Arno Schilberg

Die Rolle von Kultur und Religion im Recht

Beschlüsse des 70. Deutschen Juristentages 2014

Das deutsche Recht unterscheidet zwischen Zivilrecht und öffentlichem Recht. Das Zivilrecht regelt die Rechtsbeziehungen zwischen Bürgern, z. B. durch das Bürgerliche Gesetzbuch. Das öffentliche Recht umfasst die Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Bürgern. Zu diesem Bereich gehört z. B. das Baurecht oder das Steuerrecht. Ein spezieller Teil des öffentlichen Rechts ist das Strafrecht, das Inhalt und Umfang der staatlichen Strafbefugnis bestimmt. Bevor auf die aktuellen Diskussionen im Strafrecht und auf den Deutschen Juristentag eingegangen wird, wird kurz das Zivilrecht gestreift.

Zivilrecht

Im Zivilrecht hat sich insbesondere Mathias Rohe der Frage gewidmet, ob es ein religiös gespaltenes Zivilrecht in Deutschland (und Europa) geben könne.1 Dies gilt insbesondere im Familien- und Erbrecht, das in besonders enger Bindung zu rechtskulturellen Grundvorstellungen der Gesellschaft steht. Von muslimischer Seite wird gelegentlich angeregt oder sogar gefordert, bürgerliche Rechtsverhältnisse, insbesondere im Bereich des Familien- und Erbrechts, in der bislang vorherrschenden Anknüpfung an Staatsangehörigkeit oder gewöhnlichen Aufenthalt der Beteiligten zu lösen oder zu einem religionsorientierten Anknüpfungssystem überzugehen.2 Rohe konstatiert, dass sich aus Art. 4 GG kein Anspruch auf Etablierung einer religiös angeknüpften Privatrechtsordnung ableiten lässt. Umgekehrt sei der staatlichen Neutralitätspflicht auch zu entnehmen, dass bei hinreichendem Inlandsbezug niemand gegen seinen Willen an bewusst religiös begründeten Vorschriften festgehalten werde, die inhaltlich vom geltenden deutschen Sachrecht abweichen. Insbesondere im islamischen Recht bestünden ungeachtet reformierter Ansätze in vielerlei Hinsicht Regelungen fort, die mit der heutigen deutschen und europäischen Haltung zur Religionsfreiheit und zur Gleichberechtigung der Geschlechter nicht vereinbar seien, wenngleich in den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich ausgeprägt. Beispiele (nach Rohe):

  • interreligiöse Eheverbote,
  • Zwangsscheidungen nach Konversion eines muslimischen Ehemannes zu einem anderen Glauben,
  • bestimmte Konstellationen von Minderjährigenehen,
  • vereinzelte Vorschriften über die Eheschließung gegen den Willen der Braut,
  • die Zulassung der Polygynie und das Recht des Ehemannes, über Aufenthalt und außerhäusige Tätigkeit der Ehefrau zu bestimmen,
  • das einseitige, keiner Begründung bedürftige Scheidungsrecht des Ehemannes,
  • die pauschale Zuweisung der Vermögenssorge und hinsichtlich älterer Kinder der Personensorge an den Vater,
  • zu geringe Unterhaltsansprüche der (unfreiwillig) geschiedenen Ehefrau,
  • das Adoptionsverbot,
  • die überwiegend zwingende Zuweisung halber Erbteile an überlebende Ehefrauen bzw. Töchter im Verhältnis zu denen überlebender Ehemänner bzw. Söhne.3

Rohe weist darauf hin, dass das deutsche Sachenrecht in vielen relevanten Bereichen durch ein erhebliches Maß an Gestaltungsfreiheit zur Berücksichtigung religiös begründeter Anliegen kommen könne. Letztendlich spricht er sich gegen eine generelle religiöse Rechtsspaltung in Deutschland aus, da

