Dietrich Hellmund

Die „Neue-Welt-Übersetzung“ - die Bibel der Zeugen Jehovas

I. Ihre Besonderheiten

In der Welt der deutschsprachigen Bibelübersetzungen ist die Neue-Welt-Übersetzung (NWÜ) – in der englischen Ausgabe: New World Bible Translation (NWBT) – ein Sonderfall. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, warum dies so ist.

Ihre erste Besonderheit:

Obwohl es darüber keine Statistik gibt, wird die NWÜ in Privathaushalten anzutreffen sein, egal, ob die Familie evangelisch oder katholisch oder sonst etwas ist. Bei Zeugen Jehovas (ZJ) aber nimmt sie natürlich den „ersten Platz“ ein, denn sie verdankt ihre Entstehung der persönlichen Initiative des früheren Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft, Nathan Homer Knorr (1905-1977). Die starke Verbreitung der NWÜ ist eine der Wirkungen der missionarischen Tätigkeiten der ZJ, vor allem ihrer Hausbesuche.

Die zweite Besonderheit:

Die NWÜ gibt es nicht nur in Deutsch, sondern auch in anderen Sprachen. Man hat vermutet, dass sie in fast allen Sprachen erschienen sei, in die „Der Wachtturm“ und „Erwachet!“, die beiden Periodika der ZJ, übersetzt werden. Das ist nicht der Fall.

„Der Wachtturm“ erschien im Jahre 2005 in 151 Sprachen; „Erwachet!“ in 82 Sprachen. Die NWBT aber wurde bis 2002 – ganz oder teilweise – in 40 Sprachen übersetzt (lt. Wachtturm vom 15.9.2002, 29). Ihr erster Teil, den wir das Neue Testament nennen, erschien im August 1950. Die Zeugen Jehovas sprechen stattdessen von den „Christlichen Griechischen Schriften“.

Eine dritte Besonderheit der NWÜ, die nicht nur in sprachlicher, sondern für uns als Christen vor allem in theologischer Hinsicht fragwürdig erscheint: Die Gottesbezeichnung „Jehova“, die bekanntlich in Glauben und Verkündigung der ZJ als vorrangig gilt, wurde nicht nur im Alten Testament, sondern darüber hinaus 237-mal im Haupttext des Neuen Testaments verwendet. Über diese Eintragung einer dogmatischen Besonderheit der ZJ ins Neue Testament wird im letzten Teil dieses Beitrags ausführlicher zu sprechen sein. Aber, so könnte jemand sagen, wenn die ZJ den Leuten eine Bibel bringen, dann haben sie doch Anteil an der Bibelverbreitung in der Welt. Die Art und Weise der Übersetzung sei ja wohl Geschmackssache.

Nun ist aber mit der Verbreitung der NWÜ ein handfestes inhaltliches Problem gegeben. Wie kann die NWÜ weltweit verbreitet sein, wenn doch im Wesentlichen nur in Deutschland und einigen Nachbarländern deutsch gesprochen wird? Hier ist auf eine vierte, eine entscheidende Besonderheit hinzuweisen: Bei der NWÜ, die die ZJ in den verschiedenen Sprachen verbreiten, handelt es sich immer um Tochterübersetzungen der englischen Vorlage, der New World Bible Translation (NWBT). Ob man nun eine ZJ-Bibel auf Französisch oder Schwedisch, Spanisch oder Portugiesisch liest, es ist immer eine Tochterübersetzung der englischen Ausgabe! Schlimmer noch: die aus den Reihen der ZJ stammenden Übersetzer sind verpflichtet, nicht etwa den griechischen bzw. den hebräischen Grundtext der Bibel für ihre Arbeit zugrunde zu legen, sondern ausschließlich die NWBT. Dieser englische Text ist für sie sozusagen der „Urtext“. Eine Kontrolle dieser „Übersetzungen“ erfolgt nur durch das Kollektiv derer, die zum Übersetzungskomitee gehören und die darauf achten, ob der englische Wortlaut auch richtig wiedergegeben wurde. Und es muss in die sektentypische Spezialsprache übersetzt werden. Diese hat sich längst bei den ZJ herausgebildet.

