Die „Giordano Bruno Stiftung“ und der neue Atheismus
Am 13. Oktober 2010 erscheint bei Ullstein die deutschsprachige Übersetzung von Richard Dawkins’ „The Greatest Show on Earth“ (deutsch „Die Schöpfungslüge. Warum Darwin Recht hat“). Wenige Tage später wird der Autor in Mülheim sein Buch vorstellen. Die Lesung ist eine gemeinsame Veranstaltung des Literaturbüros Ruhr in Kooperation mit der „Giordano Bruno Stiftung“. Diese Stiftung hatte Dawkins im Herbst 2007 mit dem sogenannten Deschner-Preis ausgezeichnet. Damit würdigte man die Leistungen des Oxforder Wissenschaftlers um den Atheismus. In der Urkunde hieß es, er habe „in herausragender Weise zur Stärkung des säkularen, wissenschaftlichen und humanistischen Denkens beigetragen“. Dawkins’ jüngstes Werk beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen Begründung der Evolutionstheorie. Allein die polemische und ungenaue Übersetzung des englischen Titels lässt jedoch erwarten, dass mit religions- und kirchenkritischen Bemerkungen im Umfeld der Buchpräsentation nicht gespart werden wird. Deshalb nimmt der frühere EZW-Referent Andreas Fincke am Beispiel der Aktivitäten der Giordano Bruno Stiftung eine kritische Bestandsaufnahme zum sogenannten „neuen Atheismus“ vor.
Neuer Atheismus
Immer wieder ist in den letzten Jahren vom sogenannten „neuen Atheismus“ die Rede. Als wichtigste Vertreter werden zumeist die englischsprachigen Autoren und Religionskritiker Richard Dawkins, Sam Harris, Daniel Dennett und Christopher Hitchens genannt. Ihre religionskritischen Bücher erschienen während der zweiten Amtszeit des US-Präsidenten George W. Bush (2005-2009) mit kurzem Abstand auf den Bestsellerlisten. Den Auftakt machte 2004 der Neurobiologe Sam Harris mit „The End of Faith“ (deutsch „Das Ende des Glaubens“, 2007). Zwei Jahre später kamen fast zeitgleich auf den englischsprachigen Markt: Richard Dawkins’ „The God Delusion“ (deutsch „Der Gotteswahn“, 2007) sowie das Buch des Philosophen Daniel Dennett „Breaking the Spell – Religion as a Natural Phenomenon“ (deutsch „Den Bann brechen – Religion als natürliches Phänomen“, 2008). Im Jahre 2007 schließlich veröffentlichte der angesehene Journalist Christopher Hitchens seine polemische Abrechnung unter dem Titel „God is not Great – How Religion Poisons Everything“ (deutsch „Der Herr ist kein Hirte – Wie Religion die Welt vergiftet“, 2007). Alle Bücher erreichten hohe Auflagen und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Sie riefen überall ein breites Medienecho und eine Fülle von kritischen Reaktionen hervor. Auch in Deutschland widmeten die großen Magazine dem Phänomen umfangreiche Leitartikel. Der „Spiegel“ rief in einer Titelgeschichte gar den „Kreuzzug der neuen Atheisten“ aus.1
Eine überzeugende Trennlinie zwischen einem neuen und einem alten Atheismus ist jedoch kaum zu ziehen. In der Literatur werden als Kriterien häufiger genannt: Der neue Atheismus ist ein publizistisch erfolgreicher Import aus den USA bzw. England; er rekurriert zumeist auf die Terroranschläge vom 11. September 2001, apostrophiert Religion pauschal als Unbildung oder Dummheit und trägt seine Thesen in einer herblassenden, bisweilen verächtlichen Sprache vor.2 Dieser neue Atheismus kritisiert also nicht nur Missstände oder fragt nach der Wirklichkeit Gottes in der gottfernen Welt, sondern er fordert mit geradezu missionarischem Eifer die Abschaffung bzw. Zerstörung aller Religion. Nur so sei die Befreiung der Menschen möglich.