  • es kein annähernd einheitliches islamisches Recht gebe, welches als Grundlage für die Rechtsbeziehung von Muslimen gelten könne,
  • ein erheblicher Teil des in weiten Teilen der islamischen Welt geltenden islamisch geprägten Familien- und Erbrechts dem deutschen ordre public widerspreche,
  • eine zwingende Anwendung religiös orientierter Vorschriften auf Muslime verfassungsrechtlich unhaltbar wäre,
  • es zu einer gegliederten Gerichtsbarkeit käme,
  • es der allgemein geltenden, nicht religiös orientierten Zivilrechtsordnung widerspräche und
  • für Inlandsfälle das geltende deutsche Sachrecht hinreichende Gestaltungsspielräume biete, in deren Rahmen auch religiös-rechtliche Anliegen verfolgt werden können.

Strafrecht

Der Deutsche Juristentag (DJT) ist ein eingetragener und als gemeinnützig anerkannter Verein, dessen Mitglieder Juristen sind. Dieser veranstaltet alle zwei Jahre die Tagung „Deutscher Juristentag“. Dieser rechtspolitische Kongress wurde 2014 in Hannover von über 2600 Teilnehmern besucht.4 Die strafrechtliche Abteilung des Juristentages beschäftigte sich 2014 mit der Frage, ob als Folge der kulturellen und religiösen Pluralisierung der in Deutschland lebenden Bevölkerung Änderungen im Strafrecht zu empfehlen sind. Kulturelle und religiöse Hintergründe einer Tat spielen in Strafverfahren selbstverständlich eine Rolle. Umstritten ist, ob diese bereits die individuelle Rechtswidrigkeit der Strafe infrage stellen oder bei der Strafzumessung strafmildernd oder strafschärfend berücksichtigt werden. In der Literatur wurde bereits ein Kulturprivileg, das über den Bereich der Sozialadäquanz und Bagatellfälle hinausgeht, als mit dem Grundgedanken des Strafrechts unvereinbar abgelehnt.5 Ein Schwerpunkt des Deutschen Juristentages lag auf der Untersuchung von Verbotsnormen im Strafgesetzbuch, die Delikten mit kulturellen oder religiösen Tathintergründen gelten. Im Einzelnen wurden folgende Fragen behandelt:

  • Zeitgemäßheit der Bekenntnisbeschimpfung (§ 166 StGB),
  • Änderungsbedarf im Hinblick auf sonstige Äußerungsdelikte,
  • Erweiterung des Tatbestands der Volksverhetzung (§ 130 StGB) betreffend Verbreitung rassistischer Gedanken,
  • Empfehlungen für den Tatbestand „Verstümmelung weiblicher Genitalien“ (§ 226 a StGB) und den Rechtfertigungsgrund für die Beschneidung von Jungen (§ 1631 d BGB),
  • Verbot der Zwangsheirat (§ 237 StGB), insbesondere die Erfassung von im Ausland begangenen Tathandlungen,
  • „cultural defenses“: Ergibt sich aus der kulturellen Biografie des Täters und seiner Beweggründe die Forderung nach Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen?
  • Welche Rolle kommt den Religionsgrundrechten in Art. 4 Abs. 1, 2 GG im strafrechtlichen Kontext der Rechtfertigung und Entschuldigung zu?
  • Sind kulturelle und religiöse Tathintergründe als schuldmindernde Umstände einzustufen und strafmildernd zu berücksichtigen? Dies spielt bei der Auslegung des Merkmals „niedrige Beweggründe“ beim Mord (§ 211 StGB) in Fällen von Blutrache und sogenannter Ehrenmorde eine entscheidende Rolle.
  • Welche Relevanz haben kulturelle oder religiöse Aspekte bei der Auslegung anderer Tatbestandsmerkmale wie z. B. der Zumutbarkeit einer Hilfeleistung (§ 323 c StGB)?
  • Wie sind im Zusammenhang der Strafzumessung rassistische und fremdenfeindliche Motive zu werten?

