Die Mitgliederentwicklung der Neuapostolischen Kirche in der NS-Zeit. Decodierung einer Meistererzählung?
Karl-Peter Krauss, Die Mitgliederentwicklung der Neuapostolischen Kirche in der NS-Zeit. Decodierung einer Meistererzählung?, Frankfurt a. M. 2017, 142 Seiten, 24,95 Euro.
Der Historiker Karl-Peter Krauss ist neuapostolischer Christ und Leiter des Forschungsbereichs Demographie/Sozialgeographie am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde des Landes Baden-Württemberg. Seit 2014 ist er Mitglied der offiziellen kirchlichen Arbeitsgruppe Geschichte der Neuapostolischen Kirche (NAK). Der vorliegende angenehm schmale Band ist allerdings nicht im kirchlichen Auftrag entstanden, auch wenn seine Korrektur des gängigen Bildes einer maximal angepassten und vom Dritten Reich profitierenden NAK die kirchlichen Autoritäten erfreuen dürfte. Das Ergebnis dieses mit aller Akkuratesse des historischen Handwerks geschaffenen Werks widerlegt die bisherige einhellige Auffassung (die „Meistererzählung“ im Titel) vom Blühen und Wachsen der NAK im Dritten Reich. Heutige Kritiker und Verteidiger der Kirche ebenso wie der NS-Staat und die zeitgenössischen NAK-Kirchenführer erzählten alle die gleiche Geschichte von der stark wachsenden Kirche im Nationalsozialismus, hatten dafür aber sehr unterschiedliche interessengeleitete Gründe und interpretierten das vermeintliche Riesenwachstum jeweils anders. Krauss dekonstruiert nun durch Quellenstudium die zugrunde liegende Annahme aller ihrer Interpretationen.
Demnach wuchs die NAK zwar tatsächlich von 1926 bis 1949 von 144 000 auf 270 000 Gläubige, doch ein genauerer Blick zeigt, dass dieses Wachstum in Wirklichkeit auf die Jahre vor 1933 und nach 1945 fiel. Im Dritten Reich hingegen (und wie der Vergleich mit der Schweiz zeigt: wegen des Dritten Reichs) brach das Wachstum rapide ein, die Kirche stagnierte bei 250 000 und verlor ab 1938 sogar Gläubige. Der Befund ist also das Gegenteil dessen, was man jahrzehntelang geglaubt und immer wieder erzählt hatte.
Krauss erläutert dann die Gründe für die flächendeckende Wirkung des Irrtums, an dessen Verbreitung jeweils wider besseres Wissen der NS-Staat und die NAK-Führung Anteil hatten. Bis heute wird der Zugang zu NAK-Archiven manchmal restriktiv gehandhabt – eine Beobachtung, die auf den bisweilen problematischen Umgang der NAK mit der wissenschaftlichen Erforschung ihrer Geschichte hinweist (vgl. auch MD 7/2015, 260f). Dieses Problem bei der Auswertung von NAK-eigenen Quellen kann für die NS-Zeit ausgeglichen werden, indem man staatliche Quellen zurate zieht, denn in dieser Zeit sammelte der Staat selbst eifrig Material über die NAK. Der Autor dokumentiert diese akribische staatliche Erfassung der NAK-Mitglieder im gesamten Reich. Die Nazis verschafften sich einen exakten Überblick über Zahlen, Namen und politische Einstellung neuapostolischer Christen. Ihnen musste also der Erfolg der eigenen Unterdrückungsmaßnahmen, das heißt das Zurückdrängen der „Sekte“, ab 1933 bekannt sein. Trotzdem stellte der Staat sie aus Propagandagründen nach außen als rapide wachsende Größe dar, um die Sektengefahr groß erscheinen zu lassen. Viele Autoren stützten sich in den folgenden Jahrzehnten unkritisch insbesondere auf das „Leitheft über die Neuapostolische Gemeinde“, eine NS-Publikation vom Mai 1937, die deutlich nach oben gefälschte Zahlen enthielt. Die NAK ihrerseits strickte aus anderen Gründen an derselben Legende. Sie hatte sich aus Anpassung von 1933 bis 1945 öffentlich als blühende Kirche im blühenden Staat dargestellt und hielt auch nach dem Krieg ihre Mitgliederstatistiken geheim (vieles wurde auch vernichtet). Das angebliche Wachstum unter der Diktatur wurde als göttliche Bewahrung in schwerer Zeit gedeutet und galt noch Jahrzehnte später als Ausweis für das segensreiche Wirken des umstrittenen Stammapostels Johann Gottfried Bischoff (Amtszeit 1930 – 1960).
