Die evangelikale Bewegung und das Thema Religionsfreiheit
Bericht über den Kongress „Gedenket der Märtyrer“
Das Thema Religionsfreiheit beschäftigt nicht nur ökumenische Bewegungen, Menschenrechtsorganisationen und zahlreiche Freikirchen. Es ist auch in der evangelikalen Bewegung zu einem zentralen Thema geworden und macht deutlich, dass politische Optionen evangelikaler Kreise sich einer allzu pauschalen Links-Rechts-Schematisierung entziehen. Michael Hausin erläutert die Hintergründe dieses Vorgangs und berichtet über einen Kongress zum Thema Christenverfolgung, der im November 2009 von der Nachrichtenagentur „idea“ und dem Christlichen Gästezentrum Schönblick (Schwäbisch Gmünd) veranstaltet wurde. Seinen Bericht dokumentieren wir im Folgenden.
Das Thema Religionsfreiheit wird zunehmend bedeutender. Ein wichtiger Grund ist die Globalisierung. Was der Religionssoziologe Peter Berger in den 1980er Jahren für die westliche Welt feststellte, gilt heute global. Immer mehr Menschen haben Zugang zu Informationen über andere Religionen. Nahezu jeder Mensch erfährt, dass seine ihm vorgegebene Religion oder Tradition nicht die einzige ist. Er kann wählen – ein Moment der Freiheit.2 Religionswechsel werden zunehmen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist in dieser Frage eindeutig. Ausdrücklich wird festgestellt, dass zur Religionsfreiheit gehört, jederzeit seine angestammte Religion verlassen zu können. Das wird Aktivisten der etablierten Religionsvertreter nicht aufhalten, alles zu unternehmen, um Menschen am Verlassen ihrer Religion zu hindern. Mit Konversionen zusammenhängende Konflikte werden zunehmen.
Das Thema Religionsfreiheit ist in den letzten Jahren zu einem Hauptthema der evangelikalen Bewegung geworden. Ein Grund ist die enge Verflechtung gerade evangelikaler Missionen und Organisationen mit Gemeinden in der sogenannten Dritten Welt. Die politischen und sozialen Probleme dieser Länder wirkten zurück auf die Missionen und Missionare, die eigentlich auf einem konservativen Hintergrund gegründet wurden. Die Unterdrückung der Christen erregte Aufmerksamkeit und ließ Evangelikale politisch aktiv werden, wie sonst nur in der Auseinandersetzung um die Freigabe der Abtreibung. Christenverfolgung – das ist nicht nur ein Thema der Kirchengeschichte, sondern aktuell die Situation, in der sich viele Christen befinden.3 Der amerikanische Politikwissenschaftler Allen Hertzke behauptet, dadurch seien die Evangelikalen in ein Engagement für Menschenrechte und Gerechtigkeit hineingestellt, das man normalerweise eher von Kreisen erwarte, die als progressiv gelten. Er hält dies für eine erstaunliche Entwicklung.4
Die württembergische Landeskirche hat bereits 2007 beschlossen, den 26. Dezember als Gebetstag für verfolgte Christen einzuführen. Jährlich befasst sich die württembergische Landessynode mit der Lage verfolgter Christen in aller Welt. Die jüngsten Äußerungen des früheren Ratsvorsitzenden der EKD Wolfgang Huber und seiner Nachfolgerin Margot Käßmann zeigen, dass die Situation verfolgter Christen auch an der Spitze kirchlicher Verantwortungsträger ein Thema geworden ist.5 Jedes Jahr gibt der Arbeitskreis für Religionsfreiheit der Evangelischen Allianz (AKREF) ein Jahrbuch zur Christenverfolgung heraus und stellt den aktuellen Stand der Religionsfreiheit weltweit dar. Mittlerweile ist das ein Standardwerk in vielen Gemeinden zur Vorbereitung von Themenabenden oder Gebetstreffen. Immer bedeutsamer werden die von Gemeinden veranstalteten Gebetstage für verfolgte Christen, die sich zumeist am weltweiten Gebetstag für verfolgte Christen der Evangelischen Allianz ausrichten. Und das auflagenstarke Magazin „idea“ stellt jeden Monat einen christlichen „Gefangenen des Monats“ vor, für den zur Aktion aufgerufen wird.