Beschlüsse der strafrechtlichen Abteilung des DJT vom 18.9.2014

Eine große Mehrheit in der Abteilung Strafrecht war der Meinung,6 dass Gesetzgebung und Rechtsprechung sich in der zunehmend pluralistisch geprägten deutschen Gesellschaft im strafrechtlichen Bereich zuvörderst an den Vorstellungen der hiesigen Rechtsgemeinschaft orientieren soll. Hiervon abweichende Vorstellungen werden nach deren Meinung nur in seltenen Ausnahmefällen Berücksichtigung finden können.7 Die Vorschläge, den unterschiedlichen kulturellen und/oder religiösen Vorstellungen auch im Bereich des Strafrechts deutlich stärker als bisher Rechnung zu tragen8 oder sie zu beachten9, wurde abgelehnt.

Kulturelle/religiöse Prägung des Täters

Die kulturelle oder religiöse Prägung des Täters soll eine Tat nicht rechtfertigen. Rechtfertigungsgründe schließen das Unrecht, die Rechtswidrigkeit der Handlung, aus. Rechtfertigungsgründe sind z. B. Notwehr, Notstand oder die Einwilligung des Verletzten. Kulturelle oder religiöse Prägung sollen keine Grundlage für einen neu zu schaffenden Rechtfertigungsgrund (sog. „cultural defense“) sein10 und auch nicht als Entschuldigungsgrund heranzuziehen sein.11 Schuldausschließungsgründe sind z. B. Schuldunfähigkeit (§§ 19, 20 StGB, § 3 JGG) oder ein entschuldigender Notstand. Sie beseitigen die Schuld als Vorwerfbarkeit des mit Strafe bedrohten Handelns. Die Schuld ist Voraussetzung der Strafbarkeit.

Ein Schuldausschließungsgrund ist auch ein entschuldigter Verbotsirrtum. Bei einem Verbotsirrtum (§ 17 StGB) irrt der Täter nicht über Tatsachen (Tatsachenirrtum), sondern darüber, dass seine Handlung der Rechtsordnung widerspricht, also rechtwidrig ist.12 Es kann auch sein, dass der Täter weiß, dass sein Handeln mit Strafe bedroht ist, er aber sein Handeln z. B. durch einen Rechtfertigungsgrund für erlaubt hält. Hier geht es also um die Frage des Unrechtsbewusstseins.13 Wenn die Gerichte prüfen, ob ein Verbotsirrtum vermeidbar war, sollten sie nach Ansicht der Abteilung Strafrecht die kulturellen und religiösen Prägungen des Täters nur im Ausnahmefall berücksichtigen. Bei der Prüfung werde es maßgeblich auf das Gewicht der Rechtsgutsverletzung ankommen.14 Abgelehnt wurde der Vorschlag, die Prägungen voll – auch entgegen den Wertungen der deutschen Rechtsgemeinschaft – zu berücksichtigen.15

Ein weiterer Aspekt im Hinblick auf den Täter ist die Strafzumessung. Wenige Strafgesetze enthalten eine absolute Strafe wie z. B. bei Mord die lebenslange Freiheitsstrafe. Die meisten Strafgesetze enthalten einen Strafrahmen. Der Richter hat einen Spielraum zur Festsetzung der Strafe im Einzelfall und kann dann die Schwere der Schuld und die Tatumstände würdigen. Ferner hat der Richter in dem Zusammenhang die Strafzwecke zu berücksichtigen. Die Schuld im Strafrecht ergibt sich grundsätzlich nicht aus psychologischen oder ethischen Maßstäben, sondern aus der gesetzlichen Missbilligung eines bestimmten Handelns. Es wird also ein normativer Schuldbegriff zugrunde gelegt. Nach § 46 StGB (Grundsätze der Strafzumessung) ist die Schuld des Täters Grundlage für die Zumessung der Strafe. Ferner sind die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, zu berücksichtigen. „Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.“16