Beispiele werden wir noch nennen. Hier schon einmal zwei typische Beispiele:

1.) Wenn durchgehend das griechische Wort „charis“ mit „unverdiente Güte“ statt mit „Gnade“ übersetzt wird, so finde ich das sehr gelungen. 2.) Wenn aber das griechische Wort „kolasis“ (Strafe, Züchtigung) mit dem Begriff „Abschneidung“ wiedergegeben wird, dann ist das nicht nur deswegen seltsam, weil der DUDEN, das maßgebliche deutsche Wörterbuch (Aufl. 1996) diesen Begriff nicht kennt. Wenn aber Matthäus 25,46 „ewige Kolasis“ nicht mit „ewiger Strafe“, sondern mit „ewiger Abschneidung“ übersetzt wurde, dann hat das dogmatische Gründe: Nach der ZJ-Lehre gibt es keine „ewige Strafe“ nach dem Tode, sondern nur totale Vernichtung, kein Bewusstsein mehr, nur ewigen Tod. „Ewige Strafe“ würde aus ZJ-Sicht einer ewigen Höllenqual gleichkommen. Die aber gibt es nicht, sagt die ZJ-Lehre. Um also den einfachen ZJ nicht auf „falsche Gedanken“ zu bringen, wird bewusst falsch und irreführend übersetzt. Hier wird etwas in die Bibel hineingetragen mittels einer angeblichen Übersetzung. So entstand eine „frisierte“ Bibel mit dem Ziel der Indoktrination. Natürlich wird den ZJ gesagt: „die Andern“ übersetzten nicht richtig; der Einzelne kann es ja in aller Regel nicht nachprüfen.

Weitere Beispiele für solche Eintragung der ZJ-Glaubenslehre in die NWBT gibt es massenhaft. Wenigstens einige werde ich noch vorstellen, wenn ich einiges über die Qualifikation dieser fälschlich sogenannten Bibelübersetzung sage.

Lässt sich jemand auf ein Gespräch mit ZJ ein, so trifft er früher oder später auch auf die NWÜ und deren Einschätzung als (1.) die beste – weil „richtige“ – Übersetzung. Und sie sei (2.) verständlich, denn sie spreche die Sprache unserer Zeit. Ist dieser doppelte Anspruch stichhaltig? Um beim Letzten zu beginnen: Handelt es sich wirklich um verständliche Sprache, wenn 1. Mose 1,20 nach der NWÜ lautet: „Die Wasser sollen ein Gewimmel lebender Seelen hervorwimmeln und fliegende Geschöpfe mögen an der Vorderseite an der Ausdehnung der Himmel über der Erde fliegen“? Oder wenn es Joh 1,18 heißt: „Der einziggezeugte Gott, der am Busenplatz des Vaters ist, der hat über ihn Aufschluss gegeben“? Oder wenn die bekannten Worte des auferstandenen Jesus „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ in der NWÜ lauten: „...bis zum Abschluss des Systems der Dinge“ (Matth 28,20)? Man fragt sich doch, was daran verständlicher sein soll, als der uns vertraute Text der Luther-Übersetzung. – Übrigens: das Wort „System“ kommt aus dem Griechischen. Schon die Schreiber des Neuen Testaments hätten es also verwenden können. Sie taten es nicht! Sollten heutige Übersetzer nicht ihren Willen respektieren?

Die Urheber der NWÜ aber hatten auch hier ein lehrmäßiges Interesse daran, im NT nicht vom „Ende der Welt“ zu lesen. Nach ZJ-Lehre ist es nicht die Welt, die untergeht, sondern nur das ungerechte gegenwärtige System. Darum steht es so in der NWÜ!

In der Geschichte der deutschsprachigen Bibelübersetzungen hat es in der Germanenmission schon einmal den Fall gegeben, dass eine Bibel für Missionszwecke bewusst tendenziös übersetzt wurde. Diese Übersetzung ist der „Heliand“. Doch zurück zur NWÜ – 1. Vorzug: korrekte Übersetzung: Dazu bedarf es natürlich genauer Kenntnis der Sprachen.


