Markus Schmidt

Die neue Leipziger Universitätskirche St. Pauli

Ein Neubau an den Grenzen von Gottes- und Weltwirklichkeit in Ostdeutschland

Am 3. Dezember 2017 ist die neue Leipziger Universitätskirche St. Pauli mit einem Festgottesdienst eingeweiht worden.1 Damit ist nicht nur eine zwölfjährige Bauzeit, sondern auch ein weiteres Kapitel der Diskussionen und des Streites um diesen Bau zum Abschluss gekommen, aber mit Sicherheit noch nicht das Ende der Geschichte erreicht. Gleichwohl gibt die Historie des Neubaus bis zu seiner Einweihung Einblicke in die derzeitige weltanschauliche Situation der sog. neuen Bundesländer, die zwischen den Polen des postsozialistischen Erbes (atheistische Normalkultur; Erbe einer Diktatur inkl. der Wiedergutmachungsaufgaben), des bundesdeutschen Staat-Kirche-Verhältnisses und der postmodernen Pluralismen ausgespannt ist. Dass der Freistaat Sachsen als Bauherr und Geldgeber den Neubau einer Universitätskirche plante und durchführte, hatte die Gemüter von Befürwortern wie Gegnern des Baus erhitzt.

Sprengung der Universitätskirche 1968 und Einweihung des Paulinums 2017

Am 30. Mai 1968 hatte das DDR-Regime (inkl. Stadt und Universität Leipzig) die alte Universitätskirche St. Pauli gesprengt und samt ihrer Ausstattung und der Grablegen barbarisch vernichtet.2 Die Paulinerkirche, Kirche des Dominikanerklosters von 1240, seit 1543 im Besitz der Leipziger Universität und 1545 von Martin Luther als Universitätskirche eingeweiht, hatte alle Kriege nahezu unbeschadet überstanden. Als historischer Ort der Universitätsgottesdienste, der Kirchenmusik (eine der Wirkungsstätten Johann Sebastian Bachs) sowie akademischer und staatlicher Festivitäten diente sie der Universität als Kirche und als solche auch als Aula. Der DDR war die gotische Kirche ein Dorn im Auge, sodass sie am neu benannten Karl-Marx-Platz einem funktionalen Campus-Neubau, der ebenfalls neu benannten Karl-Marx-Universität, weichen musste.

Nach der Wiedervereinigung wurden Rufe nach einem Wiederaufbau der Paulinerkirche laut (der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche trug sicher dazu bei).3 Pläne, zum 600-jährigen Universitätsjubiläum im Jahr 2009 einen neuen Campus am Augustusplatz entstehen zu lassen, entfachten einen Streit über das Wie der Gestaltungen am Ort der gesprengten Kirche, der im Jahr 2003 sogar bis zum Rücktritt des Rektors und der Prorektoren führte.4 Der schließlich akzeptierte und nun mit Verspätung verwirklichte Entwurf des niederländischen Architekten Erick van Egeraat schuf an der Stelle der vormaligen Kirche einen Neubau, dem alten Grundriss nahezu entsprechend. Die neue Innen- und Außengestaltung nimmt markante Elemente des gotischen Vorgängerbaus auf, dabei hält die Asymmetrie der Fassade und des Daches eine Momentaufnahme der in sich zusammenstürzenden gesprengten Kirche baulich fest, und zugleich bilden mehrere Etagen ein universitäres Hochhaus. Damit sind in dem nun nutzbaren Gebäude die drei Funktionen eines Neubaus, eines Wiederaufbaus und eines Mahnmals vereint, was zweifellos einen weiten Spagat darstellt. Dieser Neubau bildet gemäß der Konzeption „das wieder erstandene geistige und geistliche Zentrum der Universität Leipzig. Architektonisch an die 1968 gesprengte Universitätskirche erinnernd, beherbergt es zahlreiche vor der Vernichtung gerettete Kunstschätze. Das Paulinum ist als Ort für akademische Veranstaltungen, Universitätsgottesdienste, Konzerte der Universitätsmusik und Veranstaltungen mit Kooperationspartnern eine lebendige Begegnungsstätte.“5

Aula und/oder Kirche?

In einem von der Universität Leipzig, dem Freistaat Sachsen, der sächsischen Landeskirche und der Stadt Leipzig 2008 beschlossenen sog. Harms-Kompromiss (benannt nach dessen Moderatorin, Generalbundesanwältin Monika Harms) wurden Name und Funktion des Gebäudes festgelegt, womit der dreifache Spagat allerdings nicht aufgelöst werden konnte.6 Das „Paulinum – Aula und Universitätskirche St. Pauli“, wie es heißen sollte und heute heißt und womit praktisch die Fassade und das Erdgeschoss (der Aula- bzw. Kirchenraum) benannt werden, stellt die Nutzer vor Fragen. Zwar scheint der Titel „Paulinum“ einleuchtend zu sein und führt bereits zu historischen Rückprojektionen, nach denen die vormalige Kirche so geheißen habe. Doch die eigentlichen Unklarheiten werden im Untertitel am Wort „und“ (je nach Schreibweise auch als Schrägstrich oder Hochpunkt) deutlich: Welcher Teil ist die Aula? Was davon ist die Kirche? Ist die Aula etwa auch eine Kirche oder aber soll die Kirche auch eine Aula sein? Damit befinden wir uns nicht nur in einer Reihe von bau- und nutzungstechnischen Fragestellungen. Schwerer wiegen die dahinterliegenden weltanschaulichen Verhältnisbestimmungen von Religion und Wissenschaft in der Öffentlichkeit, von Glauben und Vernunft, aus theologischer Sicht letztlich von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit.