Beispielhaft dafür ist die Position Richard Dawkins’, der in „Der Gotteswahn“ erklärt, Atheismus sei ein Zeichen geistiger Gesundheit3, der Gott des Alten Testaments ein „psychotischer Übeltäter“, ein „Monster“, ein „grausames Ungeheuer“.4 Dieser sehr platte Atheismus reizte Peter Sloterdijk zu dem Kommentar, der bekennende Gottesleugner Dawkins habe „der unvergänglichen Seichtheit des anglikanischen Atheismus ein Denkmal“ gesetzt.5
Die Formel „neuer Atheismus“ scheint erstmals Ende 2006 im US-amerikanischen Online-Magazin „wired.com“ von Gary Wolf geprägt worden zu sein. Hier brachte er das Anliegen der neuen Atheisten wie folgt auf den Punkt: „Dies ist die Herausforderung der Neuen Atheisten: Wir sind dazu aufgerufen, ... diesen lähmenden Fluch zu exorzieren: den Fluch des Glaubens. Die Neuen Atheisten ... verurteilen nicht nur den Gottesglauben, sondern auch den Respekt für den Gottesglauben. Religion ist nicht nur falsch, sondern ein Übel.“6
„Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung“
Dem neuen Atheismus steht in Deutschland die „Giordano Bruno Stiftung“ in Sprache, Polemik und Diskurs nahe. Diese Stiftung wurde 2004 in Mastershausen (Hunsrück) von dem Unternehmer und Mäzen Herbert Steffen gegründet. Innerhalb kurzer Zeit hat sich die „Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung“ (Selbstdarstellung) geschickt aufgestellt und erstaunlich an Einfluss gewonnen. Sie muss als die derzeit einflussreichste atheistische Initiative in Deutschland bezeichnet werden.
Diese herausgehobene Stellung beruht nicht auf besonders üppigem Stiftungskapital oder herausragend vielen Mitgliedern; man setzt vielmehr die vorhandenen Ressourcen geschickt ein und greift das gesellschaftliche Klima, das zunehmend religions- und kirchenkritisch ist, findig auf. Im jüngsten Tätigkeitsbericht der Stiftung über das Jahr 2009 wird berichtet, dass die Zahl der Fördermitglieder von 1350 auf über 2000 erhöht werden konnte. Das ist zwar in absoluten Zahlen bescheiden, die Steigerungsrate ist jedoch erheblich. Besonders erfreulich dürfte aus Sicht der Stiftung sein, dass erneut namhafte Persönlichkeiten für den Beirat gewonnen werden konnten. So hat z. B. Ingrid Matthäus-Maier, viele Jahre stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, vergangenes Jahr ihre Mitarbeit erklärt. Schon länger gehören dem Beirat einige bedeutende Wissenschaftler wie die Philosophen Hans Albert und Norbert Hoerster, der Evolutionswissenschaftler Ulrich Kutschera sowie der Neurophysiologe und Hirnforscher Wolf Singer an.
Die findige Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung spiegelt sich auch in verstärkten Aktivitäten an vielen Hochschulen wider. Hier bemühen sich sogenannte Studentenvertreter um die atheistische Arbeit unter den Studierenden. Bundesweit haben in jüngster Zeit mehrere neue Regionalgruppen die Arbeit aufgenommen. Auch in der Schweiz wurde kürzlich ein regionaler Zweig der Stiftung gegründet.