II. Wie steht es mit der fachlichen Kompetenz der Übersetzerteams?

1. Wurden textkritische Erkenntnisse berücksichtigt?

In einer früheren Besprechung der NWÜ (in Nr. 23/24 der Zeitschrift „Brücke zum Menschen“) habe ich der Verarbeitung textkritischer Einsichten ein hohes Lob ausgestellt. – Die Textkritik geht der Frage nach: Welchen Text haben vermutlich die Verfasser biblischer Schriften geschrieben? Was sagen die ältesten und deshalb zuverlässigsten Bibelhandschriften? – Darüber sind die Wachtturm-Führer informiert, wie der diesbezügliche Stoff für die „theokratische Predigtdienstschule“ der ZJ zeigt. Deshalb bleibe ich bei meinem, vor 30 Jahren ausgesprochenen Lob. Allerdings nahm ich damals an, dass die Übersetzer ins Englische wenigstens den hebräischen (bzw. aramäischen) und griechischen Urtext in der jeweils aktuellen wissenschaftlichen Urtextausgabe zur Verfügung hatten und auswerten konnten. (Es gibt ja vor allem im neutestamentlichen Bereich immer wieder neue Funde von biblischen Handschriften und Papyrusresten.) Diese Illusion über die Urtextkenntnis des Neue-Welt-Übersetzungskomitees habe ich heute nicht mehr.

2. Kannte das Übersetzerteam die biblischen Ursprachen?

In diesem knapp zehn Leute umfassenden Gremium war der damalige Vizepräsident der Wachtturm-Gesellschaft, „Freddy“ Franz, der einzige, der überhaupt Kenntnisse der Urtextsprachen Griechisch und Hebräisch für sich in Anspruch nahm, was ihm dann auch bei Diskussionen über Sinn und Wortlaut des Urtextes einen überragenden Einfluss verschaffte. Denn die anderen „Übersetzer“ kannten die alten Sprachen nicht.

Was jedoch von dem Können des einzigen Kenners alter Sprachen zu halten ist – dafür gab sich „Freddy“ Franz aus – wurde in einem Prozess vor dem Schottischen Gerichtshof im November 1954 deutlich. Da stand er nämlich in einem Kreuzverhör und musste Fragen des Anwalts der Gegenseite beantworten. Hier die Übersetzung des aufschlussreichen Dialogs:

„Frage: Sie haben sich also mit Hebräisch vertraut gemacht?

Antwort: Ja ...

Frage: So dass Sie einen wirklichen linguistischen Apparat zu Ihrer Verfügung haben?

Antwort: Ja, für den Gebrauch meiner Arbeit an der Bibel.

Frage: Ich denke, Sie sind in der Lage, die Bibel in Hebräisch, Griechisch, Latein, Spanisch, Portugiesisch, Deutsch und Englisch zu lesen und ihrem Gedankengang zu folgen?

Antwort: Ja ...

Frage: Sie selber lesen und sprechen Hebräisch, nicht wahr?

Antwort: Ich spreche nicht Hebräisch.

Frage: Nein?

Antwort: Nein.

Frage: Können Sie dies ins Hebräische übersetzen?

Antwort: Was?

Frage: Diesen vierten Vers aus dem zweiten Kapitel des Buches Genesis?

Antwort: Sie meinen diesen hier?

Frage: Ja?

Antwort: Nein. Ich möchte nicht versuchen, das zu tun.“1

„Freddy“ Franz scheiterte an einer vergleichsweise leichten Aufgabe. Wie aber kann man sich dann an die schwierige Aufgabe der Übersetzung der ganzen Bibel heranwagen? Ganz einfach: die „Übersetzer“ nahmen vorhandene Bibelübersetzungen in englischer Sprache, verglichen sie und wählten einen eigenen Wortlaut, der ihnen zusagte. War jedoch der Sinn einer Stelle unklar, zweideutig oder widersprüchlich schon in der Originalfassung, gab es in der Bibliothek der Wachtturm-Gesellschaft wissenschaftliche oder populäre Kommentare. Die benutzte man als Entscheidungshilfe, natürlich ohne den eigenen Anhängern etwas davon zu sagen oder Quellenhinweise in den Einleitungen zur NWBT oder im Wachtturm zu geben.2

3. Eine Zwischenbilanz

Was nach den bisherigen Ausführungen von der NWÜ zu halten ist, sei in drei Thesen festgestellt:

• Die NWÜ ist nicht das Ergebnis fachkundiger Übersetzung aus den Ursprachen, sondern es wurde ohne nennenswerte Urtextkenntnis aus X Bibelübersetzungen eine neue gemacht.

