Hansjörg Hemminger

Die evangelikale Bewegung in Deutschland

Anmerkungen zur theologischen und politischen Entwicklung

Grundlagen des Evangelikalismus: Gottesbeziehung und Bibeltreue

Der Evangelikalismus ist eine Bewegung der Moderne mit einem Beginn frühestens zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Er entstand in der angelsächsischen Welt und nahm die Anliegen amerikanischer und europäischer Erweckungsbewegungen auf, darunter diejenigen des Pietismus, der Heiligungsbewegung und der Pfingstkirchen. Seither hat sich der Evangelikalismus internationalisiert und entwickelt heute seine größte Dynamik in Lateinamerika, Asien und Afrika. Sein Erscheinungsbild wird von diesen unterschiedlichen Lebenswelten geprägt, sei es in Südkorea, in Brasilien, in den USA oder eben in Mitteleuropa. Daher weist die evangelikale Bewegung in Deutschland trotz aller globalen Einflüsse besondere Charakteristika auf. Zwar gelten die vier Merkmale des sogenannten „Bebbington Quadrilateral“1 aus den 1980er Jahren generell überall, aber eben in einer zeit- und kulturtypischen Ausprägung:

1. die Betonung von Lebensübergabe und Wiedergeburt (Original: conversionism, the belief that lives need to be changed),

2. die Betonung aktiven Handelns für die persönliche Heiligung, für Mission und Diakonie (Original: activism, the expression of the gospel in effort),

3. die Betonung des Erlösungswerks Jesu, des Leidens für die Menschen (Original: what may be called crucicentrism, a stress on the sacrifice of Christ on the cross),

4. Bibeltreue, Bibelorientierung (Original: biblicism, a particular regard for the Bible).

Die ersten drei Merkmale konzentrieren sich heute bei den meisten Menschen, die sich in Deutschland als „evangelikal“ bezeichnen, auf das Erleben einer persönlichen, gefühls- und praxisbetonten Gottes- und Christusbeziehung. Diese Beziehung baut zwar immer noch auf einer biografisch beschreibbaren Lebenswende auf (conversionism). Diese wird jedoch vor allem individuell als Eintritt in eine neue Geborgenheit bei Gott erfahren, sodass die Orientierung am Erlösungswerk Jesu (crucicentrism) weiter gilt. Aber es wird betont, dass Kreuzigung und Auferstehung „für mich“ geschahen. Die Kirche als Leib Christi ist weniger im Blick. Allerdings wird auch diese individualisierte Christusbeziehung als Auftrag und Sendung verstanden (activism).

Wenn man so geprägte Evangelikale fragt, was echtes Christsein ausmacht, wird man in den meisten Fällen die Antwort bekommen: „eine persönliche Beziehung zu Jesus, eine persönliche Gottesbeziehung“: „Mitten im Leben gibt es für den Glaubenden ein göttliches ‚Du‘, mit dem man im Gespräch sein kann, auf dessen unverlierbare Liebe man sich verlassen kann ... Eine solche persönliche Beziehung zu Gott bedeutet auch, dass man mit Gottes Einwirken auf das eigene Leben (in theologischer Sprache mit Gottes Welthandeln) praktisch rechnet. Daher gehört die Bitte um Hilfe in Sorgen und Ängsten zu einer solchen Beziehung. Ganz selbstverständlich rechnet man auch mit Wundern, also mit unerklärlichen Erfahrungen und Hilfen, die nicht in den üblichen Gang der Dinge passen.“2

Die evangelikale Frömmigkeit dieses Typus, der bei der jungen Generation vorherrscht, ist also betont „modern“, nämlich erlebnisorientiert und individualisiert, bis zur Grenze des theologischen und ethischen Subjektivismus.

Das vierte Merkmal Bebbingtons, die Bibelorientierung (biblicism), gibt es in zwei Formen, die innerhalb der Bewegung gegeneinanderstehen. Die individualisierte Frömmigkeit neigt zu einer Bibelorientierung, die man als evangelikale Schriftspiritualität bezeichnen könnte: Im persönlichen Umgang mit dem Bibelwort, im Austausch mit Freunden und mit Mitchristen, die als Vorbilder gelten, erlebt man das Wirken des Geistes Gottes. Das Lesen der Bibel und das persönliche Gebet gehören zusammen und gehen ineinander über.