Die Giordano Bruno Stiftung sieht ihre Aufgabe darin, eine „tragfähige säkulare Alternative zu den bestehenden Religionen zu entwickeln und ihr gesellschaftlich zum Durchbruch zu verhelfen“.7 Daher bemüht man sich, „die Grundzüge eines naturalistischen Weltbildes sowie einer säkularen, evolutionär-humanistischen Ethik / Politik zu entwickeln“.8 Eine pointierte Zusammenfassung der zentralen Positionen findet man in der Broschüre „Aufklärung im 21. Jahrhundert“.9 Die Stiftung versteht sich nicht als religionsfeindlich, wohl aber als religionskritisch. Das Etikett „atheistisch“ vermeidet man. So heißt es in einer Selbstdarstellung, man verstehe die eigene Position als „naturalistisch“ in dem Sinne, dass „weder Götter noch Geister noch Kobolde oder Dämonen in die Naturgesetze eingreifen“.10 Diese recht eigenwillige Verkürzung zeigt, dass man eine sehr eingeschränkte Wahrnehmung von Religion hat. Das scheint auch den Vertretern der Stiftung aufgefallen zu sein. So wird in der bereits zitierten Broschüre die rhetorische Frage gestellt, ob die Stiftung nicht Religion mit Fundamentalismus verwechseln würde. In der Antwort heißt es, dass man sehr wohl zwischen fundamentalistischen und aufgeklärten Gläubigen zu unterscheiden weiß. Letztere seinen „durchaus sympathisch“, aber eben „nicht konsistent“. Denn „ohne ein wirksames metaphysisches Bedrohungsszenario entbehrt der religiöse Glaube seiner eigentlichen Pointe“.11
Es ist immer wieder eigenartig, wenn Religionskritiker erst erklären, was denn der religiöse Glaube „wirklich“ sei, bevor dieses Konstrukt dann destruiert wird. Dass es innerhalb von Kirchen und Religionsgemeinschaften legitime Wandlungsprozesse gibt, scheint den Autoren entgangen zu sein – oder aber schlicht nicht ins Weltbild zu passen. So verwundert es nicht, dass in der bereits zitierten Broschüre eine „prinzipielle Unvereinbarkeit von wissenschaftlichem Wissen und religiösem Glauben“ postuliert ist – vielen religiösen Naturwissenschaftlern und theologischen Positionen zum Trotz.
Kampagnen und Aktivitäten
In den letzten Jahren hat die Giordano Bruno Stiftung zahlreiche Kampagnen und Aktivitäten angeregt bzw. unterstützt. Naturgemäß fanden diese ein unterschiedliches Echo. Zu den wichtigsten Projekten gehörten eine wissenschaftliche Festveranstaltung zum Darwin-Jahr 2009 in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main, die Kampagne „Evolutionstag statt Christi Himmelfahrt“ und das auf dem gleichnamigen Kinderbuch basierende Video „Susi Neunmalklug erklärt die Evolution“. Erwähnenswert sind ferner eine „atheistische Buskampagne“. Unter dem etwas mühseligen Titel „Es gibt (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott. Ein erfülltes Leben braucht keinen Glauben“ fuhr ein mit eben diesem Text beklebter Bus durch Deutschland. Für reichlich Zündstoff sorgte 2008 das religionskritische Kinderbuch „Wo bitte geht’s zu Gott? Fragte das kleine Ferkel“, das wegen provozierender Bilder und einer derben Sprache umstritten war.
Bei allen Differenzen lassen sich Gemeinsamkeiten beschreiben: Die Aktionen zielen auf die Öffentlichkeit und haben konkrete Zielgruppen im Blick. Die Darwin-Veranstaltung richtete sich an ein eher (populär-)wissenschaftlich orientiertes Publikum, die Kampagne zum „Evolutionstag“ war so angelegt, dass Journalisten sie gern aufgreifen, das Video „Susi Neunmalklug“ wurde im Internet tausendfach abgerufen, das „Ferkelbuch“ war zwar als Kinderbuch getarnt, aber von vornherein als Aufreger konzipiert. So erreicht man eine breitere Öffentlichkeit. Als dann noch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf das „Ferkelbuch“ aufmerksam wurde und prüfen ließ, ob das seltsame Kinderbuch in die Liste jugendgefährdender Schriften aufgenommen werden sollte, brachte das die Werbetrommel erst richtig in Fahrt. Lediglich die atheistische Buskampagne war nach meinem Eindruck ein Flop.
Bereits 2007 hatte die Giordano Bruno Stiftung die Gründung des „Zentralrats der Ex-Muslime“ und dessen Kampagne „Wir haben abgeschworen!“ unterstützt.12 Damals hatten sich erstmals ehemalige Muslime öffentlich zu ihrer Abkehr vom Islam bekannt – ein durchaus mutiger Schritt. Zu den Höhepunkten des Jahres 2009 gehörte die „Kritische Islamkonferenz“, an der die Giordano Bruno Stiftung ebenfalls beteiligt war. Mit der Konferenz sollen die Rechte atheistisch denkender Menschen in islamisch geprägten Ländern gestärkt werden. Aus einer entschieden religionskritischen Haltung werden hier kritikwürdige Erscheinungen in diesen Ländern und Kulturen reflektiert. Bekanntlich stellt der Abfall vom Islam in vielen muslimisch geprägten Kulturen ein todeswürdiges Verbrechen dar. Daher sind Atheisten in einigen islamischen Ländern bedroht.