• Das Bearbeitungsteam hat das auf diese Weise erzielte Ergebnis mit der zur Zeit vertretenen Glaubenslehre der Wachtturm-Gesellschaft verglichen und ihr weitgehend angepasst. Mit anderen Worten: Man hat die eigene Glaubenslehre so stark berücksichtigt, dass der biblische Wortlaut und Wortsinn bestenfalls „zweiter Sieger“ wurde.

• Die so entstandene englische „Mutterübersetzung“ wurde in der Folgezeit in viele andere Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche, und so kamen wir zu „unserer“ NWÜ. (Näheres dazu ist von mir eingangs unter „die vierte, entscheidende Besonderheit“ bereits ausgeführt.)

Es sei dem Leser und der Leserin überlassen, darüber zu entscheiden, ob das ganze Verfahren noch als seriös gelten kann. Gleichwohl hat die NWÜ auch kleine Vorteile:


III. Vor- und Nachteile der ZJ-Bibel

Vorteilhaft für den Leser ist es beispielsweise, dass die NWÜ auf spätere – meist mittelalterliche – Texterweiterungen aufmerksam macht. Die hat das Team aufgrund der Befunde der englischen Bibelübersetzungen und Kommentare nicht in der NWÜ wiederholt, sondern ausgemerzt. Dafür zwei Beispiele:

• Bei Apostelgeschichte 8,37 handelt es sich um eine spätere Hinzufügung zum ursprünglichen Text der Apostelgeschichte. Die NWÜ deutet dies an durch einen waagerechten Strich hinter der 37.

• Markus 16,8 bricht der echte Markustext ab. Spätere Abschreiber wollten ergänzen, was als Schluss ihrer Ansicht nach noch folgen müsste. Die NWÜ hat zwei derartige Ergänzungen abgedruckt, einen „kurzen Schluss“ und einen „langen Schluss“. So bleibt erkennbar: Markus 16,8 endet der ursprüngliche, der „echte“ Markustext. Gut so!

Jedem Übersetzer, jedem Übersetzerteam sei zugestanden, dass man an gewissen Stellen der Bibel nicht umhin kann, nach eigenem Bibelverständnis und eigenem Glaubensurteil zu übersetzen. Ein Beispiel: Luk 23,43 übersetzt die NWÜ: „Wahrlich, ich sage dir heute: Du wirst mit mir im Paradies sein.“ Aus dem dogmatisch entgegengesetzten Grund kann jemand genauso richtig das „heute“ in den Nachsatz ziehen: „... du wirst heute mit mir im Paradiese sein“. Vom biblischen Wortlaut her ist beides möglich und erlaubt. Von der Logik her aber ist in der ZJ-Übersetzung das „heute“ überflüssig. Ich sage ja auch nicht: Heute sage ich dir: „Guten Morgen!“.

Empfehlenswert ist, wenn man – wie in der NWÜ geschehen – das Gebot 2. Mose 20,13 übersetzt: „Du sollst nicht morden“ (statt „nicht töten“). Das ist genauer als der uns vertraute Luthertext. Dies Ermessen des Übersetzers ist jedoch deutlich überschritten, wenn 1. Joh 5,8 in der NWÜ wegen der Ablehnung der Dreieinigkeitslehre lautet: „Diese drei sind in Übereinstimmung“. Das Wort kommt im Urtext gar nicht vor. Im Deutschen wäre es ein bekanntes Fremdwort: „Harmonie“. Was aber wirklich dasteht, war dem Übersetzerteam sehr lästig. Sprachlich ist es ohne Schwierigkeit, obwohl es aus Zahlwörtern besteht: „Die Drei sind zum einen“ (hoi treis eis to hen eisin). Oder: Die 3 sind 1.

Eine weitere Korrektur durch Interpretation erlitt Markus 14,22: „Das ist mein Leib“. Luthers Text, wörtlich und richtig, lässt seinem und dem symbolischen Verständnis Raum und fordert das eigene Urteil des Lesers heraus. Die NWÜ sagt hier: „Dies bedeutet meinen Leib“. Gespräche mit ZJ nur über diese Stelle zeigen mir, dass die NWÜ-Benutzer zu ganz abenteuerlichen Vorstellungen darüber kommen, was tatsächlich dasteht: Tuto estin to soma mu. Das kann man in der von der Wachtturm-Gesellschaft herausgegebenen Urtextausgabe, einer Wort-für-Wort-Übersetzung, auch so nachlesen: „This is the body of me“! (The Kingdom Interlinear Translation of the Greek Scriptures). In den beiden letztgenannten Fällen ging das ZJ-Team weit über den Rahmen einer Übersetzung hinaus und auch über die Grenze der intellektuellen und christlichen Redlichkeit. Nach welchen Kriterien haben Bibelübersetzer zu arbeiten? „So wörtlich wie möglich; so frei wie nötig!“ Das muss der Maßstab sein. Das hätte der Maßstab sein müssen auch bei der NWÜ. Stattdessen wählte man den Weg der Indoktrination. Die Führung brauchte eine eigene Bibel, um die von ihr vertretenen Lehren zu stützen und zu rechtfertigen. Dazu erwiesen alle früheren Übersetzungen sich vermutlich als zu „sperrig“.

