Jürgen Mette

Die Evangelikalen. Weder einzig noch artig. Eine biografisch-theologische Innenansicht

Jürgen Mette: Die Evangelikalen. Weder einzig noch artig. Eine biografisch-theologische Innenansicht, Gerth Medien, Aßlar 2019, 256 Seiten, 18,00 Euro.

Jürgen Mette wurde in der evangelikalen Bewegung als Evangelist, Gemeinde- und Lehrbeauftragter, als geschäftsführender Vorsitzender der Stiftung Marburger Medien und als Mitglied des Hauptvorstands der Deutschen Evangelischen Allianz bekannt. Er beschreibt sich selbst als „Mainstream-Evangelikalen“, als einen „lutherisch getauften, freikirchlich ‚konfirmierten‘, freiheitsliebenden, charismatisch-konservativen Protestpietist“ (28). Vor dem Hintergrund dieser Selbstverortung hat er ein wohlwollend kritisches Buch über die Evangelikalen geschrieben, das nicht als objektive Analyse, sondern als Diagnose aus der Binnenperspektive verfasst ist.

Mettes „biografisch-theologische Innenansicht“ geht von einer hausgemachten Krise der evangelikalen Bewegung aus (73). Für Mette besteht diese Krise vor allem in der Fragmentierung der Evangelikalen, die Flügelkämpfe und Brüche hervorrufe und in eine fortwährende Selbstbeschäftigung münde. Dies gelte vor allem für die Spaltung von Allianz-Evangelikalen und Bekenntnis-Evangelikalen (204). Die Allianz-Evangelikalen, zu denen Mette sich selber zählen dürfte, beschreibt er als Brückenbauer, die theologisch differenziert argumentieren und in der missionarischen Praxis engagiert sind. Die Bekenntnis-Evangelikalen charakterisiert er hingegen zwar ebenfalls als missionarisch aktiv, aber auch als traditionell, bibelfest, endzeitlich besorgt und antiökumenisch (39). Die Bekenntnis-Evangelikalen seien eine wachsende Gruppe, was Mette vor allem durch den Zuzug vieler russlanddeutscher Christen begründet.

Als Kernthemen des innerevangelikalen Richtungsstreits bestimmt Mette das Bibelverständnis und den Umgang mit Homosexualität. Er erläutert diese beiden Aspekte und reichert sie mit eigenen Erfahrungen und persönlichen Entwicklungsprozessen an. Hierbei zeigt er auf, dass in der evangelikalen Bewegung Begriffe wie „modern“ und „Bibelkritik“ als Gegenspieler zur „Bibeltreue“ interpretiert werden. Unter denen, die die Bibel wörtlich verstehen, gelte die historisch-kritische Exegese als „Krebsschaden der Kirche“. Mette plädiert dafür, dass die Evangelikalen diese feindselige und hochmütige Haltung ablegen. Nicht jeder Zugang zur Bibel, der nicht aus der eigenen Bewegung komme, dürfe pauschal zurückgewiesen werden (84).

Als ein weiteres Schlüsselthema hebt Mette „Homosexualität“ hervor und kritisiert insbesondere, dass dieser Themenbereich „vehement und medienwirksam in der Öffentlichkeit“ und nicht in dem vertraulichen Rahmen der Seelsorge verhandelt werde (87). Zudem weist er die Parole „Hauptsache nicht schwul oder lesbisch“, die unter Evangelikalen verbreitet sei und häufig als wichtigster Bewertungsmaßstab für den sozialen Umgang in der Gemeinde herangezogen werde, als „scheinheilig“ zurück (90). Aufgrund seiner Erfahrungen sieht er Chancen für eine Neubewertung von Homosexualität in der evangelikalen Bewegung nicht in theoretischen Erörterungen begründet, sondern in persönlichen Erfahrungen und Entwicklungen.