Die Flucht in ein westliches Land ist für viele Ex-Muslime oft die letzte Chance, grausamen Strafen zu entgehen. Bislang würdigen deutsche Gerichte die Gefahren, die diesen Menschen in den Ursprungsländern drohen, bei Asylverfahren jedoch nicht hinreichend. Daher haben sich die Aktivisten um die „Kritische Islamkonferenz“ dafür eingesetzt, dass die Abkehr vom Islam als Asylgrund akzeptiert wird. Ende April dieses Jahres konnten sie einen ersten Erfolg verbuchen: Der iranische Ex-Muslim Siamak Zare ist nicht mehr von Abschiebung bedroht. Damit wurde von einem deutschen Gericht erstmals anerkannt, dass ein Atheist religiöser Verfolgung in seiner Heimat ausgesetzt sein kann.
Problematisch an der „Kritischen Islamkonferenz“ ist die stark atheistische Attitüde. Diese verstellt den Blick dafür, dass „der Islam“ kein monolithischer Block ist und viele problematische Erscheinungen oftmals in einem Missbrauch des Islam begründet sind. Das will die „Kritische Islamkonferenz“ nicht sehen. In der Abschlusserklärung von 2008 heißt es, dass „die Gewalt im Namen des Islam eine tragende religiöse Grundlage besitzt und keineswegs auf einer ‚Verfälschung‘ beruht. Der Islam entpuppt sich als Politreligion mit Doppelgesicht, eine religiös überhöhte, vormoderne Vorschriftenlehre, die sämtliche gesellschaftlichen Bereiche zu regulieren beansprucht und die der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen entgegensteht“.13 Diese fundamental-atheistische Kritik wird vermutlich wenig förderlich sein, weil sie das in vielen muslimischen Kreisen bestehende Vorurteil bestätigt, dass derjenige, der Kritik formuliert, die Religion in toto zerstören wolle. Hilfreicher wäre es, die reformwilligen Kräfte zu stärken.
Aufsehen erregt die Giordano Bruno Stiftung auch immer wieder mit der von ihr erfundenen sogenannten „religionsfreien Zone“. Unter dem Motto „Heidenspaß statt Höllenqual!“ organisierte man Gegenprogramme zu kirchlichen Großereignissen wie dem katholischen Weltjugendtag 2005 in Köln oder zuletzt dem Ökumenischen Kirchentag in München. In den Kontext solcher Aktionen gehört auch der Spruch „Glaubst du noch oder denkst du schon?“. Unter diesem Motto werden Zeichnungen und Karikaturen religions- und kirchenkritischer Künstler wie Janosch und Jacques Tilly vermarktet.14
Atheistische Leitkultur?
Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung ist der Philosoph Michael Schmidt-Salomon. Er nimmt eine Fülle von Medienkontakten wahr und geht keinem Streit um Religion und Kirche aus dem Weg. Dass er bisweilen auch mit verächtlicher Polemik auf sich aufmerksam macht und nicht eben zimperlich ist, bewies er häufiger, so z. B. in einem Interview, als er erklärte, dem Christentum komme unter allen Religionen die Sonderstellung als „dümmste Religion“ zu: „Christen glauben nicht nur trotz Hitler, Hunger, Haarausfall an die Allgegenwart eines allmächtigen, allgütigen Gottes. Ihr Gott leidet zudem auch noch an einer höchst seltsamen multiplen Persönlichkeitsstörung (Dreifaltigkeit) ... Im Andenken an diese hochgradig psychopathologische Erlösungstat feiern die Christen Woche für Woche ein merkwürdiges Ritual, in dem eigens dazu ausgebildete Zeremonienmeister geheimnisvolle Zaubersprüche sprechen. Hierdurch werden profane Teig-Oblaten in den sich anscheinend milliardenfach replizierenden Leib des hingerichteten Erlösers verwandelt, der dann von den Gläubigen sogleich verspeist wird.“15
Im Auftrag der Stiftung hat Schmidt-Salomon die Bücher „Manifest des Evolutionären Humanismus – Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur“ (2005) und „Jenseits von Gut und Böse – Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind“ (2009) vorgelegt. Beide sind zur Klärung der weltanschaulichen Position der Stiftung hilfreich.