Bei der Strafzumessung sollten nach der Mehrheit der strafrechtlichen Abteilung des DJT tatrelevante kulturelle oder religiöse Gebote ausnahmsweise berücksichtigt werden, wenn der Widerspruch zwischen kulturellen oder religiösen Geboten und dem rechtlichen Verbot für den Täter einen echten, schweren Konflikt begründete und wenn zugleich die kulturelle oder religiöse Verhaltensnorm nicht in fundamentalem Widerspruch zur hiesigen Verfassungs- und Rechtsordnung steht.17 Abgelehnt wurde der Vorschlag, die Gebote auch dann, wenn der Täter diese als für sich verbindlich betrachtet hat, nicht strafmildernd zu berücksichtigen.18

Der oben wörtlich zitierte § 46 Abs. 2 StGB sollte nicht um „rassistische, fremdenfeindliche oder sonst menschenverachtende Motive“ ergänzt werden. Derartige Motive des Täters seien bei der konkreten Strafzumessung auch ohne gesetzliche Ausformung zu berücksichtigen.19 Abgelehnt wurde der Vorschlag, § 46 Abs. 2 um die speziellen Strafzumessungskriterien der „rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonst menschenverachtenden Motive“ zu ergänzen.20 Diese Beschlüsse sind als Kritik an dem Gesetzentwurf des Bundesjustizministers Heiko Maas zur sogenannten Hasskriminalität zu sehen. Im Zuge der NSU-Morde wird vorgeschlagen, Hasskriminalität künftig im Strafrecht anders zu bewerten. In Zukunft sollen rassistische, fremdenfeindliche und menschenverachtende Motive bei der Strafzumessung stärker berücksichtigt werden und Straftäter mit längeren Freiheitsstrafen belegt werden können. Das soll u. a. eine abschreckende Wirkung haben. Dieses Vorhaben war auch von der Gutachterin Tatjana Hörnle abgelehnt worden. Sie bezeichnet das Vorhaben als „symbolische Gesetzgebung“.21 Das bestehende Sanktionensystem reiche aus.

Bekenntnisbeschimpfung

Nach § 166 Abs. 1 StGB (1) wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Entsprechendes gilt nach Abs. 2 für eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche. Die Paragraph steht in der Kritik von atheistischen Gruppen und Kirchenkritikern, die darin eine Einschränkung der Meinungsfreiheit sehen. Auch die Gutachterin Hörnle sprach sich auf dem Deutschen Juristentag für die Abschaffung aus.22 Geschütztes Rechtsgut ist der öffentliche Friede, nicht ein Bekenntnis.23 Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen forderten in der 12. Wahlperiode (1990 – 1994) die Streichung aus dem StGB. Nach Ansicht der Abteilung Strafrecht des DJT sollte der Tatbestand der Bekenntnisbeschimpfung beibehalten werden, da diesem, ebenso wie anderen friedensschützenden Tatbeständen, in einer kulturell und religiös zunehmend pluralistisch geprägten Gesellschaft eine zwar weitgehend symbolhafte, gleichwohl aber rechtspolitisch bedeutsame, werteprägende Funktion zukommt. Er gebe religiösen Minderheiten das Gefühl existenzieller Sicherheit.24

Beschneidung des männlichen Kindes

Der neu eingefügte § 1631 d BGB regelt, dass die Personensorge auch das Recht umfasst, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. Nach Abs. 2 dürfen in den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind. Auf die kontroverse Diskussion kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Insbesondere eine verfassungsgerichtliche Klärung steht noch aus. Die Abstimmungsergebnisse zeigen jedoch, dass dieses Thema auf dem DJT sehr kontrovers behandelt wird. § 1631 d BGB bedarf nach Ansicht der Mehrheit der juristischen Abteilung des DJT einer verfassungskonformen Auslegung dahingehend, dass die Vorschrift nur einen auf ein ernsthaftes religiöses Selbstverständnis gestützten Eingriff rechtfertigt; hygienische oder ästhetische Präferenzen der Eltern oder kulturell tradierte Sitten reichen hierfür nicht aus.25 Nicht durchsetzen konnte sich die Ansicht, § 1631 d BGB solle aufgehoben werden, da gegen die Vorschrift im Hinblick auf das hohe Schutzgut der Körperintegrität des Kindes grundlegende verfassungsrechtliche Bedenken bestehen.26 Der Antrag, auch jenseits verfassungsrechtlicher Erwägungen § 1631 d BGB aufzuheben, da der Vorschrift das Konzept der gewaltfreien Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB) entgegenstehe (Antrag Rössner), wurde ebenfalls abgelehnt.27 § 1631 d BGB begegne keinen grundlegenden verfassungsrechtlichen Bedenken.28