Eine andere Bibelorientierung trifft man eher bei älteren Evangelikalen an, nämlich die Ableitung von absolut gültigen, dogmatischen und moralischen Normen aus der Schrift. Darin spiegelt sich zwar der Einfluss des angelsächsischen Bibel-Fundamentalismus. Aber die Proponenten dieses rationalistischen und dogmatisierten Schriftverständnisses sind keineswegs alle Fundamentalisten im vollen Sinn der Chicago-Erklärungen3. Sie streiten die individuelle, spirituelle Bedeutung der Bibel auch nicht ab; umgekehrt streiten die „erlebnisorientierten“ Evangelikalen die normative Autorität der Bibel ebenso wenig ab.

Beide Frömmigkeitsformen konzentrieren sich auf jeweils ihre Art auf die Gottes- und Christusbeziehung. Der Unterschied liegt darin, dass bei letzterer diese Beziehung individuell, emotional und spontan gelebt und erlebt wird, während sie bei ersterer durch Konformität mit vorformulierten Glaubensaussagen und moralischen Regeln bekräftigt wird. Für sie lautet die Antwort auf die Frage, was echtes Christsein ausmacht: „dass man nach der Bibel lebt“. Bibelorientierung bedeutet für sie die Geltung einer angeblich biblisch begründeten, objektiven und in Form von Satzwahrheiten vertretenen Dogmatik.

Für jüngere Evangelikale ist diese Art Frömmigkeit derzeit wenig attraktiv. Nicht umsonst betont deshalb vor allem der fundamentalistische Flügel der Bewegung (z. B. aus dem Darbysmus), dass man die Jesusbeziehung nicht gegen die Autorität der Bibel ausspielen dürfe. Man bemerkt dort sehr wohl, dass eine Schriftspiritualität, die um eine persönliche Christusbeziehung kreist, tendenziell zu der reformatorischen Auslegungsnorm zurückführt, nach der zählt, „was Christum treibet“. Dass es zuerst einmal „für mich“ zählt, dann für meine Gemeinde und weniger für die Kirche, ist Ausdruck des bereits skizzierten Individualismus. Demgegenüber soll es aus der Sicht des „rationalistischen“, dogmatisierten Evangelikalismus gerade keine Freiheit geben, eigene Glaubenserfahrungen in den Mittelpunkt der Gottesbeziehung zu rücken.

Modern sind beide Varianten der Bibelorientierung, aber die eine gehört eher auf die „romantische“, vernunftkritische Seite der späten Moderne, während die andere der rationalistischen, sogar der wissenschaftsgläubigen Moderne nahesteht. Denn die Bibel fungiert für diesen Flügel des Evangelikalismus als „ewiges Lehrbuch“ in dem Sinn, in dem der Wissenschaftsglaube sich einmal ewige Wahrheiten durch wissenschaftliche Erkenntnis erhoffte.

Die innere Vielfalt der Bewegung

Die innere Vielfalt des Evangelikalismus lässt sich am Schriftverständnis aufzeigen, ist aber auch ansonsten (Taufverständnis, Ekklesiologie, Ethik usw.) erheblich größer, als nach außen sichtbar wird. Die unterschiedlichen Strömungen werden üblicherweise folgendermaßen aufgeschlüsselt:

  • Einmal gibt es die sogenannten „Allianz-Evangelikalen“ in den etablierten Freikirchen und im landeskirchlichen Pietismus, benannt nach der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA). Nicht alle Pietisten und bei weitem nicht alle Mitglieder der klassischen Freikirchen verstehen sich jedoch selbst als evangelikal. Auch wenn sie den Begriff auf sich anwenden, spielt er für ihre Identität in der Regel eine untergeordnete Rolle. Das theologische Spektrum reicht in diesen Szenen vom rechtskonservativen Bibelglauben bis zu den sogenannten Links-Evangelikalen.
  • Die „charismatischen Evangelikalen“ bzw. Pfingst-Evangelikalen sind in den etablierten Pfingstkirchen und in neocharismatischen Gemeinden beheimatet. Theologisch sind sie weit überwiegend bibel-fundamentalistisch, die Bezeichnung „evangelikal“ spielt für sie aber ebenfalls keine wichtige Rolle. Die „spätmodernen“ Züge der Bewegung, nämlich ihre Erlebnisorientierung und ein Individualismus, der bis zum Subjektivismus und manchmal bis zum Realitätsverlust reicht, sind in diesen Kreisen besonders ausgeprägt. Seit den 1990er Jahren werden die charismatischen Evangelikalen zunehmend in evangelikale Dachverbände integriert, besonders in die Evangelische Allianz. Dadurch verwischen sich die Unterschiede zu den Allianz-Evangelikalen.
  • Die „Bekenntnis-Evangelikalen“ entstanden durch den „Streit um die Bibel“ in den 1960er Jahren und repräsentieren vor allem einen Teil des konservativen Flügels der Landeskirchen. Vertreten werden sie von der „Konferenz Bekennender Gemeinschaften in den Evangelischen Kirchen Deutschlands“ mit derzeit 17 Gruppierungen. Bei ihnen sind der zeittypische Individualismus und die Erlebnisorientierung am wenigsten ausgeprägt. Sie sind großenteils keine typischen Bibel-Fundamentalisten, benutzen aber die Autorität der Bibel zur Begründung rechtskonservativer Politik und Moral. Von daher stellen sie den Kern des sogenannten Rechts-Evangelikalismus, über den noch mehr zu sagen sein wird. Sie nehmen das Etikett „evangelikal“ in aller Regel energisch für sich selbst in Anspruch.

