Götz Brakel

„Die Gerettete Familie, das Rettende Rezept und der Heilige Meister“. Jugendreligionen und Islamismus

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Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um die gekürzte Version eines Aufsatzes, der im Zusammenhang mit dem EZW-Curriculum Religions- und Weltanschauungsfragen entstanden ist. Er geht von der Beobachtung aus, dass Radikalisierung in salafistischen Milieus vor allem junge Menschen anspricht, und fragt, ob das Konzept der „Jugendreligionen“, das in früheren Kontexten intensiv diskutierter Radikalisierungserfahrungen und Präventionsanstrengungen geprägt wurde, einen Erkenntnisgewinn für heute austragen könnte. Eingeführt hat den Begriff „Jugendreligionen“ (in Abgrenzung zum Begriff „Sekten“/„Jugendsekten“) 1974 der Pfarrer Friedrich-Wilhelm Haack (1935 – 1991), ab 1969 hauptamtlicher Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, vor dem Hintergrund verstärkt auftretender neureligiöser Bewegungen in den USA und Europa. Haack war von den Ambivalenzen des Religionsbegriffs überzeugt (gegen „einwertige“ Deutungen – gut oder böse, heilsam oder schädlich) und plädierte für einen „tatkräftigen Einsatz für die wirkliche religiöse Freiheit“. Er hat nicht zuletzt durch seine Publizistik weit über die Grenzen Bayerns hinaus die Apologetik der evangelischen Kirche in Deutschland mitgeprägt. Zweifellos hat er auch polarisiert, durch seine unverwechselbare Linie aber weiterführende Fragen nach der angemessenen Gestalt apologetischer Arbeit provoziert.

Die „Gerettete Familie“, das „Rettende Rezept“ und der „Heilige Meister“ sind Kernbegriffe, mit denen Friedrich-Wilhelm Haack die Jugendreligionen seiner Zeit charakterisierte. Haack war Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern; 1979 erschien die erste Auflage seines Klassikers der Weltanschauungsliteratur „Jugendreligionen. Ursachen, Trends, Reaktionen“.1  Darin kondensieren sich Erfahrungen der 1970er Jahre, vor allem aus der zweiten Hälfte. Gruppen wie die Hare-Krishna-Bewegung (ISKCON), die Bhagwan/Osho-Bewegung oder die Vereinigungskirche des Koreaners Sun Myung Moon, die zuerst von Haack „Jugendreligionen“ genannt wurden, waren in den Fußgängerzonen der Städte präsent und sprachen Passanten an.

Heute spielen diese Gruppen eine weitaus geringere Rolle, aber die Radikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in islamistischen Kontexten fordert unsere Gesellschaft heraus. Kann Haacks Werk aus der Perspektive der 1970er Jahre etwas zum Verständnis beitragen? Zunächst lässt es Parallelen erkennen und schärft unseren Blick für anthropologische und gesellschaftliche Konstanten. Gleichzeitig tritt durch den Vergleich mit den Jugendreligionen das Neue der Radikalisierung in islamistischen Kontexten deutlicher hervor, und es werden Impulse dafür gegeben, wo auch neue Wege des Umgangs mit religiöser Radikalisierung gefunden werden müssen.2

„Jugendreligionen“ wiedergelesen

Die späten 1970er Jahre waren eine Umbruchsituation. Der Impuls der Studentenbewegung von 1968 war in die Jahre gekommen. Der Deutsche Herbst mit dem Terrorismus der RAF hatte die Gesellschaft erschüttert. Die „alternative Bewegung“ kam auf. Anfang der 1980er Jahre wurden die ersten Grünen Listen in die Parlamente gewählt.

Im Nachwort zu der von Jürgen Habermas 1979 herausgegebenen Aufsatzsammlung „Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘“ schreibt Günther Busch: „Die hochgespannten Erwartungen der Protestbewegung haben sich wundgescheuert an der Alltagserfahrung … [Die Herrschaftsapparate] überziehen das Leben der Individuen mit engmaschigen Funktionszuweisungen. Doch Funktionszuweisungen sind keine Sinnangebote; sie schaffen oder verdichten Abhängigkeit, nicht freiwillige Bindung ... Und genau hier liegen hochentzündliche Krisenpunkte.“3  In diesem gesellschaftlichen Kontext sind die Jugendreligionen groß geworden.