Mette formuliert in seinem Buch das Plädoyer, harte und hartherzige Frontenbildungen in der Kirche zu vermeiden – wobei er unter Kirche „die Gesamtheit der Jesus-Leute“ versteht (53). Die Separation entlang der Pole links/rechts, liberal/konservativ, modern/traditionell müsse überwunden werden (66). Dafür fordert Mette eine Konzentration auf Gnade und Versöhnung (53) sowie die Bereitschaft zur Einheit des Leibes Christi (59). Sein Augenmerk auf Gnade und Barmherzigkeit liegt für Mette im Profil der Kirchen begründet: „Wenn eine Kirche, die sich auf Jesus Christus bezieht, nicht eine Zuflucht der Barmherzigkeit und Gnade ist und wird, … dann bleibt sie nur eine religiös motivierte gemeinnützig-mildtätige Institution des Friedens, der Gerechtigkeit, der Umwelt, der Bildung, der Nothilfe, des Sozialen und des feingeistig Guten. Das alles bringen auch Humanisten und Atheisten zuwege. Ohne Gott. Ohne ein heiliges Buch. Ohne Kirche“ (204).

Mettes Buch lässt sich als Gesprächsimpuls auf dem Weg innerchristlicher Annäherung verstehen. Er will damit eine lernende Kirche anregen, die ihre unterschiedlichen Akzente wahrnimmt und gesprächsfähig macht. Einen praktischen Ansatz für eine solche Verständigung entwickelt er in seinem Buch durch Interviews und Gastkommentare von Wolfgang Bühne, Thorsten Dietz, Michael Diener, Ulrich Fischer, Andreas Heiser, Tobias Faix, Heinrich Derksen und Gisa Bauer. Wie der Rest des Buches ist auch dieser Teil von persönlichen Beobachtungen und Begegnungen geprägt. Durch diese autobiografischen Zugänge gewinnen Mettes Ausführungen an Konkretion und Glaubwürdigkeit. Allerdings werden sie von Redundanzen und einer geringen fachlichen Tiefenschärfe begleitet, die den theologisch interessierten Leser enttäuschen dürften. Das Buch ist kein akademisches Fachbuch und erhebt diesen Anspruch auch nicht. Es ist eine persönliche Darstellung eines Evangelikalen über seinen Konflikt mit der evangelikalen Bewegung und über Ideen zum Aufbruch. Mette verfolgt in seinem Buch eine wichtige und mutige Idee, der es aber an einigen Stellen an Tiefe und Stringenz mangelt. So enttäuscht es beispielsweise, dass er das evangelikale Verhältnis zur Politik nur andeutet und seine Einschätzung dazu nicht klarer ausführt. Dies gilt vor allem für die Frage, ob die Evangelikalen gegenwärtig eher unpolitisch sind oder ob sie ein nicht unerhebliches Wählerpotenzial für rechtspopulistische Parteien darstellen und wie sich diese Frage zu dem Richtungsstreit der Allianz-Evangelikalen und der Bekenntnis-Evangelikalen verhält. Hier hätte man sich eine detailliertere Darstellung gewünscht.

Mettes Ansätze, vor allem seine Kritik an den Evangelikalen, wurden einer breiteren Öffentlichkeit insbesondere durch das ARD Radio-Feature „Befehlsempfänger Gottes. Über evangelikalen Einfluss in Kirche und Politik“ bekannt. Seine Einschätzungen zur evangelikalen Bewegung haben unter Evangelikalen starke Kritik hervorgerufen. In Stellungnahmen wird Abstand zu Mettes Positionen genommen sowie Unverständnis und Enttäuschung über seine Perspektive artikuliert. Diese Abwehrreaktionen bestätigen zum einen die Dissonanzen der evangelikalen Bewegung, wie sie Mette in seinem Buch aufzeigt, und machen zugleich die Notwendigkeit der Begegnung und Verständigung deutlich. Allerdings erwecken die Form und der Stil der Kritik Zweifel daran, dass Mettes Plädoyer für die Konzentration des Christentums auf Gnade und Barmherzigkeit wirklich Konsens in der evangelikalen Bewegung ist.


Hanna Fülling