Viele evangelikale Gruppierungen lassen sich den drei genannten Typen nicht zuordnen, zum Beispiel unabhängige Gemeinden sowie Aussiedler- und Migrantengemeinden, die zum Teil pfingstlich-charismatisch geprägt, zum Teil aber auch strikt bibel-fundamentalistisch sind. Letztere sammeln sich z. T. um die „Konferenz für Gemeindegründung“ (KfG).

Im Gegensatz zu der häufig kolportierten Behauptung, die evangelikale Bewegung wachse auf Kosten der großen Kirchen, unterliegt sie statistisch gesehen wie alle anderen christlichen Strömungen dem Sog zunehmender Religions- und Kirchenferne. An der Summe der deutschen Evangelikalen scheint sich deshalb kurzfristig wenig zu ändern, langfristig nehmen sie ab. Es handelt sich um rund 1,5 Millionen Menschen, also höchstens 2 % der Bevölkerung. Im Vergleich zu den weltweiten Zahlen ist das sehr wenig. Man schätzt die globale Zahl evangelikaler Christen auch ohne diejenigen aus der Pfingstbewegung auf über 300 Millionen, mit der Pfingstbewegung auf das Doppelte bis Dreifache. Nach Werner Ustorf machen die Evangelikalen einschließlich der pfingstlichen und charismatischen Kirchen rund 28 % der organisierten Christen weltweit aus.4

Die Identität der evangelikalen Bewegung in Europa wird erheblich, vielleicht sogar entscheidend, von ihrer kulturellen und politischen Schwäche geprägt. Anders als in den USA, in Lateinamerika usw. agiert sie nach außen hin defensiv und abgrenzend. Das Etikett „evangelikal“ signalisiert daher oft weniger eine positive Identität, sondern eher das, was man nicht sein will, nämlich progressiv, bibelkritisch, liberal usw. Inhaltliche Differenzen in der Politik, beim Schriftverständnis, in der Sozialethik, beim Kirchenverständnis, in der Tauftheologie usw. werden zugunsten der äußeren Geschlossenheit oft nicht ausgetragen, sondern ausgeblendet. Eine unerwünschte, aber unvermeidliche Folge ist, dass „die Evangelikalen“ von den säkularen Medien meist als ein geschlossener Block wahrgenommen werden, aus einer politischen Perspektive vor allem als „religiöse Rechte“. Oder es wird zwar ein religiöser Gehalt thematisiert, der besteht aber in den Augen der Medien pauschal aus christlichem Fundamentalismus. Auch der „liberale“ Flügel der evangelischen Kirche übernimmt regelmäßig das pauschalisierte Feindbild der säkularen Umwelt und wird der Bewegung damit nicht gerecht.

Evangelikale Bewegung und Politik

In Politik und Medien ist man gegenwärtig überzeugt, dass die evangelikale Bewegung politisch eng mit der AfD und der Pegida-Bewegung verbunden sei. Der Blick hinüber in die USA legt diese Sichtweise nahe. Aber so einfach sind die Dinge in Deutschland nicht. Die Bekenntnis-Evangelikalen sowie viele unabhängige Gemeinden sind politisch tatsächlich überwiegend rechtskonservativ. In den anderen Lagern gibt es dagegen immer noch eine grundsätzliche Distanz zur Politik. Früher dürften diese eher unpolitischen Evangelikalen sich von den Unionsparteien vertreten gefühlt haben. Inzwischen findet man die eigenen Positionen dort nicht mehr wieder: den Schutz der Ehe, den Schutz des ungeborenen Lebens usw. Man hat die Sorge, dass der Islam sowohl in der Politik als auch in den großen Kirchen zu naiv gesehen wird, auch die Ablehnung der sogenannten Gender-Ideologie und der Evolutionstheorie spielt eine Rolle.