Das „Manifest“ möchte ein „Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur“ sein. Der Autor kritisiert, dass wir uns in einem Zeitalter der Ungleichzeitigkeit befinden würden. Wir lebten technologisch in der Moderne, unsere Weltbilder seien jedoch von religiösen Bildern geprägt, „von Jahrtausende alten Legenden“.16 Die Religionen hätten sich als „schlechte Ratgeber für die Menschheit“ erwiesen, weshalb wir einer „Leitkultur von Humanismus und Aufklärung“ bedürften.17
Außer mancher polemischen Unterstellung und Vereinfachung ist an dem Buch auch das manipulative „Wir“ irritierend. So heißt es: „Wir können es uns nicht mehr leisten, mit der weltanschaulichen Mentalität von Fünfjährigen die Geschicke der Welt zu lenken. Wer das Atom spalten kann und über Satelliten kommuniziert, muss hierfür auch die erforderliche intellektuelle und emotionale Reife besitzen.“18 (Und wer die Religionen kritisiert, so möchte man hinzufügen, sollte ebenfalls eine gewisse Reife besitzen.) Schnell wird deutlich, wie solche Sätze den Leser vereinnahmen und mehr vernebeln als aufklären. Zweifellos sind „wir“ oft nicht reif für unser Handeln, aber gerade von diesem Dilemma berichten viele Texte in der Bibel und in anderen heiligen Schriften. So widerspricht der Prophet Jeremia seiner Berufung mit den Worten: „Ich bin zu jung“ (Jer 1,6). König David erweist sich in moralischer Hinsicht seinem Amt nicht gewachsen (2. Sam 11), und Jesu Jünger versagen eigentlich immer, wenn es ernst wird (z. B. Mt 26, 40ff). Mit seinem Postulat, „wir“ müssten alle „kindlich-naiven Mythen über Bord werfen“, entwickelt Schmidt-Salomon die Vision einer atheistisch gleichgeschalteten Diktatur. An finstere Zeiten erinnert er, wenn er folgende Anregung vorträgt: „Es wird keine ungefährliche und auch keine leicht lösbare Aufgabe sein, den religiös indoktrinierten bzw. zu konsumistischer Beliebigkeit gedrillten Massen (und „Eliten“!) auch nur die Minimalanforderungen von kritischer Vernunft und humaner Ethik näher zu bringen.“19
Diese autoritäre Anmaßung findet sich in dem vorliegenden Buch auch dort, wo Schmidt-Salomon wiederholt postuliert: „Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion.“20 Joachim Kahl, freischaffender Philosoph und der Szene der Kirchenkritiker durchaus nahestehend, bemerkt dazu in einer Rezension: „Niemand besitzt Wissenschaft, Philosophie und Kunst, schon gar nicht alle zusammen. Je tiefer ein Mensch in einen dieser drei Bereiche eingedrungen ist, umso mehr wird ihm bewusst, dass er allenfalls auf dem Wege dorthin ist.“21
Das Grundproblem der Schmidt-Salomon’schen Religionskritik liegt darin, dass er einem defizitären Religionsbegriff folgt. Für ihn ist religiöses Denken per se krank und von einem „kognitiven Virus“ befallen – kurz: „Religiöses Denken beruht notwendigerweise auf Etikettenschwindel.“22 So erklärt sich die erstaunliche Einsicht des Autors, dass Religionen „notwendigerweise auf ethischem Gebiet versagen“.23 Angesichts von Dekalog und Doppelgebot der Liebe, angesichts der „vier edlen Wahrheiten“ und von Almosen und Fasten im Ramadan sind das schon seltsame Positionen.
