Thomas Bauer

Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams

Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Verlag der Weltreligionen, Berlin 2011, 462 Seiten, 32,90 Euro.

„Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams“ hat der Islamwissenschaftler Thomas Bauer sein – wie ich meine: bahnbrechendes – Werk genannt. „Ambiguität“ meint Mehrdeutigkeit, nicht nur von sprachlichem, sondern überhaupt von kulturellem Handeln. „Sprache, Gesten und Zeichen lassen Eindeutigkeit vermissen, Handlungen müssen interpretiert, Normen ausgelegt werden, einander widersprechende Werte müssen miteinander versöhnt oder unversöhnt nebeneinander toleriert werden“ (17). So weit, so klar: Alles menschliche Verhalten und Kommunizieren ist von Uneindeutigkeit geprägt. Verschiedene Kulturen aber gehen mit dieser Uneindeutigkeit verschieden um. Es gibt Kulturen, die sehr viel Ambiguität vertragen, und andere, deren Ambiguitätstoleranz eher gering ist.

Die These, die Bauer in seinem Buch entfaltet und belegt, lautet: Die islamische Kultur – und zwar „in jener Gestalt, in der sie ihre Begegnung mit der Moderne haben sollte“ (21) – zeigt eine ausgesprochen hohe Ambiguitätstoleranz. Dabei liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf der Ayyubiden- und Mamlukenzeit (1171-1517). Gerade diese Zeit gilt oft als eine Phase der Stag­nation und des Niedergangs – und diese Einschätzung will Bauer unterlaufen.

Der „Westen“ hingegen, die europäische Kultur gerade in ihrer neuzeitlichen bzw. modernen Gestalt – das ist der zweite Teil von Bauers These – verträgt Mehrdeutigkeit ausgesprochen schlecht. Im Anschluss an Kulturhistoriker wie Tzvetan Todorov und Zygmunt Baumann beschreibt Bauer die westliche Kultur als eine Kultur der Ambiguitätsangst: „Keine andere Kultur hat so gebannt auf die Anderen gestarrt, sich so beharrlich mit anderen Menschen und Ländern auseinandergesetzt wie die westliche ... Keine andere (lernte) so gründlich, die anderen zu verstehen, wie die westliche, was sich wiederum als Voraussetzung für die Beseitigung des Andersseins der Anderen erwies. Die Neugier auf den Anderen beruhte nicht auf Aufgeschlossenheit und Weltoffenheit, sondern verdankt sich vor allem der Tatsache, dass sich keine andere Kultur so leicht und so sehr von der Andersheit der Anderen in Frage gestellt sah. Wann immer man sich mühsam zur Wahrheit, zu einer Wahrheit durchgerungen hatte – vom Christentum des Mittelalters bis zu den Welterklärungsideologien des 19. Jahrhunderts –, immer gab es diese anderen Länder und anderen Menschen, die durch ihre bloße Existenz die mühsam errungene Gewissheit der eigenen Weltsicht in Frage stellten. Wenn man doch aber selbst nach langem Ringen endlich so glücklich bei der Wahrheit, der ewigen, alleinigen und einzigen, angelangt war, wie konnten dann andere Menschen eine andere Wahrheit behaupten und leben? Weit über die Ideologien hinaus konnte allein die Tatsache, dass es Menschen gibt, die anders aussehen, denken, handeln und fühlen, als Bedrohung der eigenen Persönlichkeit empfunden werden. Durch die Existenz des Anderen verlor das eigene Leben an Selbstverständlichkeit“ (370f). Eine Pluralität der Wahrheiten mag im Westen eine postmoderne Vision sein – „die ambiguitätstolerante Vormoderne der islamischen Welt“ war nach Bauer „eine Realität“ (374).