Wie viele der eher unpolitischen Allianz- und Pfingst-Evangelikalen deshalb für die AfD stimmen, ist unklar. Für das Wählerpotenzial der Populisten spielen sie jedenfalls keine große Rolle. Die „Christen in der AfD“ haben nicht viele Mitglieder und kommen zum erheblichen Teil aus dem Rechts-Katholizismus. Die frühere Vorsitzende Anette Schultner, die einer konservativen Freikirche angehört, verließ nach der Bundestagswahl 2017 die AfD mit der Begründung, dass christliche Positionen dort nicht durchsetzbar seien.

In einer Erklärung der DEA zur Bundestagswahl 2017 wurde der Einzug der AfD in den Bundestag mit keinem Wort erwähnt. Auf Nachfragen erklärte der Generalsekretär Hartmut Steeb das Schweigen mit parteipolitischer Neutralität. Er nimmt die AfD nicht als undemokratisch und als humanitäre Bedrohung wahr, sondern ungeachtet aller Warnungen (auch der von Anette Schultner) als politische Vertretung zumindest mancher Allianz-Positionen. Viele andere „rechte“ Evangelikale schlagen sich noch deutlicher auf die Seite der AfD. Sie bezeichnen die sogenannten Altparteien als „linksgrün“ ideologisiert und als gottlos. Dagegen widersprach Uwe Heimowski, Politikbeauftragter der DEA in Berlin, seinem eigenen Generalsekretär. Er sagte, dass der Erfolg der AfD vor allem in Ostdeutschland ein Schock für ihn gewesen sei. Die Evangelische Allianz werde klarmachen, „dass es keine Schnittmenge zu rassistischen und geschichtsverfälschenden Positionen“ gibt.5 Entsprechend erklärte Peter Jörgensen, die AfD habe Egoismus und Rassismus im Wahlkampf salonfähig gemacht, und warnte vor dem „Beginn einer Enthemmung, das Böse wieder zuzulassen“.6 Jörgensen ist der Beauftragte der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) am Sitz der Bundesregierung. Es ist kein Zufall, dass Heimowski und Jörgensen baptistische Pastoren sind und dem „rechtsevangelikalen“ Lager eher fernstehen, das politisch und kirchlich von Peter Hahne, Hartmut Steeb, Ulrich Parzany und maßgeblich von der Nachrichtenagentur „idea“ vertreten wird.7 Die Spannung zwischen halber oder ganzer AfD-Nähe auf der einen und klarer Ablehnung auf der anderen Seite wird innerhalb der DEA nicht diskutiert, auch kaum in der evangelikalen Bewegung insgesamt.

Von der Beziehungs- zur Ordnungsethik

Das rechts-evangelikale Lager ist durch die Überzeugung charakterisiert, dass der Kern christlicher Ethik eine Ordnungsethik sei, die durch die Bibel autorisiert werde, und dass die Politik diese Ordnungsethik gesellschaftlich umzusetzen habe. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ins Zentrum der Politik rücken sollten. Die Gottlosigkeit des politischen Systems zeigt sich für den Rechts-Evangelikalismus nahezu ausschließlich an zwei Themen: Homosexualität bzw. Gender-Ideologie und Abtreibung.Diese Engführung wurde (sofern das noch möglich war) durch eine Erklärung der DEA zur „Ehe für alle“ 2017 verstärkt.8 Es ist bezeichnend, dass das Thema Homosexualität zurzeit das (ethisch viel bedeutsamere) Thema des Schutzes ungeborenen Lebens in eine sekundäre Rolle drängt. Dadurch nimmt die Diskussion teilweise groteske Züge an.

Maßgeblich daran beteiligt ist Ulrich Parzany, der durch sein Buch „Was nun, Kirche?“ mediale Beachtung fand. Thorsten Dietz, ständiger Gast bei der theologischen Kammer der EKD, schreibt in seinem neuen Buch „Weiter glauben“9, es gebe „gegenwärtig erhebliche Spannungen, die sich quer durch unterschiedlichste christliche Kirchen und Strömungen ziehen“. Ulrich Parzany nimmt dies in dem neuen, rechts-evangelikalen Blog „biblipedia“ zustimmend auf und benennt den für ihn zentralen Konflikt: „Sollen denn nun gleichgeschlechtliche Paare gesegnet oder getraut werden? Ist praktizierte Homosexualität Sünde oder nicht? Bedeuten die von Thorsten Dietz genannten Grundsätze, dass man zu keinen klaren Erkenntnissen kommen kann und jede Gemeinde und Gemeinschaft sehen muss, wie sie zurechtkommt?“10