Information, Austausch und Vernetzung
Einen bedeutenden Schritt, um das Thema Religionsfreiheit auch in der deutschen evangelikalen und kirchlichen Szene weiter zu verankern, stellt der Kongress „Gedenket der Märtyrer – Christenverfolgung heute” dar, der vom 22.–25. November 2009 im „Christlichen Gästezentrum Württemberg“ (Schönblick) in Schwäbisch Gmünd abgehalten wurde. Organisiert vom Gästehaus und von „idea“ informierten zehn Missionsgesellschaften über ihre Arbeit und die Lage verfolgter Christen in aller Welt.6 Die Schirmherrschaft hatte der württembergische Landesbischof Frank Otfried July übernommen. In seinem Grußwort kritisierte er die Unkenntnis der Medien in Bezug auf das Thema verfolgte Christen. Dass die Politik von dem Kongress Notiz nahm, zeigt das zweiseitige Grußwort des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Volker Kauder. Er schrieb u. a.: „Als Christen sind wir besonders gefragt, wenn es um das Leid unserer Glaubensbrüder geht. Wir sind mit ihnen in Jesus Christus verbunden.“
Mehr als 200 Teilnehmer aus ganz Deutschland, mit unterschiedlichem konfessionellem Hintergrund, nahmen an dem Kongress teil. Zu den Referenten gehörten u. a. der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, und Thomas Schirrmacher, Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit, außerdem Richard Howell, Generalsekretär der Evangelischen Allianz Indien, und Tony Lambert, ein früherer britischer Diplomat in Peking. Katholische Organisationen wurden nicht eingeladen. Wie Kuno Kallnbach, einer der Organisatoren, sagte, will man sich bemühen, diese bei einem möglichen Folgekongress zu beteiligen. Unter den Teilnehmern waren aber auch katholische Christen, ebenso wie Mitarbeiter der eingeladenen Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (Frankfurt).
Die Ziele der Veranstalter lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen: 1. sollten möglichst viele Organisationen, die bereits jahrelang für verfolgte Christen arbeiten, an einen Ort zum Austausch zusammengebracht werden, 2. war beabsichtigt, die Teilnehmer umfassend über verfolgte Christen zu informieren, 3. wollte man die Möglichkeit bieten, dass Teilnehmer und Organisatoren sich begegnen, Kontakte knüpfen, sich vernetzen, um in der Zukunft für die verfolgte Gemeinde effektiv arbeiten zu können, 4. sollte das Thema in die Gemeinden getragen werden, damit es vor Ort ein beachtetes Thema wird, 5. sollte ein Zeichen an die politische Welt ausgehen, damit sie sich des Themas annimmt und entsprechende Hilfen leistet.
Thomas Schirrmacher eröffnete den Kongress mit einem Vortrag über den „aktuellen Stand des Kampfes für Religionsfreiheit“. Nach seiner Meinung ist der Einsatz für Religionsfreiheit zurzeit sehr wirkungsvoll. Das liege daran, dass sowohl politisch Verantwortliche als auch eine weltweite Öffentlichkeit dieses Freiheitsrecht als wichtig und bedeutungsvoll betrachteten. Auch die Evangelikalen sollten sich für umfassende Religionsfreiheit, auch für Nichtchristen, einsetzen. Die Frage, ob eine religiöse Ansicht wahr oder falsch sei, habe mit der Gewährung von Religionsfreiheit nichts zu tun.
Helmut Matthies, Chefredakteur von „idea“, stellte fest, dass es in Deutschland keinen besseren Zeitpunkt gebe, um für Religionsfreiheit zu kämpfen. Erstens sei Deutschland seit 20 Jahren dank der Wiedervereinigung erstmals ein wirklich freies Land, zweitens sei das Interesse in Presse und Öffentlichkeit am Thema Religionsfreiheit nie so groß gewesen.