Bauer belegt seine These mit einer Fülle von Beispielen aus „jene(r) Epoche, in der all die Handbücher entstehen, die älteres Gedankengut weiterbilden und zu einer neuen Synthese bringen. Diese Handbücher sind es, die den sunnitischen Islam für viele Jahrhunderte formen sollten und die in Kurzfassungen, Kommentaren und Überarbeitungen oft bis in die Gegenwart an den Hochschulen studiert werden“ (22).

Ein erstes Beispiel ist die Überlieferung des Korantextes selbst. Für den Koran gilt, noch mehr als für die Bibel, dass er rezitiert und gehört werden will. Das Wort „Koran“ bedeutet wörtlich: das zu Rezitierende. Noch wichtiger als die richtige Schreibung ist also der richtige Vortrag. Dass bei einem Überlieferungsprozess, bei dem sich die Hörer die Art des mündlichen Vortrages eines Textes einprägen, ungezählte Varianten entstehen, liegt auf der Hand. Nun entspricht es westlichem Denken, die „Textkritik“ als ein Verfahren zur (Wieder-)Herstellung des „ursprünglichen“ Textes zu verstehen. Nicht so im klassischen Islam. Das allgemein anerkannte Handbuch der Geschichte des Korantextes aus dieser Epoche stammt von dem Damaszener Gelehrten Ibn al-Djazarī (1350-1429). Er schreibt: „Jede Lesart, die mit der arabischen Grammatik – und sei es in einer Weise, deren Korrektheit umstritten ist – übereinstimmt, die – wenn auch nur möglicherweise – mit einem der Uthmānischen Kodizes übereinstimmt und deren Überlieferungskette einwandfrei ist, ist eine einwandfreie Lesart, die nicht zurückgewiesen oder missbilligt werden darf. Vielmehr gehört sie zu den sieben ahruf, in denen der Koran offenbart wurde. Sie muss akzeptiert werden ...“ (83).

Uthman war der dritte Kalif (644-656), der in einer Krise zu großer „Ambiguität“ des Textes, also eines Streites um die Authentizität umlaufender Versionen, eine Redaktion des Korans veranlasst haben soll. Nach Ibn al-Djazarī führte diese Redaktion aber keineswegs zu einer Vereinheitlichung, sondern resultierte in einem Konsonantentext ohne Vokale und diakritische Zeichen, der demnach weiterhin eine Vielzahl von Betonungen und damit auch Bedeutungen zuließ, und dies mit voller Absicht. Nicht umsonst hat laut Tradition der Prophet Muhammad selbst von sieben ahruf gesprochen – ein Wort, das man wohl annäherungsweise mit „Lesarten“ (Einzahl: harf) übersetzen kann –, in denen der Koran offenbart wurde: „Gott hat dir befohlen, deiner Gemeinde den Koran in sieben ahruf zu rezitieren; gemäß welchem harf auch immer sie vortragen, treffen sie das Rechte“ (86). Ein einziger harf wäre für die Gemeinde der Muslime eine Überforderung, auch zwei ahruf wären es noch. Deshalb ist es eine göttliche Gnade, dass sieben ahruf offenbart werden, die der Gemeinde die Last zu großer Eindeutigkeit ersparen und sowohl verschiedene Betonungen wie verschiedene Deutungen des Textes als von Gott selbst beabsichtigt zulassen.

Der Koran ist also im klassischen Sinn kein Text mit Variantenapparat. Die Varianten würden in diesem Fall nur die Geschichte des vorliegenden Textes spiegeln. Im Koran gehören die Varianten zum geoffenbarten autoritativen Text. Der Koran erscheint als „pluraler ... nichtabgeschlossener Text, dessen Bedeutungsgehalt nie ganz ausgeschöpft werden kann“ (113). Eine heilige Schrift, in der Varianten nicht Verfälschungen, sondern zusätzliche Bedeutungsmöglichkeiten des göttlichen Wortes darstellen, ist für jeden Fundamentalismus ein unerträgliches Ärgernis. Denn Fundamentalismus ist ja in seinem Kern das Bedürfnis nach purer Eindeutigkeit, in der der heilige Text ohne Varianten, ohne Berücksichtigung seiner Auslegungsgeschichte und ohne Reflexion über den Prozess des Verstehens gelesen wird. Bauer bringt deshalb auch ein Beispiel einer Darstellung der Geschichte des Korantextes durch den salafitischen Gelehrten Ibn Uthaimīn (1929-2001), die sich von der Darstellung durch Ibn al-Djazarī fundamental unterscheidet.