Verstümmelung weiblicher Genitalien

Nach § 226 a StGB wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft, wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt. In minder schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. Die Gutachterin Hörnle schlug auf dem Juristentag vor, den Tatbestand nicht auf Frauen zu beschränken, denn es gebe auch Verstümmelungen bei männlichen Opfern.29 Dem folgte die strafrechtliche Abteilung: Dem Gesetzgeber ist seitens des DJT zu empfehlen, § 226 a StGB geschlechtsneutral zu formulieren, sodass auch die Genitalverstümmelung bei männlichen Personen, welche in der Intensität über die traditionelle Beschneidung hinausgeht, erfasst wird.30 Der Strafrahmen des § 226 a StGB (nicht unter einem Jahr Freiheitsstrafe) sollte dem des § 226 Abs. 2 StGB (nicht unter drei Jahren Freiheitsstrafe) angepasst werden.31

Zwangsheirat

Der Tatbestand der Zwangsheirat (§ 237 StGB32) sollte nicht nur die „Ehe“, sondern auch „eheähnliche Verbindungen“ erfassen.33 Abgelehnt wurde der Antrag, dass der Tatbestand bei minderjährigen Opfern zusätzlich auch den subtilen Zwang (der nicht die Intensität von Gewalt oder einer Drohung erreicht) umfassen sollte.34

Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter

§ 5 StGB35, der Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter regelt, sollte nach Ansicht des DJT dahingehend erweitert werden, dass deutsches Strafrecht auch auf Auslandstaten gegen Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthaltsort im Inland anwendbar ist im Falle einer Genitalverstümmelung (§ 226a StGB)36 und im Falle einer Zwangsheirat (§ 237 StGB)37.

Fremdkulturell motivierte Tötungsdelikte

Die strafrechtliche Abteilung des DJT empfiehlt, im Rahmen von fremdkulturell motivierten Tötungsdelikten (z. B. Blutrache oder Ehrenmorde) bei der Prüfung, ob ein niedriger Beweggrund im Sinne des § 211 StGB vorliegt, die Bewertungen durch den Täter und seine kulturelle Bezugsgruppe außer Acht zu lassen; es kommt danach allein auf die objektive Bewertungsperspektive der hiesigen Rechtsgemeinschaft an, sodass ein niedriger Beweggrund nur dann verneint werden sollte, wenn ein Umstand vorlag, der es aus der Perspektive der hiesigen Rechtsgemeinschaft erlaubt, die Tötung milder zu beurteilen.38 Die fremdkulturellen Prägungen im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu berücksichtigen, wurde abgelehnt.39

Zeugnisverweigerungsrecht

Geistliche sind gemäß § 53 Abs. Nr. 1 StPO berechtigt, das Zeugnis zu verweigern über das, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden oder bekanntgeworden ist. Es fand keine Mehrheit, dieses Zeugnisverweigerungsrecht auf alle Religions- und Weltanschauungsgesellschaften, die innerlich verfasst sind, zu erweitern.40 Angenommen wurde folgender Antrag: der „Geistliche“ weitererfasst als die bisherige überwiegende Literatur: Das Zeugnisverweigerungsrecht aus § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO ist grundsätzlich auf „Geistliche“ sämtlicher innerlich verfasster Religionsgesellschaften anwendbar, unabhängig von deren rechtlicher Organisationsform und ihrer staatlichen Anerkennung.41 Profane Funktionen, etwa als Mediator im Rahmen des strafrechtlichen Täter-Opfer-Ausgleichs, sollten – unabhängig von der Charakterisierung einer Person als „Geistlicher“ – nicht als Seelsorge eingestuft werden, sodass sich auf diese Tätigkeit § 53 StPO nicht erstreckt.42

