Die neue Engelreligion. Lichtgestalten - dunkle Mächte
Thomas Ruster, Die neue Engelreligion. Lichtgestalten – dunkle Mächte, Butzon & Bercker, Kevelaer 2010, 264 Seiten, 17,90 Euro.
„Die Engelreligion schickt sich an, die Religion der Zukunft zu werden“ (9). Bei aller Mehrdeutigkeit des Religionsbegriffes und auch wenn beileibe nicht alles, was tagtäglich zum Thema „Engel“ auf den Schreibtisch und ins Beratungsgespräch wandert, sich substanziell als „Religion“ qualifizieren lässt, trifft diese Aussage durchaus zu. Eine ganze Menge religiöser Aspekte findet sich in der stetig zunehmenden esoterischen Engelgläubigkeit allemal. Thomas Ruster, Professor für Systematische Theologie (katholisch) an der Universität Dortmund, legt nun den Versuch einer zeitgemäßen Hermeneutik dieses Engelglaubens in der aktuellen Religionskultur vor. Er regt an, dass sich das Christentum vom zeitgenössischen Engelboom inspirieren lasse, dabei aber das unterscheidend Christliche ins Spiel bringe – und dass sich Engelgläubige „dem christlichen Glauben öffnen“ (10). Zunächst bietet das Buch einen kenntnisreichen Durchgang durch Namen, Programmatiken und Versprechungen der Engelszene (11-27). Auch die „dunklen Kräfte“, Gewalt, Zerstörung und Todessehnsucht, deren Ausdruck der Autor vor allem in der Heavy-Metal- und der Gothic-Szene findet, werden nicht ausgespart (12-48). Betrachtet man die Liebe, Leben und Heil versprechenden Offerten der Engelreligion, scheint die positive und optimistische Variante des Engelglaubens bedürfnisorientiert und im Handlungsmodus der Postmoderne die besten Elemente aus verschiedensten Religionen, auch des Christentums, adaptiert zu haben (50-55). Doch wie kann sich eine Religion, die sich inhaltlich stark aus den Bedürfnissen ihrer Anhänger speist, vor den negativen Folgen einer bloßen Bedürfnisbefriedigung bewahren (28ff und 45ff)? Unversehens findet man sich bei Rusters Beschreibung der Engelreligion in einer spannenden Kritik von Kapitalismus und maßlosem Selbsterhaltungsstreben. Die neue Engelreligion bleibt in ihrer Bedürfniserfüllung jedenfalls privatistisch: „Warum hören wir nie etwas von Engeln, die zum Öffentlichen Nahverkehr raten? Oder zur Treue in der Partnerschaft?“, fragt der Autor (47). Trotz der Ambivalenz scheint Ruster jedoch vor allem die Chance in dieser Entwicklung zu sehen: Es könne wieder mythologisch gedacht werden.Im systematischen Teil versucht der Autor zunächst zu klären, was Christen über den Himmel denken: Der Gott der Christen, der Gott Israels, transzendiere den von ihm geschaffenen Himmel sowie dessen Bewohner (Himmelswesen) und Elemente (Sonne, Sterne). Sein Wohnort sei gleichzeitig in und über den Himmeln und in der Welt. Er sei deshalb der Gott der Freiheit und des Lebens, was ihn von den Göttern im Himmel und den Mächten der Welt unterscheide – erster Aspekt der Differenzierung zur „lichten Seite der Engelreligion“ wie zur „dunklen Seite“ (45-48, 64-72).