Tatsache ist, dass viele Strömungen im zeitgenössischen Islam den „postmodernen“ Charakter der eigenen Tradition verkennen oder ausdrücklich ablehnen. Denn entsprechend der These Bauers verloren die Hauptströmungen des Islam in der Begegnung mit dem Westen seit dem 19. Jahrhundert ihre Ambiguitätstoleranz und übernahmen das Verlangen nach Eindeutigkeit auf allen Gebieten, das den Wes­ten kennzeichnet. Dieses Verlangen nach Eindeutigkeit vereint Fundamentalisten und Reformer. „… die Konzepte der traditionellen Wissenschaften scheinen einem großen Teil – und gerade dem aktiven und sichtbaren Teil – der islamischen Intelligenzia unverständlich geworden zu sein. Und so wird deutlich, dass nicht der traditionelle, ‚mittelalterliche’ Islam und seine heutigen ‚fundamentalistischen’ Vertreter den Kräften der Modernisierung, Liberalisierung und Aufklärung gegenüberstehen, sondern Fundamentalisten und Reformer im Zeichen der westlichen Episteme einen Kampf gegen die eigene Kultur führen. Nicht Mittelalter und Moderne stehen einander gegenüber, sondern das moderne Beharren auf Eindeutigkeit und das postmoderne Potential der islamischen nachformativen Tradition“ (114).

Bauer erklärt auch die Vorsicht muslimischer Gelehrter gegenüber Koranübersetzungen. Ein Verbot solcher Übersetzungen hat es, entgegen einer häufig gehörten Meinung, nie gegeben. Jede Übersetzung eines Textes, nicht nur aus dem Arabischen, muss sich allerdings zwangsläufig für eine Bedeutungsvariante entscheiden. Sie reduziert also die Mehrdeutigkeit des Textes, sie wirkt „disambiguierend“. „Allein im Original [ist] die Interpretationsoffenheit des Textes bewahrt“ (141). Auch hier gibt es einen wichtigen Unterschied zum westlichen Christentum: Während im Westen die Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen ein emanzipativer Akt war, weil sie das Auslegungsmonopol des Klerus brach, wurde in der islamischen Welt der Inhalt des Korans durch Interlinearübersetzungen und Übersetzungen von Korankommentaren Leuten mit nichtarabischer Muttersprache zugänglich gemacht. Die Koranrezitatoren, die Kommentatoren und die Juristen aber bewahrten ihre Unabhängigkeit von den Vorgaben der jeweiligen Machthaber durch die „Verteidigung der Ästhetik und Ambiguität des Textes“ (ebd.).

Der ägyptische Gelehrte as-Suyūtī (1445-1505) spricht diesbezüglich in einem eigens über die Fülle der Auslegungsmöglichkeiten verfassten Traktat von einer „Barmherzigkeit (Gottes) für euch“ und führt aus, dass die Meinungsverschiedenheit der Rechtsgelehrten für die Muslime gut und notwendig, ja heilvoll sei.

Nicht die absolute Wahrheit ist das Ziel islamischer Juristen der klassischen Zeit, sondern ein – nach menschlichen Maßstäben – angemessenes Urteil in konkreten Fällen. Thomas Bauer ist „in seiner ganzen Lektüre“ für die Zeit vor dem 20. Jahrhundert „nie eine Hinrichtung oder auch nur eine Anklage wegen einvernehmlichen Sexes unter Männern begegnet“ (281). Eine Steinigung wegen Ehebruchs ist ihm in nur einem einzigen Fall bekannt. Der Oberrichter Sinānaddīn al-Bayādī (gest. 1687) verhängte tatsächlich dieses Urteil und ließ es vollstrecken, was einen Chronisten zu dem Ausruf veranlasste: „Und so etwas ist seit der Frühzeit des Islams nie vorgekommen!“ (281f). Der Richter wurde in der Folgezeit abberufen und bekleidete nie wieder ein öffentliches Amt.