Strafrechtliche „Paralleljustiz“

Formen von kulturell oder religiös verwurzelter Streitschlichtung im Strafrecht, die das Legalitätsprinzip auszuhebeln geeignet und nicht mit dem Strafprozess verknüpft sind, insbesondere dem Opfer den Zugang zum staatlichen Rechtsschutz abschneiden, sind nach der strafrechtlichen Abteilung des DJT abzulehnen.43 Die Formulierung „Eine kulturell oder religiös verwurzelte Streitschlichtung (strafrechtliche ‚Paralleljustiz‘) trägt, auch wenn sie nicht mit dem Strafprozess verknüpft ist, erheblich zur Entlastung des staatlichen Justizsystems bei und ist uneingeschränkt zu begrüßen“ wurde abgelehnt.44 Jede Form von strafrechtlicher „Paralleljustiz“, die das staatliche Justizsystem ergänzen oder ersetzen soll, ist abzulehnen.45 Eine Einbeziehung kulturell oder religiös verwurzelter Streitschlichtung in die staatliche Strafverfolgung – zum Beispiel im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs – erscheint aber nach der strafrechtlichen Abteilung des DJT nicht gänzlich ausgeschlossen. Es empfehle sich, empirische Erhebungen zu ihren tatsächlichen Erscheinungsformen anzustellen.46

Bewertung

Vorweg sei angemerkt: Der Deutsche Juristentag ist nicht der Bundestag, und die strafrechtliche Abteilung ist nicht groß. Nur knapp hundert Juristinnen und Juristen haben votiert, und sie sind nicht repräsentativ, vertreten auch nicht andere, sondern ihre individuelle Meinung. Einige Abstimmungen waren sehr knapp, und dadurch werden die mit Mehrheit getroffenen Aussagen deutlich relativiert. Mit anderen Worten: Die Voten dürfen nicht überbewertet werden. Sie markieren aber das Stimmungsbild der Berufsgruppe der (engagierten) Strafrechtlerinnen und Strafrechtler.

Man kann feststellen, dass Gesetzgeber und Richter sich nicht an den kulturellen oder religiösen Vorstellungen orientieren sollen, sondern an der hiesigen Rechtsgemeinschaft. Religion oder Kultur sollen auch nicht berücksichtigt werden bei dem Täter im Hinblick auf eine Rechtfertigung der Tat oder bei der Strafzumessung. Eine wie auch immer gestaltete Paralleljustiz wird abgelehnt. Eine gewisse Offenheit besteht aber dahingehend, kulturell oder religiös verwurzelte Streitschlichtung in die staatliche Strafverfolgung – zum Beispiel im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs – einzubeziehen. Die Diskussionen zeigen die Gratwanderungen: Das staatliche Recht ist kulturell-religiös neutral, aber auch das Recht kommt gerade in Grenzfällen nicht um moralische Wertungen herum. Das ist keine neue Erkenntnis. Die offenen Fragen mündeten in der Rechtswissenschaft in eine Diskussion um die Methoden der Rechtsanwendung.


Arno Schilberg, Detmold


Anmerkungen

  1. Vgl. Mathias Rohe, Religiös gespaltenes Zivilrecht in Deutschland und Europa, in: Heinrich de Wall/Michael Germann (Hg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung, Festschrift für Christoph Link zum 70. Geburtstag, Tübingen 2003, 409ff, m. w. N.; ders., Paralleljustiz in Deutschland, in: ZRP 2014, 97ff.
  2. Vgl. Mathias Rohe, Religiös gespaltenes Zivilrecht (s. vorherige Fußnote), 415.
  3. Vgl. ebd., 419.

