Elias Bornemann

Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates

Mohr Siebeck, Tübingen 2020, 306 Seiten, 89,00 Euro.

In dem vorliegenden Buch widmet sich der Jurist Elias Bornemann der Untersuchung eines Schlüsselbegriffs des deutschen Religionsverfassungsrechts. Die Arbeit ist die Dissertationsschrift des Autors, die dieser an der Bucerius Law School in Hamburg eingereicht hat. Er geht darin dem Prinzip der staatlichen Neutralität auf den Grund, welches im Grundgesetz zwar nicht explizit benannt, sondern vom Bundesverfassungsgericht entwickelt wurde (13), aber dennoch von ExpertInnen als zentrale Norm definiert wird.

Bornemann befragt das Neutralitätsverständnis vor dem Hintergrund einer religionspolitischen Debatte, in der der Umgang mit sichtbarer Religion nicht länger selbstverständlich sei, sondern aufgrund der religiösen Pluralisierungsprozesse immer häufiger als Herausforderung und Ursache für gesellschaftliche Spannungen wahrgenommen werde. Dabei identifiziert er drei zentrale Wirkungsfelder, auf denen Religion als Konflikt in Erscheinung tritt: Religion als gelebtes Bekenntnis, Religion als zu bewahrende Ressource kultureller Identität sowie Religion als Ursache oder zumindest als Projektionsfläche von Angst (2f). Im gesellschaftspolitischen Umgang mit als konfliktär wahrgenommener Religion werden Regel- und Aushandlungsoptionen aufgerufen, und es wird geprüft, inwieweit die verfassungsrechtlichen Bestimmungen zur Religion konkrete Antworten auf offene Fragen bereitstellen, inwiefern sie als ein „umfassendes Ordnungssystem“ (10) dienen können.

Diese Fragen führen direkt zum Neutralitätsprinzip des Staates, das der Autor unter Rekurs auf den Verfassungsrechtler Christian Waldhoff als eine „das gesamte Religionsrecht beherrschende Übernorm“ markiert (12), dessen systematische Erörterung einen vielversprechenden Beitrag zur religionspolitischen Debatte in Deutschland verspricht. Der Autor unternimmt deshalb den Versuch, eine systematische Übersicht über die verschiedenen Neutralitätsverständnisse zu erstellen, wie sie sich in dem umfangreichen Diskurs über das Religionsverfassungsrecht in Deutschland bislang entwickelt haben. Er macht damit auch deutlich, dass das Neutralitätsprinzip nicht erst in jüngerer Zeit an Relevanz gewonnen hat, sondern zeigt auf, wie viele verschiedene Ansätze sich im Laufe der Jahre in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt haben. Darüber hinaus verknüpft er diese systematische Analyse der rechtswissenschaftlichen Diskurse zum Neutralitätsverständnis mit Betrachtungen aus der politischen Philosophie, da er die inhaltlichen Positionen dort als „klarer ausdifferenziert“ wahrnimmt. Durch diesen disziplinübergreifenden Zugang zum Neutralitätsprinzip beabsichtigt er, „bestimmte Muster im parallel verlaufenden Diskurs der eigenen Disziplin klarer sehen und bewerten zu können“ (19).

Der Diskurs der politischen Philosophie, vorangetrieben von Autoren wie beispielsweise Jürgen Habermas, Charles Taylor oder John Rawls, wurde bereits vielfach aufgearbeitet. Die Arbeit von Bornemann besticht dennoch, vor allem durch die strukturierte Betrachtung der rechtswissenschaftlichen Diskurse. So ist angesichts der verschiedenen Neutralitätsverständnisse zunächst eine Bestandsaufnahme der Aspekte von zentraler Bedeutung, die für ein verfassungskonformes Neutralitätsverständnis unerlässlich sind. Der Autor identifiziert vier Dimensionen des Religionsverfassungsrechts, die sich in dem Konzept der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates widerspiegeln müssen (101f): Jedes Konzept muss die Trennung von Staat und Religion beinhalten. Dies wird im Religionsverfassungsrecht etwa durch ein Verbot der Staatskirche (Art. 137, Abs. 1 WRV i.V.m. Art. 140 GG) zum Ausdruck gebracht. Zudem muss das Konzept den Schutz der Religion vor staatlichen Übergriffen berücksichtigten. Dies wird von Bornemann als „antistaatliches Moment“ (101) bezeichnet und etwa auf Artikel 4 des Grundgesetzes zurückgeführt. Neben diesen beiden Aspekten muss ein verfassungskonformes Konzept auch ein „gleichheitliches Moment“ (ebd.) beinhalten. Als vierte Dimension bezieht Bornemann ein „religionsnahes Moment“ ein, das Ausdruck der kooperativen Trennung von Staat und Religion in Deutschland ist und sich etwa vom Prinzip der Laizität unterscheidet.