Man ist geneigt zurückzufragen: Warum sollen Christen in einer derartigen Frage nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und andere Überzeugungen dennoch respektieren? Die Antwort liegt auf der Hand: Die Frage nach dem Umgang mit Homosexualität taugt nur dann als Instrument der Kirchen- und Gesellschaftspolitik, wenn man sie emotionalisiert und mit ihr polarisiert. Vordergründig geht es zwar um das Schriftverständnis, aber praktisch geht es um Politik. Denn die „biblischen Erkenntnisse“ bestätigen aus der Sicht dieses Lagers immer rechtskonservative bis rechtspopulistische Prinzipien, nie emanzipatorische und egalitäre Anliegen. Konsequenterweise weigerte sich Ulrich Parzany ähnlich wie Hartmut Steeb, eine Spannung zwischen Programm und Verhalten der AfD und der christlichen Ethik zuzugeben.11 Dafür werden wesentliche Teile christlicher Ethik ausgeblendet, z. B. der Umgang mit der Wahrheit, mit Macht und Geld, die Sozialethik, insbesondere die Fürsorge für die Schwachen. Die Berufung auf „fundamentale Werte“ erweist sich bei näherer Betrachtung als einseitig: „Wer sich in Zeiten toleranter Beliebigkeit mit Fundamenten beschäftigt, hat es nicht leicht. Schnell steht er in der Gefahr, als Fundamentalist bezeichnet zu werden. Als jemand, der rückständig, festgefahren, intolerant und mitunter sogar gewaltbereit ist. Wer jedoch genauer hinschaut, wird merken, dass unsere Welt ohne Fundamente nicht auskommt ... Ohne fundamentale Werte, wie etwa die 10 Gebote es sind, ist alles möglich ... Wer sich an den Fundamenten vergreift, vergreift sich an Gottes unverbrüchlichen Ordnungen.“12

Diese Position wäre theologisch und ethisch durchaus diskussionswürdig. Die Zehn Gebote werden als fundamentale Werte benannt, was einem breiten christlichen Konsens entsprechen dürfte. Dieses Argument ist aber inkonsistent damit, die Ablehnung von Homosexualität und das Ideal der modernen bürgerlichen Kleinfamilie zum Prüfstein für das staatliche Wertefundament zu erheben. Denn das erste Thema kommt im Dekalog überhaupt nicht vor und das zweite nur, wenn man die Gebote durch eine neuzeitliche Brille betrachtet. Das gilt in etwa ebenso für den zentralen ethischen Text des Neuen Testaments, die Bergpredigt.

Die Sozialwissenschaften sind sich einig darin, dass es den angeblichen Abbau ethischer Fundamente in Wirklichkeit nicht gibt. Es gibt einen vielschichtigen Wandel ethischer Normen in unserer Gesellschaft, der wie immer ambivalent ist und der Vor- und Nachteile mit sich bringt. Die Bibel wird von den rechten Evangelikalen dazu benutzt, diesen Wandel pauschal zu diskreditieren und die eigenen Normen absolut zu setzen. Dadurch verschiebt sich der Schwerpunkt der christlichen Ethik in Richtung einer moralischen Lebensordnung für das Individuum, deren Befolgung und Nichtbefolgung an äußerlichen Merkmalen vor allem des Sexualverhaltens ablesbar ist. Fällt den evangelikalen Advokaten für „fundamentale Werte“ wirklich nicht auf, dass der Dekalog zwar ein ausdrückliches Verbot enthält, Falsches über seine Nächsten auszusagen, aber zur Sexualethik außer dem Verbot, in eine bestehende Ehe einzubrechen, nichts zu sagen hat? Würde man ein ethisches Urteil über die AfD wirklich anhand der Zehn Gebote fällen wollen, wäre das Ergebnis eindeutig.

Eine Grundsatzerklärung der württembergischen „ChristusBewegung“ zur gesellschaftlichen Lage bestätigt den Eindruck, dass der angeblichen Orientierung an der Bibel politische Motive unterliegen. In dem an sich unpolemischen, um Ausgleich bemühten Text kommt die Sozialethik nicht vor – so, als ob die gesellschaftliche Lage keine sozialen Fragen aufwürfe, und so, als ob soziale Gerechtigkeit in der Bibel keine Rolle spielte. Im Mittelpunkt steht die ideologische Bedrohung der Familie. Dass die traditionelle Familie nicht nur (vielleicht nicht einmal vorwiegend) ideologisch bedroht wird, sondern durch ungerechte familienfeindliche, wirtschaftliche und arbeitsrechtliche Entwicklungen, ist mehr als offensichtlich, wird aber nicht einmal am Rande erwähnt. Der Text klingt so, als ob jede Frau und jeder Mann in unserer Gesellschaft gemäß einer biblischen Ordnung leben könnten, wenn ihr Denken nicht ideologisch verformt würde.13 Mit derartigen Äußerungen, so gut gemeint sie sind, verabschiedet man sich aus dem seriösen politischen Diskurs und begibt sich, wenn man es mit den Worten Dietrich Bonhoeffers sagen will, in eine irreale „Hinterwelt“.