Dem damaligen Rektor der Universität kam es auf klare und erkennbare Trennlinien an. Er setzte gegen den Architektenentwurf eine bis zu 17 Meter hohe, am Mittelschiff zu öffnende Plexiglaswand durch, die in mathematischer Exaktheit die Grenze zwischen Andachtsraum (kleinerer Chorraum) und Aula (größere, dreischiffige Halle) markieren sollte und wie ein Lettner zu stehen gekommen ist (ein solcher gliederte bis zur Reformation auch die einstige Klosterkirche).

Andere Stimmen, auch im genannten Harms-Kompromiss vertreten, sehen den Raum in seiner Gesamtheit sowohl als Kirche als auch als Aula. Demnach ist festgelegt, dass beispielsweise die vor der Sprengung gerettete Barock-Kanzel an einer Säule im Schiff wieder errichtet werden soll. Für die Befürworter der Glaswand stünde sie damit allerdings auf der falschen Seite. Daher steht sie bis heute nicht. (Man spricht von klimatechnischen Erprobungen zu beiden Seiten des Plexiglases, von deren Ausgang die Entscheidung über die Installation der Kanzel abhänge.7)

Die Feierlichkeiten zur Einweihung des Paulinums vom 1. bis 3. Dezember 2017 sprechen eine eigene Sprache. Dem Festgottesdienst der evangelisch-lutherischen Universitätsgemeinde ging ein Festakt der Universität voraus. Getrennte Veranstaltungen folgten damit aufeinander, die jeweils den gesamten Raum, also die Verbindung von Chor und Halle mit geöffnetem Plexiglas, beanspruchten. Sie mögen von der Erkenntnis zeugen, dass Gottes- und Weltwirklichkeit nicht einfach zu dividieren sind. Im Festgottesdienst unter der Überschrift „Einweihung der Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig“ war ausdrücklich von der „Weihe der Orgeln“ zu beiden Seiten des Plexiglases, „des Ambos“, „des Taufsteins“ und „der Altäre“ die Rede (im Übrigen waren die Vasa sacra nicht zu weihen, da sie, gerettet aus der alten Kirche, in die neue überführt wurden).8

Eine konfessionelle Universitätskirche im konfessionslosen Umfeld

Am Beispiel des neuen Leipziger Paulinums, das zugleich eine Aula und eine Kirche – je nach Definition in unterschiedlichen Gewichtsanteilen – ist, zeigt sich eindrücklich die gegenwärtige weltanschauliche Lage im Osten Deutschlands.

Offiziell sind die evangelisch-lutherischen Universitätsgottesdienste nicht nur Gottesdienste an der Universität, sondern Gottesdienste der Universität Leipzig. Ihre Stellung ist durch die staatskirchenrechtliche Definition des Amtes des Universitätspredigers geregelt. Doch die Praxis des christlichen Glaubens in einer bestimmten konfessionellen und institutionellen Gestalt entbehrt allgemeiner Plausibilität. Die Proteste der vergangenen Jahre gegen die neue Universitätskirche aufseiten der Vertreter der Universität Leipzig und der Studierendenschaft zeigen dies. Die Vereinbarkeit einerseits von weltanschaulicher Neutralität des Staates mit seinen Einrichtungen wie einer Universität und andererseits von in dessen Bereich praktizierter Religion ist für die Mehrheit der Menschen undenkbar geworden. Es leuchtet nicht ein, wozu eine Universität Religion braucht, erst recht eine bestimmte Religion.

Natürlich wird daran die absolute Minderheitensituation des Christentums im Osten Deutschlands erkennbar. Auch zeigt sich, dass klassische Denkmuster wie eine Unvereinbarkeit von Glauben und (Natur-)Wissenschaft oder eine laizistische Trennung von Staat und Kirche die ostdeutsche Kultur dominieren. In dieser Kultur steht für die meisten Menschen außer Frage, dass es normal ist, atheistisch zu sein, während die Zugehörigkeit und Praktizierung einer Religion das über das Normale hinausgehende Besondere bedeutet.