Günter Nooke machte in seinem Vortrag deutlich, dass Religion nach allen internationalen Vereinbarungen eben keine Privatangelegenheit sei. Es gebe das Recht, seine Religion öffentlich zu leben. „Es mag unklug und unangemessen sein, in islamischen Ländern, wie z. B. im Jemen, von seinem christlichen Glauben öffentlich zu sprechen. Das setzt aber noch lange nicht die ins Unrecht, die dieses elementare Menschenrecht für sich in Anspruch nehmen.“ Nooke gehörte in der DDR selbst zu einer christlichen Gruppe und erlebte Diskriminierung am eigenen Leib. Er beklagte das Unverständnis des Westens dafür, was Religion bedeutet. „Kaum einen scheint die Verteidigung des vollen Rechts auf Glaubensfreiheit so wichtig zu sein, dass er dafür bereit wäre, größere Konflikte in Kauf zu nehmen.“
Erfahrungsberichte und Podiumsdiskussionen gaben den Teilnehmern einen umfassenden Blick auf die Situation von Christen in Indien, Nigeria, Indonesien, China, Sudan, Pakistan and Irak. Die Berichte zeigten die ganze Bandbreite an Gefahren, denen Christen ausgesetzt sind – beginnend mit Diffamierungen, übergehend in Diskriminierung bis hin zur brutalen Verfolgung. Die Redner stellten die Lage der Christen in einzelnen Ländern dar, zeigten aber nicht nur die Probleme. Sie konnten in einigen Ländern von großem Interesse am christlichen Glauben sprechen – trotz oder gerade wegen der Verfolgung. Auch Hilfsprojekte für betroffene Christen wurden vorgestellt.
Aufruf zur Religionsfreiheit verabschiedet
Der Kongress verabschiedete einen Aufruf zur Religionsfreiheit7, der an alle Abgeordneten des Bundestags, verschiedene Ministerien und kirchliche Institutionen verschickt werden sollte. Die Teilnehmer und Organisatoren stimmten darin überein, dass der „Schutz der Religionsfreiheit eine wesentliche Grundlage für unser menschenwürdiges Zusammenleben und die friedliche Koexistenz von Staaten (ist). Die Gewährung von Glaubens- und Gewissensfreiheit trägt dazu bei, den ‚Kampf der Kulturen’ zu entschärfen“ (Einleitung des Aufrufs).
In fünf „Bekräftigungen” dankt der Aufruf der Bundesregierung dafür, dass sie der Religionsfreiheit in den letzten Jahren einen großen Stellenwert beigemessen habe. Besonders hervorgehoben wird ein Beschluss des Bundestages vom 31.7.2007, in dem zur „Solidarität mit verfolgten Christen und anderen verfolgten Minderheiten” aufgerufen wird. Das sei ein „weltweit einzigartiges Dokument“. Im fünften Punkt wird der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung vom Oktober 2009 ausdrücklich gelobt, weil er vorsieht, sich im Rahmen der Menschenrechtspolitik in den kommenden vier Jahren für die Rechte unterdrückter Christen einzusetzen.
In zwei „Positionen“ bekräftigen die Teilnehmer ihre Solidarität mit allen verfolgten Christen. Sie betonen, dass alle gewachsenen Kulturen in den verschiedenen Religionen respektiert werden. „Wir sind davon überzeugt, dass individuelle Religionsfreiheit einschließlich der ungehinderten Möglichkeit des Religionswechsels eine wesentliche Voraussetzung für das menschenwürdige Zusammenleben aller und die friedliche Koexistenz von Staaten und Völkern ist.“
Schließlich gibt es noch drei „Aufforderungen” an die Bundesregierung. Zuerst wird die Regierung ermutigt, ihre „Bemühungen zur Wahrung von Menschenrechten im internationalen Kontext weiter zu stärken“. Der „Wechsel zum Christentum muss wie jeder andere Religionswechsel überall auf der Welt gefahrlos möglich sein“. Dann wird gefordert, „Verletzungen des Rechts auf Religionswechsel in allen Ländern zu dokumentieren und zu überprüfen“. Drittens fordert der Aufruf, einen jährlichen Bericht zum Stand der Religionsfreiheit weltweit anzufertigen, ähnlich wie ihn das Außenministerium der USA bereits vorlegt.
