Die Lockerheit der Formen und die Starrheit der Lehre
Das Freakstock-Festival 2001 der Jesus-Freaks vom 26. bis 29. Juli 2001 in Boxberg bei Gotha
Die Galopprennbahn Boxberg bei Gotha im grünen Herzen Deutschlands war nicht zu groß für das jährlich stattfindende Freakstock-Festival, an dem nach Angaben der Veranstalter 3800 Personen teilnahmen. Ein großer Teil der Grünfläche der Rennbahn war als Campingplatz eingerichtet worden. Wer darüber schlenderte, bekam einen Eindruck von der Welt der Jesus-Freaks: Junge Leute mit alten Autos, die meisten lässig gekleidet, fanden sich hier zusammen. Die T-Shirts und auch die Autos waren durch zahlreiche Sprüche und Bilder geziert: Jesus ist Lord of the Lords, Alpha und Omega, god is in control… Beunruhigt brauchte man sich hier nicht zu fühlen; die Freundlichkeit und Unkompliziertheit war beeindruckend.
Solch ein Treffen erfordert eine bedeutende Infrastruktur, die neben dem Zeltplatz errichtet wurde und einen gewissen Komfort bot: Im Coffee-Zelt gab es von 9.00 bis 11.00 Uhr all you can eat. Duschcontainer und Dixiklos waren aufgebaut worden. Die hundert Jahre alte Sickergrube konnte allerdings das Abwasser nicht fassen, was zu “Schweißbad statt Duschen” führte, wie es die eigens herausgegebene Festivalzeitung “Freakstock faz” titelte.
Das Programm bestand aus mehreren Elementen: Vormittags war von 11.00 bis etwa 14.00 Uhr Seminar, nachmittags gab es Workshops, abends Konzerte der Rockbands. Nebenbei liefen noch ein Fußballturnier, eine Kunstausstellung etc. In jeweils einem eigenen Zelt standen Ansprechpartner zur seelsorglichen Einzelbetreuung und zur Drogenberatung bereit.
Das Seminar ist der Gottesdienst der Jesus-Freaks. Der Name ist nicht unberechtigt, denn das Herzstück bildet eine fast einstündige Predigt. Der Prediger ist meist ein Leiter einer Freakgruppe. Umrahmt wird diese Predigt von Rockmusik auf der Hauptbühne. Das nennt sich Lobpreis und soll die Teilnehmer zum preisenden Gebet einladen. Mit erhobenen Händen und sich im Rhythmus der Musik wiegend oder stampfend, singt ein Teil die Lieder auswendig mit. Das ist nicht so schwer, da die Texte meist recht kurz sind, sich dafür jedoch häufig wiederholen.
Die Workshops am Nachmittag dienten dem Glaubensgespräch und der Vertiefung. Gehalten wurden sie ebenfalls von Leitern der Jesus-Freak-Gruppen. Den wahrscheinlich größten Zulauf hatte ein Workshop über Dämonen. Bei ihm sei kein Dämon entdeckt worden, berichtete ein Teilnehmer. Bei anderen jedoch sei um die Austreibung der Dämonen gebetet worden – ob mit Erfolg, konnte er nicht berichten.
Den Abend füllte das Programm zahlreicher Musikgruppen. Sowohl auf der Hauptbühne als auch in einem eigenen Zelt und im Coffee-Zelt spielten sie auf, meist Hardrock. Friedlich schlenderten die Teilnehmer zwischen den Bühnen umher.
Handelt es sich hier bei den Jesus-Freaks um einen neuen religiösen Aufbruch, der die Kirchen wieder einmal alt aussehen lässt? Einige Beobachtungen relativieren das Bild:
Während des Seminars ist erlaubt, was gefällt. Während die einen beim Lobpreis fast in Ekstase fallen, schlafen andere oder dösen in der Sonne vor sich hin.
Fragt man die Festival-Teilnehmer nach den Motiven für ihr Kommen, so sind die Antworten unterschiedlich. Während die einen richtige Jesus-Freaks sind und selbstverständlich dabei sein wollen, sind andere wegen der Musik gekommen und gehen lieber baden als zum Seminar.