Die so erklärbaren Eintragungen in die Bibel der ZJ lassen sich gar nicht alle auflisten. Bevor wir uns wenigstens bedeutsame Beispiele anschauen, werfen wir einen Blick auf die in der NWÜ vorgenommene Änderung der altbekannten Buchtitel „Neues Testament“ bzw. „Altes Testament“ (vorgegeben durch 2. Kor 3,14): Sie wurden ersetzt durch die höchst unklaren Bezeichnungen „Christliche Griechische Schriften“ und „Hebräisch-Aramäische Schriften“. Eine deutliche Unterscheidung dieser beiden Schriftensammlungen nimmt die NWÜ nur im Inhaltsverzeichnis vor, während im Bibeltext selbst es nach dem letzten Buch des AT, nämlich Maleachi, ohne Leerseite weitergeht mit „Nach Matthäus“ und der fortlaufenden Seitenzahl. Lediglich eine kurze Bemerkung in Klammern erinnert (in der revidierten Fassung von 1986 und 1987) am Ende des Prophetenbuchs Maleachi den Leser noch daran, dass unsere Bibel aus zwei Teilen besteht. Dieser kleine Hinweis in Klammern genügt nicht. Der Grund? Als Christen legen wir Wert auf deutliche Unterscheidung von AT und NT. Wir haben jedem Versuch und jeder Versuchung zur „Einebnung“ der heiligen Schrift zu widerstehen. Diese „Einebnung“ bewirkt ja, J e s u s und sein Evangelium als Gottes letztes Wort zu relativieren und allem, was in der Bibel geschrieben steht, gleichen Rang und gleiche Verbindlichkeit zuzuschreiben.3

Mit dem System der totalen Ersetzung des kirchlichen und biblischen Sprachgebrauchs in der NWÜ wird übrigens unterstellt, die Kirchen hätten so ziemlich alles falsch gemacht, und nun rücke die Wachtturm-Gesellschaft – „Jehova sei Dank!“ – endlich alles zurecht... Es ist aber doch zu fragen, ob „Christliche Griechische Schriften“ als neuer Titel des NT wirklich eine Verbesserung darstellt. Sind z.B. christliche Märtyrerakten aus der Frühzeit des Christentums etwa keine christlichen Schriften?


IV. Eintragung von ZJ-„Erkenntnissen“ und Bezeichnungen

1. Einige Beispiele

Es fängt an mit der konsequenten Ersetzung des Begriffsfeldes „Kreuz, Kreuzigung, kreuzigen“ durch das Wort Pfahl und entsprechende Abwandlungen. (Nach ZJ-Lehre ist Jesus nicht am Kreuz, sondern an einem Marterpfahl zu Tode gekommen.) Weiter geht’s mit der Ersetzung der Ankündigung der Wiederkunft oder des Kommens Christi durch die NWÜ-Formulierung von der „Gegenwart Christi“. Auf diese Weise hofften die Schöpfer der NWÜ die von den ZJ-Führern konstruierte Lehre von der angeblichen „unsichtbaren Gegenwart Christi seit 1914“ (nach früherer WT-Lehre schon 1874!) „biblisch“ belegen zu können. Nun lässt sich das Wort „parousia“, das alle anderen Übersetzer mit „Wiederkunft“ oder „Kommen“ (Christi) wiedergegeben haben, tatsächlich auch mit „Gegenwart“ übersetzen. Was von Fall zu Fall gemeint ist, lässt sich jedoch aus dem Zusammenhang erkennen, und es ist zu beachten, dass die Rede von seiner „parousia“ nur vor dem Hintergrund der Ankündigung seines Weggehens zum Vater zu verstehen ist (z.B. Joh 14,3). Wenn also die Jünger nach den Zeichen seiner „parousia“ fragten, werden sie damit doch die Signale gemeint haben, die auf sein nahes Wiederkommen hindeuten? Wird nicht auch eine Mutter, wenn ihr Sohn auf Reisen geht, ihn fragen: „Wann kommst du wieder?“ Sie wird doch kaum sagen: „Wann bist du gegenwärtig“? Kenner der Wachtturm-Bewegung wissen, dass ihre Lehre von der „unsichtbaren Gegenwart Christi seit 1914“ (bzw. früher: seit 1874) das Endergebnis der gescheiterten Datenberechnungen ihrer Frühgeschichte darstellt. Damit wird vollends klar, dass es sich bei der NWÜ-Formulierung von der „Gegenwart“ des Herrn auch um Eintragung einer bibelfremden ZJ-Sonderlehre handelt.