Günter Nooke sagte auf der anschließenden Pressekonferenz, dass er den Aufruf sehr begrüße und dieser die Arbeit der Regierung stärken könne. Der Vizedirektor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit der Weltweiten Evangelischen Allianz, Christof Sauer, lobte die Resolution ausdrücklich: „Selten werden so differenzierte und konkrete Vorschläge gemacht.“ Die Resolution hat in Wort und Anspruch das rechte Maß gefunden. Sie enthält keine steilen Forderungen oder selbstgerechten Anschuldigungen und hat die Chance, von Vertretern verschiedener politischer Parteien aufgegriffen zu werden. Hier ist auch wieder das breite Bündnis von Organisationen ein Vorteil.
Resonanz auf den Kongress
Ein wichtiges Zeichen des Kongresses liegt sicher darin, dass es gelungen ist, evangelikale Christen, „Mainstream-Protestanten“ und (säkulare) Politiker zusammenzubringen, um gemeinsam für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit einzutreten.8 Unabhängig von ihrem jeweiligen theologischen oder ideologischen Hintergrund konnten sie sich darauf einigen, dass Religionsfreiheit ein Recht ist, das jeder Person zusteht. „Die Zusammenkunft verschiedener Werke auf ganz breiter Ebene, wo es um die Sache geht, und nicht um die Selbstdarstellung einzelner Werke“, hält Paul Murdoch, Vorsitzender des Arbeitskreises Religionsfreiheit der Evangelischen Allianz, für das wichtigste Zeichen des Kongresses. Er ist auch zuversichtlich, dass die Politik das Thema aufnimmt. Seine eigenen Gespräche, u. a. im Kanzleramt, ermutigen ihn. Paul Murdoch empfiehlt allen Evangelischen Allianzen in anderen Ländern die Gestaltung eines solchen Kongresses.
Thomas Schirrmacher stellte nach dem Kongress fest: „Wir haben unterschiedliche Traditionsgeschichten, unterschiedliche Theologieansätze und auch verschiedene Vorgehensweisen in unserer Arbeit für verfolgte Christen. In der Außenwirkung müssen wir aber dahin kommen, dass wir einheitlicher sprechen. Der Politik und den Kirchen gegenüber sind wir zusammen stärker als wenn nur ein Einzelwerk auftritt. Die Vorbehalte gegen einzelne Werke schwinden, wenn ein ganzes Aktionsbündnis auftritt.“
Die Medienresonanz auf den Kongress war eher bescheiden. Natürlich berichtete „idea“, und auch die sich selbst als konservativ beschreibende Wochenzeitung „Junge Freiheit“ informierte ihre Leser über den Verlauf der Veranstaltung. Das lokale Fernsehen, der SWR, brachte einen 30 Sekunden dauernden Bericht, und Idea-Fernsehen sendete einen drei Minuten langen Beitrag. Daneben schaffte es der Kongress in zwei Regionalzeitungen, die Rems-Zeitung und die Gmünder Tagespost. Für die überregionale Tagespresse war niemand vor Ort.9 Alle Pressemeldungen äußern sich positiv zum Kongress und dem Anliegen. Der weitgehend evangelikal organisierte Kongress genoss auch Vertrauen, weil Günter Nooke, ein ehemaliger Dissident in der DDR, anwesend war und weil der Oberbürgermeister von Schwäbisch Gmünd, Richard Arnold, die Kongressteilnehmer persönlich mit einer Ansprache begrüßte.
Fazit
Der Kongress zeigt, dass die im amerikanischen Evangelikalismus entwickelten politischen Aktionen in Deutschland angekommen sind. Gerade die deutschen Evangelikalen tragen schwer an ihrer pietistischen Tradition, die „Stillen im Lande“ zu sein und sich um das Seelenheil zu kümmern, dabei aber soziale und politische Fragen zu ignorieren. Dieses Bild trifft aber in Vergangenheit und Gegenwart nur auf einen Teil der Evangelikalen zu. Ein Kennzeichen evangelikaler Frömmigkeit ist das Schwanken zwischen Weltzuwendung und Weltabwendung, dem Lavieren zwischen Gemeinde und Welt, ja zwischen Weltveränderung und Weltflucht. So lange sie sehen, dass bestimmte Prinzipien von Humanität, Gerechtigkeit und Freiheit eingehalten werden, treten sie ruhig auf. Wo diese Prinzipien missachtet werden, sind Evangelikale aber zu erstaunlich radikaler Kritik fähig. Das trifft besonders in der Bewertung von Regierungen zu, die Religionsfreiheit nicht gewähren wollen.