Ein verfassungskonformes Neutralitätsverständnis muss diese vier Aspekte beinhalten. Die Art jedoch, wie sie gewichtet und miteinander in Beziehung gesetzt werden, führt zu zahlreichen Deutungsansätzen. Bornemann systematisiert die verschiedenen Konzepte durch die idealtypische Einteilung in positive und negative Neutralität (vgl. 124). Er erläutert die Kategorien durch konkrete Ansätze und zeigt dabei auch ihre Spannweite auf. Im Fall der negativen Neutralität stellt er etwa die Ansätze von Herbert Krüger, Erwin Fischer und Gerhard Czermak dar. Als Charakteristika dieses Neutralitätsverständnisses kristallisiert der Autor neben der Hervorhebung des institutionellen Trennungsgebots, das nur in sehr engen Grenzen legitim überschritten werden darf (vgl. 150), auch die Bedeutung des gleichheitlichen Arguments für die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates heraus. Neutralität kann den VertreterInnen der negativen Neutralität zufolge demnach sowohl durch die Trennung von Staat und Religion als auch durch die gleiche Hereinnahme von Religionen und Weltanschauungen erreicht werden (vgl. 147). In den Ansätzen der negativen Neutralität werden die vier Momente des Religionsverfassungsrechts aufgenommen, wobei vor allem dem religionsnahen Moment eine geringere Relevanz zugeordnet wird (vgl. 152).

Die positive Neutralität ist in der Rechtswissenschaft dem Autor zufolge weiter verbreitet, wenngleich auch nicht als einheitliches Konzept vertreten (vgl. 159). Bornemann stellt drei Facetten als entscheidende Charakteristika dieses Neutralitätsverständnisses heraus: zum einen die „wohlwollende Unverschlossenheit“ (160) des Staates gegenüber der Religion. Anders als bei der negativen Neutralität wird hier eine prinzipielle Zugewandtheit des Staates zur Religion betont. Zudem zeichne sich die positive Neutralität durch eine „grundsätzliche Offenheit“ (163) des Staates gegenüber Religionen und Weltanschauungen aus und stelle ihnen damit Möglichkeiten bereit, sich öffentlich einzubringen. Als dritte Dimension identifiziert der Autor die „Pflicht zu positiver Religionspflege“ (164) und bezeichnet damit die Auffassung, dass der Staat zur aktiven, am Gleichheitsgrundsatz orientierten Förderung verpflichtet ist. Die staatliche Neutralität komme darin zum Ausdruck, dass der Staat nicht auf ein Bekenntnis festgelegt ist, sondern die Religions- und Sinnfrage ohne eigenes Bekenntnis fördert (vgl. ebd.).

Das positive Neutralitätsverständnis wird vom religionsnahen Moment dominiert. Dem Staat kommt darin die Aufgabe zu, Zugänge und Räume zur Entfaltung von Religion und Weltanschauung zu schaffen. VertreterInnen der positiven Neutralität sehen in der gesellschaftlichen Betätigung des Sozial- und Kulturstaats die Erfordernis, „auch innerhalb der staatlichen Öffentlichkeit religiöse Freiheitsausübung zu ermöglichen“ (166).

Zusätzlich liegt dem Verständnis positiver Neutralität sowohl ein positiver Blick auf den Staat als auch auf die Religion zugrunde. Der Religion wird zugetraut, einen wichtigen Mehrwert, etwa als Antriebs- und Bindungskraft, für den säkularen Staat bereitzustellen. Dem Staat wiederum wird zugetraut, die religiöse Freiheit auch in der staatlich organisierten Öffentlichkeit zu gewährleisten und die Religion nicht für staatliche Zwecke zu instrumentalisieren und zu missbrauchen (vgl. 171).

Durch diesen Zugang stellt das positive Neutralitätsverständnis mehr Ansätze bereit, um auf Herausforderungen, etwa bei Grundrechtsabwägungen oder gleichheitsrechtlichen Konfliktkonstellationen, zu reagieren. Allerdings birgt es die Gefahr, sich zu sehr im positiven Verständnis zu erschöpfen. Ein negatives Neutralitätsverständnis, das auf der Betonung der Distanz zwischen Staat und Religionen basiert, bietet hingegen weniger Möglichkeiten zur Aushandlung der genannten Konflikte. Eine Kombination aus beiden Verständnissen scheint dem Autor deshalb als gangbarer Weg, um sowohl die verschiedenen Momente des Religionsverfassungsrechts umfassend abzubilden als auch der Ambivalenz des Religiösen selbst gerecht zu werden (vgl. 255).

Dem Autor gelingt es in seiner Arbeit, Struktur in einen komplexen Diskurs zu bringen. Er zeigt dabei auf, dass die Diversität der Neutralitätsverständnisse „nicht einem Fehler im juristischen Diskurs geschuldet [ist], sondern sie … dem Thema an sich inhärent [ist] – in der Deutungsoffenheit des Neutralitätsbegriffs spiegelt sich der Facettenreichtum des Verhältnisses von Staat und Religion“ (251) und auch die Ambiguität des Religiösen. Zugleich erleichtert er durch seine Arbeit die Berücksichtigung und den Umgang mit dieser Diversität. Damit leistet der Autor einen unverzichtbaren Beitrag für eine informierte und differenzierte Debatte über religionspolitische Frage- und Konfliktstellungen der Gegenwart.


Hanna Fülling, 01.03.2022