Das Maß der Verwunderung nimmt noch zu, wenn wir feststellen, dass Schmidt-Salomon in seinem 2009 erschienenen Buch „Jenseits von Gut und Böse – Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind“ gegen moralische Kategorien polemisiert. Hier versucht er nachzuweisen, dass der Mensch nicht über einen freien Willen verfügt. Folglich sollten wir Kategorien wie Gut und Böse kritisch begegnen und uns um ein Leben ohne moralisches Schuldprinzip bemühen. Im zweiten Teil des Buchs entwirft er eine „neue Leichtigkeit des Seins“, frei von Schuldgefühlen und Ich-Fixierung. Am Ende erzählt er die Geschichte von Adam und Eva neu: Da sie zum zweiten Mal vom Baum der Erkenntnis essen, fallen sie in den Stand der Unschuld zurück. Auch in diesem Buch irritiert die atheistische Hybris. In Überbietung der Dawkins’schen Formel vom Gotteswahn werden die Religionen der Welt als „atemberaubender Blödsinn“ bezeichnet.24 Während Nietzsche, bei dem sich Schmidt-Salomon im Titel wie an vielen Stellen gern bedient, fassungslos fragt, was es bedeutet, wenn Gott tot ist (bzw. wäre), postuliert Schmidt-Salomon einen schlichten Hedonismus.
Meinungsdifferenzen in atheistischen Kreisen
Die Formel vom „neuen Atheismus“ ist inzwischen auch in atheistischen und religionskritischen Kreisen umstritten. Schmidt-Salomon hatte bereits im April 2008 bei einem Vortrag erklärt, dass dieser neue Atheismus für ihn und die Giordano Bruno Stiftung als Indikator eines viel grundlegenderen Veränderungsprozesses interessant sei.25 So wäre es in seinen Augen wichtig, mit der Religionskritik eine neue Weltanschauung, den „neuen Humanismus“ zu begründen. Was Schmidt-Salomon und anderen vorschwebt, ist eine Art „wissenschaftliche Weltanschauung“, die die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft aufgreift und so zur Überwindung der Religion beiträgt.
Auf dem Weg dorthin wird in den Kreisen der Atheisten und Religionskritiker jedoch auch immer häufiger über Stilfragen diskutiert. Die polternde Polemik von Dawkins und anderen brachte das Thema zwar erstmals in die breite Öffentlichkeit, ist aber auf Dauer kaum tragfähig. Völlig zu Recht empfinden viele Menschen diesen aggressiven Atheismus als fundamentalistische Religionskritik, als genauso fanatisch und undifferenziert wie viele andere Fundamentalismen. Selbst von Vertretern des organisierten Humanismus selbst wird „die neue Militanz unter Religionsskeptikern“ kritisiert.26 Immer häufiger spricht man von „Krawallatheismus“ und „Atheismuswahn“.27 Gerade Vertreter des Verbandsatheismus bemängeln, dass der aggressive Atheismus zwar medienattraktiv ist und ihr Anliegen in die Öffentlichkeit bringt, aber niemanden umwirbt und zur Mitarbeit anregt. Mit anderen Worten: Der aggressive Atheismus wärmt die Menschen nicht und bietet keine Lebenshilfe. Aber der Atheismus bzw. der (freidenkerisch inspirierte) Humanismus taugt als Alternative zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften nur, wenn er bei der Gestaltung und Bewältigung des Lebens hilft – also Wendepunkte wie Geburt („Namensweihe“), Adoleszenz („Jugendweihe“), Eheschließungen, Beerdigungen, Trauerfälle, ethische Fragen am Lebensende (z. B. Patientenverfügungen) usw. gestalten hilft.
Die Überlegung mancher der organisierten Freidenker bzw. Humanisten lautet: Wenn man neue Formen „humanistischer Sozialarbeit“ entwickelt und diese professionell weiterentwickelt, könnte man möglicherweise vielen kirchenfernen Menschen eine Heimat geben und so zu einer ernsthaften Konkurrenz für die Kirchen werden. Deshalb bemüht man sich um humanistische Kindertagesstätten, freidenkerisch/humanistisch orientierte Schulen, Bildungseinrichtungen, Akademien usw. Ob und inwieweit dieser Weg erfolgreich ist, bleibt abzuwarten. Die politischen Voraussetzungen und das gesellschaftliche Klima in Deutschland bieten jedoch einen guten Rahmen für die Arbeit atheistischer Organisationen. Dabei kann man sich geschickt die Rollen aufteilen: Während die einen atheistische Polemik pflegen, entwickeln andere die Grundzüge humanistischer Sozialarbeit.