Evangelikales Christsein disponiert nicht von vornherein ein politisches Engagement oder Disengagement. Beide Verhaltensweisen sind Optionen, die je nach Umständen entsprechend genutzt werden. Der Mobilisierungsgrad der deutschen Evangelikalen ist dabei, sich zu verändern. Dass zur Erreichung politischer Ziele die Kräfte gebündelt werden müssen, veranlasste sie, den Konsens untereinander zu suchen, um sich Gehör zu verschaffen. Klagen allein führt nicht dazu, dass sich politisch Verantwortliche bewegen. Das mussten deutsche Evangelikale in den 1970er und 1980er Jahren leidvoll erfahren. In den zahlreichen Neugründungen explizit politischer Organisationen durch Evangelikale seit Ende der 1980er Jahre zeigt sich das gewachsene Bewusstsein, dass nur durch schlagkräftige Verbände in einer pluralistischen Demokratie überhaupt etwas erreicht werden kann. Zugleich sehen wir darin einen Bewusstseinswandel der Evangelikalen, die immer in Gefahr stehen, jeden politischen Status quo hinzunehmen, so lange nur die eigene private Religionsausübung gesichert ist. Durch eine politisch-gesellschaftliche Agitation zeigen sie, dass auch sie die Gesellschaft grundsätzlich für gestaltbar halten, indem auf ihre Grundstrukturen oder auf die vielen Individuen eingewirkt wird. Ebenfalls gibt es seit dieser Zeit organisierte Proteste gegen bestimmte politische Entwicklungen.10 Helmut Matthies, Chefredakteur von „idea“, hofft, dass der Kongress die Gemeinden aktiviert, im Gebet und im Protest.
Nachdem sich Evangelikale lange Zeit nur mit den „leichten Themen“ wie Abtreibung oder Familienpolitik beschäftigten, öffnen sie sich mit der Religionsfreiheit einem Bereich, der eigentlich ihrer Tradition entspricht. Bereits kurz nach der Gründung der Evangelischen Allianz reisten deren Vertreter zum Sultan des Osmanischen Reiches, um für die Christen dort Religionsfreiheit zu erreichen. Wohlgemerkt, nicht für die kaum vorhandenen Protestanten, sondern für die orthodoxen Christen. In Deutschland kämpfte die Allianz für die Rechte der Freikirchen, die z. T. rechtlich und gesellschaftlich schlechter gestellt waren als die Mitglieder der evangelischen Staatskirchen. Der Einsatz für Religionsfreiheit ist den Evangelikalen nicht fremd. Und es ist kein Wunder, dass ein „Proto-Evangelikaler“ wie Roger Williams, der Gründer des Bundesstaates Rhode Island, erstmals 1663 eine Verfassung vorlegte, die vollständige Religionsfreiheit garantierte.11
Durch ihre internationalen Beziehungen stehen Evangelikale unmittelbar mit verfolgten Christen in Verbindung. Der Hilfseinsatz für ihre Geschwister öffnete ihnen erneut den Blick für die Bedeutung der Religionsfreiheit. Bemerkenswerterweise blieb ihr Einsatz für die verfolgten Christen nicht bei der eigenen Glaubensgruppe stehen. Evangelikale gehören heute zu den stärksten Befürwortern der Religionsfreiheit überhaupt. Ihr Bild vom Menschen als geschaffene, verantwortliche Persönlichkeit erfordert es, dass jeder frei, ungehindert einen Glauben in seinem Herzen aufnimmt – auch einen falschen. Mit ihrem Einsatz für umfassende Religionsfreiheit entziehen sich die Evangelikalen einer einfachen Rechts-Links-Schematisierung.