Mit der Wortwahl Jugendreligionen begegnet Haack (7ff) dem Phänomen erst einmal neutral; Religion ist für ihn ein wertfreier Begriff. Er zählt die Merkmale auf: das Alter (die „15- bis 25jährigen, wobei die über 18jährigen in der Überzahl sind“), die soziale Schicht, nämlich „die geistig beweglicheren und interessierten Jugendlichen des Mittelstandes“, es gibt einen Gründer als Führungsfigur, „strenge Lebensgemeinschaften“. Außerdem „wirken [sie] ungeheuer anziehend auf Jugendliche, die sich zur Zeit des Kontaktes mit der Gruppe in einer schwierigen seelischen Lage befinden“ (23).

Schließlich bündelt er das Phänomen in drei Kernbegriffe. Kennzeichnend für die Jugendreligionen sind: „die Gerettete Familie, das Rettende Rezept und der Heilige Meister“ (23). Der Heilige Meister ist beispielsweise Maharishi Mahesh Yogi oder Sun Myung Moon. Die Vollmacht des Meisters leitet sich daraus ab, dass er ein „Rettendes Rezept“ parat hat. Nebenbei bemerkt: Kulte mit Frauen als Führungsperson tauchen in Haacks Buch nicht auf und scheinen damals wie heute eher eine marginale Rolle zu spielen.

Die Jugendlichen stoßen aber meist nicht über die Beschäftigung mit dem „Rettenden Rezept“ zur Gruppe, sondern über persönliche Begegnungen mit Anhängern, die „Geborgenheit, Selbstsicherheit, Zielbewußtsein“ (30) ausstrahlen. Wer die 1970er Jahre erlebt hat, wird sich z. B. an die missionierenden Krishna-Jünger und -jüngerinnen in den Fußgängerzonen in Westdeutschland erinnern. Die Gruppen, das sind die „Geretteten Familien“. Sie bieten Geborgenheit für die, die das „Rettende Rezept“ akzeptieren. Meist steht ein dualistisches Weltbild dahinter: „‚Drinnen‘ ist Rettung, Heil, Ordnung, Frieden, Leben und Zukunft. ‚Draußen‘ ist Chaos, Tod, Unheil, Haß, Kriminalität, Unmoral und Untergang. ‚Draußen ist das ‚System‘“ (31). Dieser Dualismus begegnet uns bei der Beschäftigung mit dem Islamismus wieder.

Die Jugendlichen werden über persönliche Kontakte gewonnen. Es sind Gleichaltrige, die nicht schematisch missionieren, sondern die Jugendlichen ansprechen und sie in die „Gerettete Familie“ hineinnehmen. Haack zitiert einen Jugendlichen: „Es waren einige junge Menschen da, von denen ich glaubte, sie würden mich verstehen, was ich vorher nicht kannte“ (34). Wenn die Jugendlichen in die Gruppe hineingekommen sind, werden sie in ein System eingegliedert, das streng hierarchisch geordnet ist, in dem der Führer oder Guru absolute (Lehr-)Autorität genießt, und es werden ihnen Entscheidungen und auch Opfer abverlangt (vgl. 35-37).

Die Wesensveränderungen, die mit dem Anschluss an eine Jugendreligion einhergeht, bezeichnet Haack als „Psychomutation“, eine „erzwungene Persönlichkeitsverwandlung“ (42ff). Die eigene Existenz wird der Autorität des Führers untergeordnet, seine Weltsicht kritiklos übernommen. Man hält sich zunehmend nur in der eigenen Gruppe auf – eine Art „Festungskomplex“. Eine solche Entscheidung kann sehr plötzlich getroffen werden, und danach wird die Fähigkeit entwickelt, andere „mit der eigenen ausschließlichen Gewißheit anzustecken und zu verändern“ (42f).

Haack analysiert die Ursachen. „Die Jugendreligionen sind eine religiöse Manifestation der Gesellschaft in der Technischen Zivilisation.“ Ferner: „Sie … sind in gewisser Weise Antwort auf sie.“ Lesen Sie weiter im Materialdienst.


Götz Brakel


Anmerkungen

1  Mir liegt die 2. Auflage von 1980 vor. Die im Folgenden im Text in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese Auflage.
2  Dieser Artikel basiert auf einer Arbeit, die im Januar 2017 im Rahmen des EZW-Curriculums Religions- und Weltanschauungsfragen II geschrieben wurde. Seitdem hat das Thema nichts an Brisanz verloren.
3  Günther Busch: Statt eines Nachworts.