Geradezu peinlich wirkt die Eintragung von Ausdrücken, die dem internen Jargon der „theokratischen Organisation“ entstammen: Da ist im NT-Teil der NWÜ plötzlich von „Versammlung“ die Rede statt von Gemeinde: Jesus wird als „Unterweiser“ angeredet (z.B. Luk 5,5; 9,33; 9,49). Und natürlich lehrten die Apostel – laut NWÜ – „öffentlich und von Haus zu Haus“ statt „öffentlich und in (Privat-)Häusern“. In Apg 2,46 aber ließ sich diese Eintragung der ZJ-Arbeitsmethode in den biblischen Text nicht durchhalten. Da heißt es nämlich: Sie „brachen das Brot hier und dort in den Häusern“. Das geht wohl schlecht von Haus zu Haus.

Eine Kuriosität leisteten sich die Schöpfer der NWÜ im Zusammenhang mit dem Engelbesuch im Hause der Maria. Die Worte Gabriels „sei gegrüßt, du Begnadete“, klangen für sie wohl „zu katholisch“. Also lautet Luk 1,28 in der NWÜ: „Guten Tag, du Hochbegünstigte“. Von „Guten Tag“ aber steht nichts im Grundtext des NT, abgesehen davon, dass der Engelbesuch zu einer ganz anderen Tages- oder Nachtzeit erfolgt sein könnte. Zu dem heute gängigen „Guten Tag“ passt übrigens schon der nächste Satz nicht mehr, wonach Maria erschrak und dachte, „Welch ein Gruß ist das?“ Nach der NWÜ: „Sie aber wurde bei dem Wort tief beunruhigt und begann zu überlegen, was das für ein Gruß sei“ (Vers 29).

2. Ersetzung biblischer Bezeichnungen für Amtsträger durch solche der ZJ

Beginnen wir mit einer Ausnahme: gelassen hat man den Titel „Apostel“ (man hätte sonst ja auch die Apostelgeschichte gleich mit „umtaufen“ müssen). Aber ersetzt wurden Bezeichnungen wie Diakon, Presbyter und Bischof, alles biblische, aus dem Griechischen des NT von der Kirche übernommene Lehnwörter – und Amtsbezeichnungen. Grund genug, sie durch „theokratische“ Titel zu ersetzen. So wurde aus einer Diakonin (Röm 16,1) eine „Dienerin der Versammlung“ (entsprechend der Ämterbezeichnung der ZJ um 1950, als die NWÜ ihre ersten Gehversuche machte). Doch klären wir die Amtsbezeichnungen in den neutestamentlichen Gemeinden der Reihe nach:

a) Die Diakone. Sie werden in der NWÜ zu „Dienstamtsgehilfen“ (wie in der ZJ-Versammlung). Der Diakon – übrigens ein Lehnwort aus dem neutestamentlichen Griechisch – ist der Helfer für Hilflose, für Alte, Arme und Kranke. Diesen sozialen, verantwortungsvollen Dienst an den Schwächsten unserer menschlichen Gesellschaft haben Menschen aus allen christlichen Kirchen, seitdem es sie gibt, in großer Treue wahrgenommen. „Diakonie“ ist ein unverzichtbarer Arbeitszweig aller Kirchen und biblisch gefordert. Heute gehören Kindergärten, Waisenheime und Krankenhäuser zur „Diakonie“. Wo unterhalten Jehovas Zeugen solche karitativen Einrichtungen (wenn man von Heimen für altgewordene „Bethelmitarbeiter“ einmal absieht)? Soll also die Ersetzung des Diakons durch den „Dienstamtsgehilfen“ dieses Defizit verdecken? – Offenbar unerwünscht ist auch