„Hinterweltlerisches“ und säkularistisches Politikverständnis

Bonhoeffer nannte ein Politikverständnis „hinterweltlerisch“, das sich aus einer Welt zurückzieht, die nicht christliche „societas perfecta“ ist und es nie war. Zum Beispiel forderte Peter Hahne im Januar 2017 in Wittenberg, die evangelische Kirche solle sich aus der Politik heraushalten und sich auf die Verkündigung des Evangeliums beschränken. Sie solle sich nicht – so musste man ihn verstehen – kritisch zur AfD äußern, sie solle sich auch nicht zugunsten der Demokratie und der bürgerlichen Freiheiten in die Diskussion einmischen.

Es ist inzwischen fraglich geworden, ob der Rechts-Evangelikalismus die Freiheitsrechte des Grundgesetzes noch ohne Vorbehalte bejaht. Denn das häufig gehörte Argument, dass viele Mitbürgerinnen und Mitbürger diese Freiheiten nicht in christlichem Sinn nutzen, ist eine unausgesprochene – und manchmal sogar ausgesprochene – Ablehnung dieser Freiheiten. Manche Evangelikale fühlen sich durch die Freiheiten der Andersdenkenden sogar politisch verfolgt. Dafür genügt, dass die Bewegung (durchaus zum Teil unfair) öffentlich kritisiert wird und dass sogar gehässige Kirchen- und Religionskritik rechtlich zulässig ist. Dass Christen und Kirchen umgekehrt das Recht haben, für ihren Glauben zu werben und ihre Religion zu leben, und immer noch gewisse Privilegien genießen, ist nicht genug, um den freiheitlichen Verfassungsstaat zu legitimieren. Aber nur in einer „Hinterwelt“, die es in Wirklichkeit nicht geben kann, lassen sich bürgerliche Freiheitsrechte und die allgemeine Geltung christlicher Normen verbinden.

Pluralität, auch gelegentlicher Missbrauch, ist der Preis der Freiheit. Die allgemeine Geltung christlicher Normen ist nur durch Despotie zu haben. Es ist Aufgabe der Christen in unserem Staat, den Preis der Freiheit zusammen mit allen anderen gesellschaftlichen Kräften aufzubringen und diese Freiheit zu nutzen. Fantasien von einer christlichen „societas perfecta“ gefährden die Freiheit der anderen und letztlich auch die eigene.

Die bayerische Verordnung, alle öffentlichen Gebäude mit Kreuzen zu versehen, wurde folgerichtig von rechts als Schritt in die richtige Richtung begrüßt, während die großen Kirchen und die Freikirchen die Verordnung kritisierten. Dieser politisch eigentlich belanglose, fast schon kabarettistische Vorgang macht dennoch wie kaum ein anderer die Spannungen innerhalb der Evangelikalen sichtbar, die eigentlich nicht mehr überbrückt, sondern nur noch verschleiert werden können.

Allerdings hat laut Bonhoeffer das „hinterweltlerische“ Politikverständnis eine zweite Seite: Sobald sich nämlich ein Zugang zur politischen Macht abzeichnet, wie durch die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, schlägt es in ein säkularistisches um. Bei Bonhoeffer bedeutet dieser Begriff, dass man sich (durchaus bis hin zur Despotie) der Welt zu bemächtigen sucht, um sie der hinterweltlerischen Vision anzugleichen. „Was kann hier anderes gelten, als dass Religion und Kirche in diese Auseinandersetzung, in diesen Kampf gezwungen werden? Dazu muss Glaube sich verfestigen zu religiöser Sitte und zu Moral, Kirche zum Aktionsorgan für religiös-sittlichen Neubau ... Wir müssen uns eine starke Festung bauen, in der wir mit Gott gesichert leben können.“14