Nach einem vergnüglich zu lesenden Durchgang durch zeitgenössische, altkirchliche und mittelalterliche Angelologie (109-153) präsentiert Ruster dann seinen eigenen Entwurf: Auch im 21. Jahrhundert, in dem eine hierarchische und ständische Gesellschaftsordnung kein adäquates hermeneutisches Modell mehr sein kann, soll der Himmel verstanden werden. Unter Rückgriff auf dynamische Himmelsvorstellungen nach Hildegard von Bingen sowie auf den Gedanken von „Schutz- oder Folgegeistern“, den er auch bei Romano Guardini findet, legt er ein von der Systemtheorie Niklas Luhmanns inspiriertes Modell des Engelglaubens vor: Engel, ob „gute“ oder „böse“, könnten – ganz knapp gesagt – als (beg)leitende und vor allem verstärkende Kräfte in Systemen und Prozessen, die sich positiv oder negativ entwickeln, begriffen werden. „Gute Engel“ und „Schutzengel“ stellt der Autor als Prinzipien der maßvollen Selbsterhaltung im System vor (154-176). Angesichts der Gefahr, dass Selbsterhaltung auch in Zerstörung anderer und aller münden kann (als Beispiele führt er u. a. Umweltzerstörung und destruktive wirtschaftliche Prozesse an), müssen sich christliche Engel jedoch von diesen rein selbsterhaltenden Kräften unterscheiden. Doch auf welche Weise? Engel tauchen in den Schriften der Bibel und des frühen Judentums vor allem dann auf, wenn das Gesetz der Tora im einzelnen Menschen wie im Volk zur Umsetzung gebracht werden soll. Nicht mehr Selbsterhaltung, sondern die göttliche Rechtsordnung ist die „Codierung des Systems“ der Engel der Bibel. Diese zielt als erstes und höchstes auf die Liebe des Menschen zu Gott und kann so gegen die exzessiven selbsterhaltenden Tendenzen des Menschen das Leben bewahren und fördern.Die Engel der Bibel – so ein zweiter Aspekt der Differenzierung – motivieren und stärken zum Befolgen der Gebote und zur Entscheidung für das Leben (177-213). Ein dritter Aspekt lautet: Auch nach dem Christusereignis haben Engel nicht einfach „ausgedient“. Christus ist die „leibhaftige Gestalt der Tora“ (221), der die Macht des Bösen und des Todes besiegte. Jetzt sei die Tora an Jesus zu lesen (223), den die Engel verkündigen, den sie lobpreisen, dessen Auftrag sie dienen. „Ohne Glauben an Gott kann es keine Rettung vor der Macht des Bösen geben“ (240).Als Weltanschauungsbeauftragte bin ich an manchen Stellen über den theologischen Vertrauensvorschuss verwundert, den einzelne Angebote beim Autor genießen. Ich hätte mir einen noch kritischeren Blick auf Protagonisten und manches sich konflikthaft auswirkende Angebot gewünscht. Hilfreich für die eigene Positionierung hätte ich auch eine noch deutlichere Einordnung gefunden: Was wäre von dem, was wir auf dem Engelmarkt erleben, als eine Form ernst zu nehmender Religiosität wahrzunehmen? Was würde in den Bereich einer rein psychologischen Deutung gehören? Was sollte gar in den Bereich der „theologischen Scharlatanerie“ verbannt werden? Eine solche Einordnung hätte möglicherweise aber dem konstruktiven Wahrnehmungsinteresse des Autors widersprochen und war vielleicht auch nicht sein Anliegen.
Als Theologin freue ich mich jedoch vor allem über den produktiven Umgang mit dem Thema. Das Buch nimmt einen Trend der zeitgenössischen Religionskultur als relevant für Systematische Theologie wahr. Es stellt m. E. einen originellen und nachdenkenswerten Versuch dar, die Vorstellungen über Sein und Wirken von Engeln in Texten der Heiligen Schrift, der Geschichte und Tradition und im Leben engelgläubiger Menschen zueinander zu vermitteln. Das Wirken der biblischen Engel im Horizont der göttlichen Rechtsordnung zu deuten, ist ein neues und hilfreiches Element, zeitgenössischen Engelboom und christliche Rede über Engel voneinander zu unterscheiden. Die systemtheoretische Hermeneutik überzeugt hier dadurch, dass sie Verstehenshilfe sowohl für negative wie für positive Dynamiken bietet. Man wünscht sich, dass dieser Entwurf das systematische Denken über Engel weiter anregt. Dazu hat der Autor ein aktuelles, an vielen Stellen überzeugendes und zur Diskussion anregendes Verstehenskonzept dargelegt. Die Lektüre des Buches ist spannend und packend!
Marianne Brandl, München