf. am 29.12.2016.
- Nathalie Cue Gomez, Das 3. heidnische Treffen in Fritzlar (s. Fußnote 2), 15. Bemerkenswert ist die Selbstbezeichnung als „Neuheiden“. Üblicherweise bezeichnen sich Neuheiden einfach als Heiden, um ihre Wiedererweckung einer alten Tradition zu betonen.
- E-Mail an den Verf. vom 31.12.2016.
- Es ist denkbar, dass die wiederholte Teilnahme eines deutschlandweiten Netzwerks neuheidnischer Gruppen an der Langen Nacht der Religionen in Berlin auch hierzulande ein Umdenken andeutet. Die Neuheiden werden 2017 zum dritten Mal bei der Berliner Langen Nacht dabei sein (25.5.2017 im Rahmen des Kirchentags). Berichte über die vorhergegangenen Teilnahmen aus heidnischer Sicht gibt es sowohl auf dem YouTube-Kanal Heiden-TV als auch auf der Webseite des Vereins für Germanisches Heidentum (vfgh.de).
- Vgl. Nathalie Cue Gomez, Die Sage von Ragnar Lodbrok, in: Ringhorn. Zeitschrift für das Neuheidentum heute 22 (2016), Heft 87, 18-21; Vanessa Valkiria, Ragnar Lodbrok als geschichtliche Figur, ebd., 21f.
- Ebd., 20.