In einem eigenen Kapitel, „Sprachernst und Sprachspiel“, veranschaulicht Bauer an sprechenden Beispielen aus einer umfangreichen poetischen Literatur die Freude der arabischen Dichter an der verhüllenden Formulierung, die die Eindeutigkeit kunstvoll und wortreich vermeidet. Die Freude am Sprachspiel veranlasste nicht nur Dichter und Denker, zu den unterschiedlichsten Anlässen kluge Gedichte und kunstvolle Reime oder poetische Pointen zu verfassen. Die Pflege teilweise verspielter Poesie galt beispielsweise auch für den Bildungsgang von Theologen und Juristen als angebracht. Lexikographie und Semantik suchten den Bedeutungsreichtum der arabischen Sprache zu erkunden und zu bewahren. Was später zünftige Orientalisten als selbstgefällige Kunstspielerei oder gar als Ausdruck der Dekadenz des „morgenländischen Geistes“ betrachteten, war ein nicht unwesentliches Element einer reichen Schrift- und Sprachkultur, die in weitentwickelten sprachwissenschaftlichen Disziplinen gepflegt wurde. Ich breche den Überblick hier ab, Bauers Buch ist eine Fundgrube.

Man fragt sich nach alledem, wie der „postmoderne“ Charakter des klassischen Islam mit dem gegenwärtigen Essentialismus, den ja die Kritiker des Islam mit vielen Muslimen teilen, zusammengeht. Die Antwort Bauers lautet: Die arabische Kultur sah sich seit dem 19. Jahrhundert mit einem fundamental überlegenen Westen konfrontiert. Sie übernahm, um den Rückstand wenigstens einigermaßen aufzuholen, seine Maßstäbe weitgehend. Um etwa den Rückstand in den Naturwissenschaften und ihrer technischen Anwendung zu überwinden, übernahm man das cartesianische Denken mit seiner Widerspruchsfreiheit und Eindeutigkeit. Die islamische Welt passte sich dem ambiguitätsfeindlichen Westen an und hält an dessen Normen fest, während die westliche Welt diese Normen bereits wieder fallen lässt. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit der Homosexualität.

Es wäre entschieden zu einfach, wollte man hier nur von einem „geistigen Kolonialismus“ sprechen und die muslimischen Eliten zu Opfern westlicher Überfremdung erklären. Diese Eliten hatten selbst ein großes Interesse an ihrer „Verwestlichung“. Sie wollten erfolgreich sein – nach westlichen Maßstäben. Dazu aber mussten sie die traditionelle Gelehrtenschicht entmachten. Die alte Kultur schien verstaubt und untauglich zu sein. Die hergebrachte Hermeneutik mit ihrer „vielsinnigen“ Schriftauslegung oder die alte Rechtslehre mit ihrer Skepsis gegenüber letzten Wahrheiten galten nichts mehr. Zeitweise schien es so, als würden sich die arabischen Eliten vom Islam überhaupt verabschieden, und in einigen Vertretern haben sie das wohl auch getan, während auf der Gegenseite eine Reislamisierung gepredigt wurde, die aber nicht den Anschluss an die verschütteten Traditionen fand.

Thomas Bauer kann keine Lösung anbieten für die Probleme, die aus der radikalen Ambiguitätsreduktion in der islamischen Welt entstanden sind. Aber sein Buch ist immerhin geeignet, unser Bild vom Islam vor seiner umstürzenden Begegnung mit westlichem Denken vom Kopf auf die Füße zu stellen.


Rainer Oechslen, München