Von der Handvoll früherer Untersuchungen zum Thema unterscheidet sich das Buch methodisch durch das zugrunde liegende umfangreiche Archivquellenstudium, derweil die Vorgängerpublikationen (Christine E. King, Michael König u. a.) sich an kirchliche und staatliche Veröffentlichungen aus der NS-Zeit und wenige leicht zugängliche Archivquellen hielten. Diese älteren Untersuchungen litten daran, dass sie diese problematischen Quellen obendrein erkennbar jeweils einseitig mit akkusatorischem oder apologetischem Interesse interpretierten. Wenn kirchliche Amtsträger einer von Verbot bedrohten Kirche in einer gewalttätigen Diktatur sich öffentlich äußern, liegt es auf der Hand, dass die nachträgliche Lektüre dieser öffentlichen Worte nur schwer zwischen vorauseilendem Gehorsam, Willfährigkeit, Angst, echter Zustimmung und gewieftem Vortäuschen unterscheiden kann, sofern keine weiteren Quellen vorliegen.
Krauss fragt nur am Rande danach, wie viel gespielte und wie viel echte nationalsozialistische Gesinnung in den vielen anbiedernden Äußerungen und den Parteimitgliedschaften führender Amtsträger stecken mochte. Immerhin wertet er auch hier aussagekräftige Quellen aus, z. B. Briefe, die deutsche NAK-Mitglieder im Ausland (Absender und Empfänger) miteinander austauschten. Stellt man diese Briefe neben zeitnahe Äußerungen derselben Briefpartner innerhalb Deutschlands, dann erkennt man: Die innerdeutschen Briefäußerungen zum NS-Staat, die überwacht wurden, sind oft diametral entgegengesetzt zu dem, was man privatim im ausländischen Postverkehr austauschte. Hier liegt, entsprechende weitere Quellen vorausgesetzt, noch viel Forschungspotenzial: Machte die Mitgliedschaft in der NAK, einer sehr hierarchisch nach Führerprinzip aufgebauten Kirche, die Menschen überdurchschnittlich NS-anfällig? Oder war es umgekehrt: Immunisierte die strikte Orientierung am Stammapostel eher gegen die Verführung der Nazis?
Es ist zwar nur ein Randthema dieser Unter-suchung, aber aus evangelischer Sicht ist es interessant zu sehen, wie die Landeskirchen reagierten, als die ihnen unbequemen Sekten unter staatlichen Druck gerieten. Gleich nach dem Verbot von Jehovas Zeugen im Juli 1933 forderte der Leiter des Evangelischen Pressedienstes epd öffentlich, das Verbot auf die NAK auszudehnen. Kurz nachdem der NS-Staat im Juni 1933 der NAK ein Werbeverbot erteilt hatte, wies der württembergische Landesbischof Theophil Wurm seine Dekanatämter an, darüber „Bericht zu erstatten, wie sich das staatliche Eingreifen ... ausgewirkt hat ... und ob Versuche gemacht wurden, das staatliche Werbeverbot zu umgehen“ (65f). Offen bleibt, ob irgendwo Verstöße gegen das Werbeverbot bemerkt und an die Kirchenleitung gemeldet wurden und ob diese wiederum die entsprechenden NAK-Christen beim Staat denunzierte.
Das kirchliche Klima gegenüber der NAK – deren rasantes Wachstum der Zwischenkriegszeit überwiegend aus evangelischen Konvertiten bestand – klingt im Brief eines Pfarrers an, der 1935 vermeldet, „daß trotz aller Wucht der apost[olischen] Sache ihr Anprall insofern aufgefangen ist, daß nur noch Leute wie Kommunisten u[nd] sittlich Minderwertige davon angezogen werden“ (67f). Andernorts versuchte ein Pfarrer, den Bau eines NAK-Andachtssaals mithilfe der NS-Behörden zu verhindern. Vieles weist darauf hin, dass die evangelische Kirche vom staatlichen Verfolgungsdruck gegen die NAK zu profitieren hoffte.
Wohltuend ist der sachliche Ton des Buches, das seine Befunde weder übertrieben apologetisch noch mit der weit verbreiteten Selbstgerechtigkeit des Spätgeborenen kommentiert und moralisch bewertet. Zahlreiche Tabellen, Grafiken, Register usw. machen das Buch gut für die Weiterarbeit geeignet.
Leicht getrübt wird die Lesbarkeit des trotz allem trockenen Themas durch eine allzu häufige Zurschaustellung und Diskussion von Fachbegriffen des Historikerhandwerks. Wenn z. B. Briefe in einem totalitären Überwachungsstaat nur begrenzte Rückschlüsse auf das Denken ihrer Autoren zulassen, so versteht man das auch ohne Erläuterungen der methodologischen Sekundärliteratur zum Thema „Diskurssemantik“. Eine sehr gute historische Arbeit gewinnt dadurch ebenso wenig wie ein solides Möbelstück dadurch wertvoller oder bewundernswerter wird, dass der Tischler Säge und Hobel sichtbar danebenlegt.
Kai Funkschmidt