  4. Vgl. FAZ vom 16.9.2014, 7, dort zum Strafrecht: Helene Bubrowski, Kein Rabatt für Kultur und Religion; vgl. auch: Streit im Arbeitsrecht, Einigkeit im Strafrecht, in: FAZ vom 19.9.2014, 5.

  5. Vgl. dazu Mathias Rohe, Islamisierung des deutschen Rechts?, in: JZ 2007, 801ff.

  6. So auch die Gutachterin Hörnle, nach FAZ vom 16.9.2014, 7; Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages Hannover 2014, Bd. I: Gutachten/Teil C: Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen an eine pluralistische Gesellschaft, München 2014.
  7. Jeweils ja/nein/Enthaltung: 77:5:5.
  8. Abgelehnt 1:80:5.
  9. Abgelehnt 11:69:6.
  10. 90:0:0.
  11. 87:0:2.
  12. Vgl. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, München 612013, § 17, Rn 3ff., Karl Lackner/Kristian Kühl, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, München 282014, § 17 Rn 2ff m. w. N.
  13. Es ist strittig, ob dieses zum Vorsatz gehört oder als selbstständiges Schuldmerkmal zu werten ist.
  14. Angenommen 48:34:7.
  15. 0:92:0.
  16. § 56 Abs. 2 StGB. Die Strafzumessung verläuft nach gängiger Systematisierung in fünf Schritten; dazu Karl Lackner/Kristian Kühl, Strafgesetzbuch (s. Fußnote 12), § 46 Rn. 13f m. w. N.

  17. 81:3:5.
  18. 24:51:11.
  19. 70:8:12.
  20. 13:73:4.
  21. Vgl. FAZ vom 16.9.2014, 7.
  22. Vgl. Reinhard Müller, Gewalt als Religion, in: FAZ vom 18.9.2014, 8.
  23. Vgl. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch (s. Fußnote 12), § 166, Rn. 2.
  24. 62:15:9. Die Meinung, der Tatbestand der Bekenntnisbeschimpfung (§ 166 StGB) sei weder mit dem Schutz der Allgemeinheit noch mit dem Schutz von Individualrechten überzeugend zu rechtfertigen und solle daher aufgehoben werden (dafür spreche auch die geringe praktische Bedeutung dieses Tatbestands), wurde abgelehnt (21:59:8).
  25. 41:39:12.
  26. Abgelehnt 21:63:7.
  27. 19:61:9.
  28. 40:32:19.
  29. Vgl. FAZ vom 16.9.2014, 7.
  30. 54:23:14.
  31. 63:13:16.
  32. Wortlaut Abs. 1: „Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zur Eingehung der Ehe nötigt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“
  33. 45:37:6.
  34. 15:65:11.
  35. § 5 Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter: „Das deutsche Strafrecht gilt, unabhängig vom Recht des Tatorts, für folgende Taten, die im Ausland begangen werden: 1. Vorbereitung eines Angriffskrieges (§80), 2. Hochverrat (§§ 81-83) …“
  36. 73:8:10.
  37. 67:12:12.
  38. 65:5:16.
  39. 5:68:8.
  40. 11:63:14.
  41. 57:23:9. Anders Gerd Pfeiffer, StPO, Strafprozessordnung, Gerichtsverfassungsgesetz, München 42002, § 53, Rn. 3: „alle Geistlichen der christlichen Kirchen und die Religionsdiener der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften. Mitglieder der Sekten sind keine Geistlichen i. s. der Nr. 1.“ So auch Lutz Meyer-Goßner/Bertram Schmitt, Strafprozessordnung, München 572014, § 53 Rn. 12 m. w. N.
  42. 73:10:8.
  43. 83:1:4.
  44. 3:83:2.
  45. 49:19:19.
  46. 68:9:12.