Auf dieses Gleis springen religions- und kirchenkritische Gruppen wie die Giordano-Bruno-Stiftung auf. So rief die Giordano-Bruno-Stiftung zusammen mit dem Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten für den 2. Dezember 2017 zu einer Demonstration vor dem Leipziger Paulinum auf: „Keine Kanzel! Kein Gottesdienst! Keine Kirche! Für ein weltliches Paulinum!“ Die Veranstalter warben mit einer „symbolischen ENTweihung“, „damit auch der letzte Ewiggestrige endlich versteht: Im Paulinum ist eine Aula und keine Kirche!“9 Die kleine Veranstaltung blieb allerdings fast ohne Presseberichte.10

Dass die Einrichtung einer konfessionellen Universitätskirche vielen nicht einleuchtet, ist darüber hinaus auch mittlerweile mit postmodernen pluralistischen Sichtweisen verbunden, die die Egalität der Religionen und Religiositäten postuliert. Allerdings wird diese Egalität nicht egalitär gehandhabt. So befindet sich etwa die junge und kleine Muslimische Hochschulgemeinde Leipzig derzeit noch unter den postalischen Fittichen des „Student_innenRates“,11 der einst in einer Pressemeldung die Kanzel der alten Paulinerkirche „für klassische Predigten, aber auch für DJ_ane-Sets, Aufführungen eines Puppentheaters und den Getränkeausschank auf einer Veranstaltung“ zum Verkauf angeboten hatte.12

Ein Hoffnungszeichen

Das Paulinum am Leipziger Augustusplatz füllt als Aula und als Universitätskirche eine Lücke im verletzten Herzen der Stadt. Die neu eingeweihte Universitätskirche St. Pauli tritt durch ihre Nutzung unübersehbar ins Blickfeld der Bürger und der Universitätsangehörigen. Die Nutzung des Raumes wird auch zeigen, welche Funktionen er übernimmt und welche Rollen ihn definieren. Dass der Raum ein Sakralgebäude darstellt, wird seine leuchtende Architektur jedenfalls jedem Besucher, egal zu welcher Veranstaltung, erkennbar machen. Ein Symbol der Grenzen des Rationalismus ist er allemal.

So bleibt zu hoffen, dass die verschiedenen Veranstaltungsträger „die Kathedrale des Wissens, der Erkenntnis und des Glaubens“ „gemeinsam“ und „nicht gegeneinander“ nutzen mögen, wie es der sächsische Landtagspräsident in seinem Grußwort zum Einweihungsgottesdienst wünschte.13 Auch bleibt zu erhoffen, dass diese Universitätskirche das weltanschauliche Klima in Leipzig und darüber hinaus positiv beeinflusst. Was die klimatechnischen Messungen vor und hinter der Plexiglaswand in den kommenden Monaten ergeben werden, wird sich zeigen. Vielleicht tragen sie zur Erhellung des geheimnisvollen „und“ im neuen Namen bei.


Markus Schmidt


Anmerkungen

  1. Vgl. z.B. www.evlks.de/aktuelles/alle-nachrichten/nachricht/news/detail/News/universitaetskirche-st-pauli-in-dienst-genommen ; www.lvz.de/Leipzig/Lokales/Universitaetsprediger-Zimmerling-bezeichnet-neue-Kirche-als-Wunder-von-Leipzig  (Abruf aller Internetseiten: 7.12.2017).
  2. Zur Historie der alten Universitätskirche und darüber hinaus zu den Bedeutungen des Neubaus vgl. diverse Beiträge in: Peter Zimmerling (Hg.), Universitätskirche St. Pauli. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Leipzig 2017.
  3. Es gründete sich beispielsweise 1992 der „Paulinerverein – Bürgerinitiative zum Wiederaufbau von Universitätskirche und Augusteum in Leipzig e. V.“, vgl. www.paulinerverein.de ; www.paulinerverein-dokumente.de .
  4. Zu chronologischen Details vgl. die Darstellungen unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Paulinerkirche_(Leipzig); de.wikipedia.org/wiki/Paulinum_(Universität_Leipzig).
  5. www.campus-augustusplatz.de/paulinum .
  6. Vgl. dazu die in Fußnote 4 genannten Seiten in Wikipedia oder auch www.welt.de/kultur/article2888475/Einigung-im-Streit-um-die-Paulinerkirche.html .
  7. www.bild.de/regional/leipzig/kirchen/paulinerkirche-kriegt-kanzel-zurueck-39619120.bild.html .
  8. Vgl. das Programmheft des Gottesdienstes am 3. Dezember 2017.
  9. www.gbs-le.de/Paulinum-Demo .
  10. www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2017/12/Kirchenkritiker-protestieren-gegen-Paulinum-Eroeffnung-199280 .
  11. www.leipzig.de/detailansicht-adresse/muslimische-hochschulgemeinde-leipzig-mhg-leipzig.
  12. https://stura.uni-leipzig.de/news/kanzelverkauf-fur-die-hochschulfinanzierung-sachsen .
  13. www.lvz.de/Leipzig/Lokales/Universitaetsprediger-Zimmerling-bezeichnet-neue-Kirche-als-Wunder-von-Leipzig .