Bei den echten Jesus-Freaks steht den lockeren Umgangsformen ein fast fundamentalistischer Glaube gegenüber: Hinter der modernen und zwanglosen Fassade ist die Suche nach Sicherheiten erkennbar. Auch die Sprache ist gewöhnungsbedürftig. Bewusst wollen die Jesus-Freaks sich von der gehobenen und ritualisierten Sprache der Kirche absetzen. Sie beten frei und spontan; die Texte sind nicht vorformuliert. Offensichtlich kommt jedoch keine religiöse Gruppe ohne eigene Rituale und eigene Kultsprache aus. Hier ist die Jugendsprache, wie sie vor zehn Jahren gesprochen wurde, zur Kultsprache geworden: Kaum ein Gebet, in dem der Beter Jesus nicht “geil” findet und um seine “Strengh” bittet.
Noch verwirrender ist die Rhetorik der Prediger. Die Lebenswirklichkeit des Christen wird mit Kampf- und Kriegsmetaphern beschrieben: “Unser Leben ist Krieg; Waffenstillstand gibt es nicht!” Der Abschlussprediger erwähnte, dass er ein Buch über den Zweiten Weltkrieg gelesen habe, zog Parallelen zwischen Militärstrategien dieser Zeit und dem Kampf des Christen heute. Natürlich distanzierte er sich von der Nazizeit, dennoch erinnert dieser Sprachgebrauch an einen Geist, von der sich die Kirchen in den letzten Jahren lösen konnten. Das Leben ist für die Jesus-Freaks ein Kampf, dem Satan muss eine Niederlage beigebracht werden. Der Teufel wird nicht nur an die Wand gemalt, sondern in all seinen Verlockungen ausführlich beschrieben. Daraus erwächst wiederum eine moralische Radikalität: “Ich habe meinen Internetanschluss abgeschafft, weil das zum Anschauen von Sex-Bildern verleitet hat” – so der Prediger. Ob sich auf diese Weise die ethischen Fragen der Gegenwart lösen lassen?
Das Gebet ist unkonventionell und die Formen beziehen sich auf Überlieferungen der Heiligen Schrift. Hier ist deutlich der charismatische Ansatz zu erkennen. Erfahrene Beter unterstützen Teilnehmer, die wünschen, dass für sie gebetet wird. Dies geschieht durch Handauflegen und Umarmen. So standen nach dem Seminar noch einige solche Paare bewegungslos in der brennenden Sonne, manche leichenblass. Ob das Gebet für sie heilsam war? Für die Jesus-Freaks steht die Heilkraft des Gebetes außer Frage und wird biblisch begründet. Ein Prediger beschrieb, wie er durch sein Gebet einen Angestellten in einem Fitnesscenter von einer Magen-Darm-Grippe kuriert hat.
Die Fragen des Zweifels, der Erfahrung der Gottesferne, der Vergeblichkeit menschlichen Wollens und des Trost zusprechenden Gottes wurden dagegen nicht thematisiert. Ebenso fehlte die Überlegung, was aus einem Jesus-Freak einmal werden soll, wenn er seinen kulturellen Umgang ändert, jedoch seine Religiosität bewahren will. Wo kann diese Frömmigkeit der Jugendlichen im Erwachsenenalter aufgefangen werden?
Als ich am Freitagabend gegen Mitternacht nach Hause fuhr, kamen mir noch immer neue Teilnehmer entgegen, so auch zwei junge Männer in einem alten Auto, das nur wenige hundert Meter vor dem Festivalplatz Feuer fing. Der Fahrer versicherte mir, dass dies Gottes Wille sei und ihm ein Zeichen, nicht an den Gütern dieser Erde zu hängen. Mein vorsichtiger Zweifel, ob es Gott wirklich gefällt, wenn unser Eigentum verbrennt, war ihm unverständlich. Am Abschlusstag bedankte er sich noch bei allen Teilnehmern für die erhaltene Unterstützung wie Decken und Zelt. Für ihn sei es ein Wunder, dass er alle seine Ausweispapiere noch unversehrt im Handschuhfach des völlig ausgebrannten Autos wiedergefunden habe.
Als Fazit bleibt festzustellen: Ein großes gelungenes Jugend-Festival, eine einfache evangelikale Theologie, eine charismatische Praxis, ein buntes Publikum mit sehr unterschiedlichen Motivationen für ihr Kommen und mehr oder weniger starker innerer Teilnahme am Geschehen.
Notker Schrammek, Erfurt