b) der Bischof. Dessen Aufgabenbereich hat sich zwar deutlich erweitert seit den Tagen der Apostel, aber die Bezeichnung hat doch eine 2000-jährige Tradition. In der Antike war der „Episkopos“ im profanen Bereich ein Kassenwart. Eingedeutscht als „Bischof“ haben später die jeweiligen kirchlichen Amtsinhaber aus ihrer Grundaufgabe – der Gemeindeleitung – die Leitung vieler Gemeinden gemacht. In unserem Zusammenhang ist das nicht näher auszuführen. Hier ist etwas anderes bedeutsam: Die NWÜ macht aus dem Bischof einen „Aufseher“ (z.B. 1. Tim 3,1). Damit wird dem Benutzer suggeriert: Unser Aufseheramt in der „theokratischen Organisation“ ist biblisch. Die Kirchen aber haben Ämter, die keinen Grund in der Bibel haben!

c) Presbyter, Ältester. – Diese biblische Amtsbezeichnung bedeutete zur Zeit der Entstehung der NWÜ für die Wachtturm-Gesellschaft ein heikles Problem: Der zweite Präsident in ihrer Geschichte, der Jurist J. F. Rutherford, hatte nämlich das Amt des gewählten Ältesten für „untheokratisch und unbiblisch“ erklärt, obwohl (oder gerade weil!)es in der demokratischen Gemeindestruktur der „Bibelforscher“ in der Zeit ihres Gründers, C. T. Russell, in hohem Ansehen gestanden hatte. Im Namen der seit Rutherford in der ZJ-Organisation angeblich schon verwirklichten Theokratie („Gottesherrschaft“) wurden seither die „Wahlältesten“ der Russell-Ära verpönt und verhöhnt. Als 1950 der erste Teil der NWÜ erschien, war der Diktator und Wahl-Ältestenfeind Rutherford erst acht Jahre tot; darum wäre es für viele ZJ geradezu provozierend gewesen, in der NWÜ vom „Ältesten“ zu sprechen. Man wich lieber auf den „Älteren Mann“ aus (z.B. 2. Joh 1,1). Bei dieser Übersetzung ist man auch bis heute geblieben. In der heutigen ZJ-Organisation aber heißen seit den siebziger Jahren die leitenden Brüder in den „Versammlungen“ wieder „Älteste“ (nun aber werden sie nicht gewählt, wie unter Russell, sondern „von oben eingesetzt“ wie unter Rutherford). Nun wäre es an sich passend und nützlich nach bewährter Wachtturmlogik, auch in der NWÜ von „Ältesten“ zu sprechen... Doch was nicht ist, kann noch werden! Die wechselvolle Geschichte der Wachtturm-Gesellschaft ist ja noch nicht zu Ende.

3. Die Eintragung der Gottesbezeichnung „Jehova“ in den Wortlaut des NT

Hier handelt es sich um einen weiteren Beleg für die Eintragung von ZJ-Lehren in die heilige Schrift. Die „Übersetzer“ hofften wohl, durch den „Transfer“ des „Jehova“-Namens in das Neue Testament die schmale Basis dieser (falschen) Lesart des alttestamentlichen Gottesnamens zu verbessern. Was jedoch – wie seit über 100 Jahren bekannt – nachweislich falsch ausgesprochen ist, wird auch durch dessen Übernahme ins Neue Testament nicht richtig.

Viel wichtiger als die Frage der korrekten Lesart aber ist die Feststellung: Unter den ca. 6000 griechischen Handschriften mit dem griechischen Urtext des NT gibt es keine einzige (!), die den Gottesnamen Jahwe (oder gar „Jehova“) aufweist. Das gilt auch für die zahlreichen alttestamentlichen Zitate im NT, in denen aufgrund des hebräischen Wortlauts dieser Stellen das „Tetragramm“ (JHWH) hätte vorkommen können. Es wird jedoch immer nur die damals geläufige Übersetzung ins Griechische zitiert, die sog. Septuaginta. Kein einziges Mal wird der Name Jehova hier genannt, sondern „kyrios“, der Herr.