Folgerichtig wurde weder von Peter Hahne noch von anderen deutschen Rechts-Evangelikalen verlangt, dass sich die weißen Evangelikalen in den USA aus der Politik heraushalten sollten. Das gilt nur für diejenigen Kirchen, die keine christliche „starke Festung“ bauen wollen. Sobald aber Politik zum „religiös-sittlichen Neubau“ in ihrem Sinn wird, wird sie Christenpflicht. Es ist eine bittere Ironie, dass viele Evangelikale in den USA von der Ablehnung der „Ehe für alle“ und des geltenden Abtreibungsrechts motiviert wurden, Donald Trump zu wählen. Sie wählten einen Präsidenten, der gegen Sozialhilfe und Gesundheitsfürsorge kämpft und damit direkt gegen die Lebensmöglichkeit ungeborener Kinder. Aber Realpolitik spielt derzeit, auch unter dem Einfluss des rechten Populismus, gegenüber der „hinterweltlerischen“ Prinzipientreue keine Rolle. Die Nachrichtenagentur idea muss inzwischen als evangelikale Werbeplattform für die AfD verstanden werden.15 Sie griff nicht nur die Forderung Hahnes nach Politikverzicht auf, sondern thematisiert insgesamt Kirchenkritik – vor allem an der EKD – häufiger als allgemeine Gesellschaftskritik. Im idea-Milieu gibt es eine idealisierte Wahrnehmung der USA: Politischer und theologischer Konservativismus mache jenseits des Atlantiks Kirche und Glauben groß, während der politische Liberalismus der EKD den Glauben zerstöre. In Wirklichkeit erodiert derzeit in den USA die Basis der evangelikalen Denominationen rapide, und zwar wegen des Bündnisses mit dem Rechtspopulismus. Ihre sogenannten „millennials“ orientieren sich mehrheitlich post-evangelikal, ein Begriff, der bereits fest in der Diskussion im US-Evangelikalismus etabliert ist. Aber diese Diskussion gibt es immerhin, sie lässt sich zum Beispiel über das Internet-Portal „patheos“ Tag für Tag verfolgen.16

Eine entsprechende Diskussion gibt es in Deutschland nicht, darin sind sich linke und rechte Evangelikale sogar einig. Man weiß als Insider, wer die evangelikale Kritik an der AfD teilt und wer nicht, wer zum rechten Lager gehört und wer sich davon distanziert. Aber öffentlich ausgetragen wird der Konflikt nicht, in den Gremien und Verbänden schon gar nicht. Dafür fehlt der Bewegung die Kraft.

Fazit

Die Stärke der evangelikalen Bewegung ist das individuelle, persönliche Leben im Horizont der unverfügbaren, geschenkten Gottesbeziehung, mit den damit verbundenen Erfahrungen von Erneuerung, Freiheit und Gewissheit. Die Stärken der evangelikalen Bewegung sind weiterhin ihre lebendige Schrift-Spiritualität, ihre aktive missionarische und ihre diakonische Ausrichtung, ihre allgemeine zwischenmenschliche Gesprächs- und Handlungsbereitschaft. Die Schwäche der evangelikalen Bewegung ist es, die Gottesbeziehung durch eine scheinbar biblisch geordnete, in Wirklichkeit aber reaktionäre Lebensführung und durch die Bibel als exklusives Wahrheitsfundament sichern zu wollen. Die Schwäche der Bewegung ist es, dabei entweder in eine unfruchtbare Absonderung von der Umwelt, oder in eine ebenso unfruchtbare Politisierung zu geraten.

Die evangelikale Bewegung und die große evangelische Kirche brauchen einander wegen ihrer wechselseitigen Stärken und Schwächen, die sich aneinander reiben und die daher beide Seiten zu Besinnung und Korrektur einladen können. Die individualisierte, tätige Orientierung der Evangelikalen an der Christus- und Gottesbeziehung trägt zur Lebendigkeit der Kirche bei, sowohl in der Theologie als auch im „vereinskirchlichen Leben“. Fehlentwicklungen in der evangelischen Kirche, meist in Richtung eines selbstgerechten Experten- und Funktionärstums und einer leidenschaftslosen Selbst-Säkularisierung des Redens und Handelns, werden von der evangelikalen Bewegung mit Recht kritisiert. Umgekehrt braucht die Bewegung die große Kirche, mit ihrer langen und erfolgreichen Tradition, Wissenschaft und Politik mit dem christlichen Glauben in eine fruchtbare Beziehung zu setzen. Die Kirche hat Erfahrung damit, die Gemeinsamkeit trotz innerer Pluralität zu bewahren und fruchtbar zu machen. Evangelikale Fehlentwicklungen in Richtung von Exklusivismus, Gesetzlichkeit und Fundamentalismus werden mit Recht in der Kirche kritisiert. Es ist eine Schwäche beider Seiten, dass sie häufig nicht erkennen, wie fruchtbar es ist, die Gemeinsamkeit zu bewahren, anstatt Feindbilder zu pflegen.