Offensichtlich widerspricht das evangelikale Eintreten für individuelle Religionsfreiheit den gängigen Vorurteilen gewisser Kreise, die versuchen, „die evangelikale Bewegung zum Feindbild aufzubauen“ und „gesellschaftlich zu ächten“.12 Ihr Engagement in der Menschenrechtsfrage macht sie anschlussfähig an unterschiedliche politische Parteien und Bewegungen. Allen Hertzke stellt fest, die evangelikale Bewegung fülle mit ihrem Einsatz für Religionsfreiheit eine Lücke im Kampf für Menschenrechte aus, indem sie ein Anliegen aufgreife, das bisher von Menschenrechtsgruppen, den Medien und der Außenpolitik nicht ausreichend wahrgenommen worden sei.13
Michael Hausin, Uhldingen-Mühlhofen
Anmerkungen
1 22.–25. November 2009 in Schwäbisch Gmünd. Thema: „Gedenket der Märtyrer – Christenverfolgung heute“. Darstellung und Würdigung des Kongresses in Michael Hausin / Christof Sauer, Uniting in Advocacy: Reflections on the Schwäbisch Gmünd Congress 2009, in: International Journal for Religious Freedom 1/2010, 103-117.
2 Vgl. Peter L. Berger, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg i. Br., 1992.
3 Der Pressesprecher des Evangelisch-Lutherischen Missionswerkes in Niedersachsen warnt in der Zeitschrift „Eine Welt”, den Begriff Christenverfolgung zu leichtfertig anzuwenden. Hinter den Angriffen auf Christen stünden meistens andere Motive als der Hass auf ihre Religion. Christenverfolgung sei eher in sozialen und kulturellen Konflikten zu finden, nicht in religiösen. Klaus Hampe, Angst führt zu Gewalt, in: Eine Welt 6/2009, 2-7.
4 Vgl. Allen D. Hertzke, Freeing God’s Children. The Unlikely Alliance for Global Human Rights, Lanham 2004, 4.
5 Siehe Wolfgang Huber in: Chrismon 11/2009; Margot Käßmann in einer EKD-Pressemitteilung vom 3.12.2009.
6 Hilfsaktion Märtyrerkirche (HMK), Open Doors (OD), Licht im Osten (LiO), Evangelische Karmelmission, Arbeitskreis Religionsfreiheit der Evangelischen Allianz (AKREF), Christlicher Medienverbund kep, Christian Solidarity International (CSI), Overseas Missionary Fellowship (OMF), Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), International Institute for Religious Freedom (IIRF). Der Kongress kam auf Initiative von Rolf Sauerzapf and Manfred Mueller, Vorsitzender bzw. Missionsleiter der Hilfsaktion Märtyrerkirche (HMK), zustande.
7 www.aufruf-religionsfreiheit.de/deklaration.html.
8 Vgl. dazu Allen D. Hertzke, Freeing God’s Children, a.a.O., 29: „That is why religious mobilization is potentially so momentous; it produces a new human rights constituency acknowledged and even celebrated by secular activists.”
9 Zu der Beobachtung, dass das Thema in den Medien immer noch unterrepräsentiert ist, vgl. Michael Hausin / Christof Sauer, a.a.O., 112: „While the mainstream media no longer ignore the persecution of Christians, it is still under-reported. It seems to feature mainly in connection rather than in regular coverage on religious persecution itself.”
10 Vgl. auch Allen D. Hertzke, Freeing God’s Children, a.a.O., 29.
11 Vgl. Edwin Gaustad, A Religious History of America, New York 1974, 66.
12 Hansjörg Hemminger, Feindbild Evangelikale, in: MD 8/2009, 283. Vgl. die Filmbeiträge: Jesus’ junge Garde, 2005; Die Hardliner des Herrn, 2007; zuletzt einen Beitrag im Politikmagazin Frontal 21, in dem evangelikale Missionare mit islamistischen Attentätern gleichgesetzt wurden; außerdem das Buch von Oda Lambrecht und Christian Baars, Mission Gottesreich, Berlin 2009. Zur nüchternen Differenzierung in Bezug auf die evangelikale Bewegung rief Reinhard Hempelmann auf: Evangelikalismus ist nicht Fundamentalismus, in: MD 7/2008, 243f.
13 Vgl. Allen D. Hertzke, Freeing God’s Children, a.a.O., 5.