Das entspricht seit dem 3. Jh. vor Christus dem jüdischen Verständnis des zweiten Gebots und der damit verbundenen Gebetssitte. – „Du darfst den Namen Gottes nicht unnützlich führen“, bedeutet von da an bis heute: Gottes Name ist heilig zu halten und wird deshalb nicht ausgesprochen. Kommt er in den heiligen Schriften Israels vor, und wird die Stelle im Gottesdienst der Synagoge verlesen, so wird an seiner Stelle bis auf diesen Tag „Adonai“ (mein Herr) gelesen (griech. „Kyrios“) oder auch „Schem“ (Name Gottes). Diese Sitte, den Namen nicht auszusprechen, begegnet uns auch in der um 200 v. Chr. entstandenen Septuaginta-Übersetzung und im Neuen Testament. Die Eintragung des „Jehova“-Namens an 237 Stellen des Neuen Testaments verschweigt also gleichzeitig einen wichtigen Tatbestand, der mit dem biblischen Gebrauch des Gottesnamens zusammenhängt.

Geradezu empörend ist es für gläubige Christen, dass die „Übersetzer“, wenn im NT bei alttestamentlichen Zitaten „der Herr“ geschrieben steht, auch dann noch „Jehova“ einsetzten, wenn die neutestamentlichen Schreiber das Zitat offensichtlich auf Jesus Christus beziehen (z.B. Röm 10,13). Wo das der Fall ist, geht es aus dem Zusammenhang hervor.

Die Urheber der NWÜ wurden aber ihrer eigenen Regel4 dann untreu, wenn sie durch Ersetzen des Wortes „Herr“ durch „Jehova“ gleichsam ein „Eigentor geschossen“ hätten. So bei dem Jesuswort Matth 7,21-23, das bei Anwendung ihrer eigenen Regel in der NWÜ hätte lauten müssen: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Jehova, Jehova, wird in das Königreich der Himmel eingehen.“ Vernichtend für des Namens inflationären Gebrauch, der im Zweiten Gebot ausdrücklich untersagt wird! Noch vernichtender wäre es für die ZJ geworden, hätte man auch in Luk 6,46 für „ o Herr“ das Wort „Jehova“ eingesetzt: „Warum nennt ihr mich ‚Jehova, Jehova’, tut aber die Dinge nicht, die ich sage?“ Genau darum geht es bei dieser ihrer Art, die Bibel zu bearbeiten.

Die „Übersetzer“ der NWÜ, die sich als „Sklaven Jehovas“ verstehen, haben die Bibel zu ihrem Sklaven gemacht, indem sie diese zur Rechtfertigung ihrer Sonderlehren in den Dienst nahmen. Ich vermisse den schlichten Gehorsam gegenüber dem verbindlichen Bibelwort. So gesehen ist die NWÜ ein kritisch zu lesender Kommentar zu den Lehren einer Glaubensgemeinschaft. Mehr nicht. Für mich gilt: „Neue-Welt-Übersetzung“ – nein danke!


Dietrich Hellmund, Hamburg


Anmerkungen

1 Edmond C. Gruss in: „Wir verließen Jehovas Zeugen“ (engl.), zitiert in: Brücke zum Menschen Nr.131, 21, in einem Beitrag von Lothar Gassmann, „Die Neue-Welt-Übersetzung“, Auszüge aus seinem Buch „Zeugen Jehovas. Geschichte, Lehre, Beurteilung“, Neuhausen/Stuttgart 1996.

2 Diese Fakten wurden bekannt durch das frühere Mitglied der „Leitenden Körperschaft“ der ZJ, Raymond Franz (Neffe des oben erwähnten Fred Franz). Raymond Franz schrieb nach seinem Bruch mit den ZJ das Buch „Der Gewissenskonflikt“, auf das wir empfehlend hinweisen, 382 Seiten, München 1996. Beziehbar auch beim Bruderdienst.

3 Die Notwendigkeit der Unterscheidung von AT und NT wurde ausführlich nachgewiesen in: Brücke zum Menschen Nr. 154 „Was trügt, was trägt? Kriegsdebatte stellt unser Schriftverständnis auf den Prüfstand.“

4 Ihre Regel ist nachzulesen in der „Neuen-Welt-Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften“, Ausg. 1961/63, im Vorwort, 5f.