Ein sachgerechter Umgang mit der evangelikalen Bewegung vonseiten der evangelischen Kirche setzt allerdings die Fähigkeit voraus, in der Begegnung zu differenzieren. Pietismus, Freikirchen und Bekenntnisbewegung werfen unterschiedliche Fragen auf, auch wenn sie das Etikett „evangelikal“ verbindet. Zum Beispiel hat die Frage, welche Strömung in welcher Weise zur Teilhabe an einer innerprotestantischen Ökumene bereit und fähig ist, verschiedene Antworten. Die Frage muss auch umgekehrt gestellt werden: Inwieweit sind die „etablierten“ Szenen der evangelischen Kirche innerprotestantisch ökumenefähig und ökumenewillig? Diejenigen, die vom Feindbild „Evangelikalismus“ profitieren, sind es in der Regel nicht. Diejenigen, die sich nicht um das kümmern, was in Kirche und Gemeinden geglaubt und gelebt wird, sind es ebenso wenig. Diejenigen, denen es um die Menschen geht, suchen den Dialog und damit die innerprotestantische Ökumene.

Anmerkungen

  1. David W. Bebbington: Evangelicalism in Modern Britain. A History from the 1730s to the 1980s, London/New York 1989.
  2. Hansjörg Hemminger: Evangelikal. Von Gotteskindern und Rechthabern, Gießen 2016, 93.
  3. Der „International Council on Biblical Inerrancy“ (1978 – 1986) formulierte seine Position in drei Texten, die als Abgrenzung sowohl von der „liberalen“ Theologie als auch vom extremen Fundamentalismus verstanden wurden. Deutsch: Thomas Schirrmacher (Hg.): Bibeltreue in der Offensive. Die drei Chicago-Erklärungen zur biblischen Irrtumslosigkeit, Hermeneutik und Anwendung, Bonn 1993.
  4. Vgl. Hugh McLeod/Werner Ustorf (Hg.): The Decline of Christendom in Western Europe, 1750 – 2000, Cambridge 2003, 219.
  5. www.ead.de/nachrichten/nachrichten/einzelansicht/article/afd-ergebnis-ist-schock.html  (Abruf: April 2018)
  6. Zit. in: www.pro-medienmagazin.de/politik/2017/09/25/afd-ergebnis-ist-schock  (Abruf: Juni 2018).
  7. Zwei neue Buchpublikationen beschäftigen sich mit dem rechtskonservativen bis rechtsextremen christlichen Lager in Deutschland aus unterschiedlichen Perspektiven: Eine wertkonservative Kritik bietet Liane Bednarz: Die Angstprediger: Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern, München 2018. Aus sozialistischer, gesellschaftskritischer Perspektive schreibt Lucius Teidelbaum: Die christliche Rechte in Deutschland. Strukturen, Feindbilder, Allianzen, Münster 2018.
  8. Vgl. www.ead.de/nachrichten/nachrichten/einzelansicht/article/ehe-fuer-alle-eine-gewissensfrage.html  (Abruf: April 2018).
  9. Thorsten Dietz: Weiter glauben. Warum man einen großen Gott nicht klein denken kann, Moers 2018.
  10. http://biblipedia.de/2018/06/20/9088  (Abruf: Juni 2018).
  11. Vgl. www.zeit.de/2017/40/ulrich-parzany-kirche-kritik-ekd/seite-4  (Abruf: Juni 2018).
  12. Rolf Sons in „Theologische Orientierung“, 4.8.2016.
  13. Ralf Albrecht: Ein notwendiges Votum zur momentanen gesellschaftlichen Lage, in: Lebendige Gemeinde 1/2017, 10f, www.lebendige-gemeinde.de/fileadmin/main/data/zeitschrift/lg2017-1.pdf  (Abruf: Juni 2018).
  14. Dietrich Bonhoeffer. Dein Reich komme, hg. von Eberhard Bethge, Hamburg 1957, 6f.
  15. Zahlreiche Belege bei Andreas Malessa: Als Christ die AfD unterstützen? Ein Plädoyer für ..., Moers 2017.
  16. Vgl. auch Konrad Ege: Er scheidet die Geister. US-Präsident Trump ist auch für manche Evangelikale schwer erträglich, in: zeitzeichen 7/2018, 48-51.