Seltsam ist nur, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften, die scharf angefragt und bisweilen maßlos attackiert werden, die Herausforderung einfach ignorieren. Eigentlich müssten Akademien, Bildungseinrichtungen und Gemeinden das Thema entschiedener aufgreifen und sich inhaltlich mit den Thesen der Giordano Bruno Stiftung und der neuen Atheisten auseinandersetzen. Es gehört zu den erstaunlichen Phänomenen unserer Zeit, dass die Kirchen die Bedrängnis, in die sie geraten sind, kaum zu sehen vermögen. Daher ist zu befürchten, dass es den Kirchen schon bald so gehen könnte wie gegenwärtig der Politik in der Integrationsdebatte: Alle werden sich damit brüsten, dass sie das Problem seit Jahren sehen – und leise verschweigen, dass sie zu wenig unternommen haben.
Andreas Fincke, Berlin
Anmerkungen
1 Der Spiegel vom 26.5.2007 mit dem Titel „Gott ist an allem schuld. Der Kreuzzug der neuen Atheisten“.
2 Vgl. z. B. Wolf Krötke, Das Wesen des christlichen Glaubens an Gott und der „neue Atheismus“, in: MD 1/2009, 6-16.
3 Vgl. Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 2007, 15.
4 Ebd., 55, 66 und 346.
5 Peter Sloterdijk, Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt a. M. 2007, 74.
6 Gary Wolf, The Church of the Non-Believers, in: Wired Magazine, November 2006, www.wired.com/wired/archive/14.11/atheism.html. Übersetzung zit. nach: Michael Schmidt-Salomon, Vom neuen Atheismus zum neuen Humanismus?, in: Humanismus aktuell 23, 2009, 28.
7 Giordano Bruno Stiftung (Hg.), Aufklärung im 21. Jahrhundert, Mastershausen 2009, 5.
8 Zit. nach www.saekulare-humanisten.de.
9 Giordano Bruno Stiftung (Hg.), Aufklärung im 21. Jahrhundert, a.a.O. Es gibt die Broschüre inzwischen auch in englischer Übersetzung. Beide Ausgaben sind im Internet leicht zu finden, vgl. www.giordano-bruno-stiftung.de .
10 Giordano Bruno Stiftung (Hg.), Aufklärung im 21. Jahrhundert, a.a.O., 41.11 Ebd, 42.
12 Vgl. Andreas Fincke, „Wir haben abgeschworen!“ Anliegen und Allianzen des neu gegründeten „Zentralrats der Ex-Muslime“, in: MD 8/2007, 297-299.
13 Kritische Islamkonferenz, Abschlusserklärung vom 1.6.2008.
14 Vgl. www.religionsfreie-zone.de.
15 Heike Jackler, Interview mit M. Schmidt-Salomon, www.humanist.de/kultur/literatur/religion/salomon.html.
16 Michael Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus, Aschaffenburg 2005, 7.
17 Ebd., 8.
18 Ebd., 151.
19 Ebd., 151f.
20 Ebd., 156.
21 Joachim Kahl, Fehlstart. Zur Kritik an Michael Schmidt-Salomons „Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur“, in: Helmut Fink (Hg.), Was heißt Humanismus heute?, Aschaffenburg 2007, 16.
22 Michael Schmidt-Salomon, Manifest, a.a.O., 53.
23 Ebd., 101.
24 Michael Schmidt-Salomon, Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind, München 2009, 307.
25 Vgl. Michael Schmidt-Salomon, Vom neuen Atheismus zum neuen Humanismus?, a.a.O., 32.
26 Horst Groschopp, Die „neuen Atheisten“, das „Ferkelbuch“ und der organisierte Humanismus, 4, www.horst-groschopp.de/Humanismus/PDF/Neuer%20Atheismus1.pdf.
27 Vgl. z. B. Joachim Kahl, Weder Gottes- noch Atheismuswahn, in: Humanismus aktuell 23, 2009, 52ff.