Die Rückkehr der Dämonen im afrikanischen Christentum
In Europa kam es zu staatlich gelenkter Verfolgung von Hexen, als sich die gebildeten Kreise vom „Hexenwahn“ der einfachen Bevölkerung anstecken ließen. In Afrika sind die Eliten längst infiziert. Unter Richtern und Professoren, Ministern und Staatspräsidenten ist der Glaube an okkulte Kräfte ähnlich weit verbreitet wie in anderen Teilen der Bevölkerung. Trotzdem scheuen staatliche Autoritäten davor zurück, den Kampf gegen okkulte Bedrohungen aufzunehmen. Gesetzliche Handhaben wären durchaus vorhanden, denn in den meisten Ländern Subsahara-Afrikas ist Hexerei heute verboten. In Kamerun oder Kenia droht den Verdächtigen eine Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren, und im Norden Nigerias, wo einige islamische Bundesstaaten die Scharia einführten, ist sogar die Todesstrafe vorgesehen. Das Problem ist nur, dass der Gesetzgeber nicht sagt, wie man Hexen erkennen soll. Richter, die Verdächtigungen prüfen und okkulte Straftaten bewerten sollen, können nicht auf klare Regeln zurückgreifen. Es fehlt also an einer verbindlichen Dämonologie, und es ist keine politische oder religiöse Autorität in Sicht, die diesen Mangel beheben könnte. Eine Regierungskommission in Südafrika, die Hexerei und Ritualmorde untersuchte, bestätigte zwar, was die große Mehrheit der Bürger immer schon angenommen hatte: dass Hexen töten können, fügte aber hinzu, dass die aggressiven Kräfte, die von einer Hexe ausgehen, unsichtbar sind: „Das Beunruhigendste an der Hexerei ist, dass die Aktivitäten einer Hexe nicht mit bloßem Auge zu erkennen sind. Das bedeutet, niemand ist in der Lage festzustellen, dass eine Hexe dieses oder jenes gemacht hat.“1
Trotz der Schwierigkeit, die Täter zu identifizieren, plädierte die Kommission dafür, das alte koloniale Gesetz, das Hexerei-Anklagen zu unterdrücken suchte, abzuschaffen und Hexerei unter Strafe zu stellen. Doch worauf soll sich ein Gerichtsurteil gründen, wenn niemand das Verbrechen beobachten kann? Der Gesetzentwurf behilft sich hier mit einer ausweichenden Formulierung, die allen möglichen Formen der Beweisführung den Weg ebnet: „Jede Person, die eine Handlung begeht, welche einen vernünftigen Verdacht begründet, dass die Person Hexerei betreibt, macht sich eines Vergehens schuldig und unterliegt einer Strafe von bis zu vier Jahren Gefängnis.“2 Ein Verdacht soll ausreichen, um Menschen ins Gefängnis zu bringen. Die Frage ist nur, wie die Richter beweisen wollen, dass dieser Verdacht „vernünftig“ ist.
Spirituelle Unsicherheit
Der Mangel an einer verbindlichen Dämonologie beschäftigt nicht nur Juristen und Regierungsethnologen, er ist auch für einfache Bürger ein Problem. Wenn es unsichtbare Kräfte gibt, die sich manipulieren lassen, um andere Menschen zu töten, ist nichts wichtiger, als geeignete Gegenmittel zu finden. Doch wie will man sich schützen, wenn die Art der Gefährdung nicht klar ist? Jeder Erwachsene in Kenia oder Nigeria weiß, dass die meisten seiner Mitmenschen sich an Schreinpriester wenden und das Bündnis mit mächtigen Geistern suchen oder dass sie Zauberer konsultieren und sich mit Magie beschäftigen (d.h. mit Riten oder Zaubersprüchen, die durch sich selbst, ohne die Anrufung von Geistern oder Gottheiten, unsichtbare Kräfte entfalten). Nur lässt sich nicht abschätzen, welche Kraft diese Geister haben und an welchen Symptomen fremde magische Einflüsse zu erkennen sind. Da okkulte Bedrohungen im Grunde nicht fassbar sind, werden sie in immer neuen bizarren Phantasien imaginiert. Die Gespräche kreisen um Ritualmorde und satanische Banknoten, um Kinderhexen und Wassergeister. Auch die Medien produzieren ständig neue Bilder des Bösen, so dass die Menschen mit okkulten Theorien und Spekulationen überhäuft werden. Gerade diese Flut von widersprüchlichen Informationen aber trägt zur Verunsicherung bei: Früher hatte man angenommen, dass magische Kräfte nur über eine begrenzte Distanz hin wirksam sind. Wer einem unheilvollen Zauber entgehen wollte, hatte also die Möglichkeit, sich von der Gefahrenquelle zu entfernen und an einem entlegenen Ort Zuflucht zu finden. Heute dagegen befürchten viele, dass sich feindselige Kräfte mit Hilfe elektronischer Medien über jede Entfernung hinweg aussenden lassen. Wie in den Nachrichten der BBC zu hören war, verbreitete sich in Nigeria die Furcht vor einer völlig anonymen, willkürlichen Form der Magie. Die Gefahr ging von dem Anruf einer gewissen Handy-Nummer aus. Wer den Anruf entgegennahm und die Botschaft abhörte, war innerhalb von zehn Minuten tot.
Um die Gefahren richtig einzuschätzen, wäre es wichtig zu wissen, von welchen Personen Hexerei ausgehen kann. Ist die Fähigkeit zu hexen erblich bedingt, oder kann sie auf andere Weise übertragen werden, etwa durch den Genuss von Lebensmitteln? Hält man sich an Berichte der nigerianischen Presse, muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Bei einem öffentlichen Geständnis in einer Pfingstkirche berichtete eine Frau, wie ihre Tante ihr ein gekochtes Ei in die Hand gedrückt habe. Es war ein Entenei. Nach seinem Verzehr verwandelte sie sich, gegen ihren Willen, in eine Hexe. Selbst Kinder wurden auf ähnliche Weise „infiziert“.3 Die Fähigkeit zur Hexerei, die manche Menschen plötzlich mit Schrecken an sich entdecken, wird von anderen angeblich auch mit Bedacht erworben. Sie schließen sich einem Hexenkult an, weil ihnen ein Unrecht widerfahren ist und sie nach Möglichkeiten suchen, sich zu rächen. Das behauptet jedenfalls der Vorsitzende der World Association of White Witches and Wizards. Nach seiner Aussage sind nicht alle Hexen gefährlich. Vor schwarzen und roten Hexen müsse man sich hüten, die weißen dagegen würden den Menschen im Kampf gegen destruktive Kräfte beistehen. Er selbst sei, so wie andere weiße Hexen, ein „Engel Gottes“.4 Doch wer soll entscheiden, ob dieser Anspruch berechtigt ist? Ein Experte aus Lagos, der sich als „professor of mental arts“ bezeichnet, vertritt eine ganz andere Form der Klassifikation: Hexen lassen sich nicht nach Gut oder Böse unterscheiden, sondern nur danach, wie viel Macht sie haben. Vertreter christlicher Kirchen heben demgegenüber hervor, dass Hexerei in jedem Fall verwerflich ist. Unterschiede zwischen weißen, roten und schwarzen Hexen seien frei erfunden. Warum sollte Gott weiße Hexen benötigen, um seinem Willen Geltung zu verschaffen? Nur Gott selbst biete Schutz gegen gefährliche Geister, meint etwa der Pastor des World HarvestEvangelical Ministry, und dieser Schutz sei in seiner Kirche erhältlich.5
Der Wunsch, sich vor Hexen, Zauberern und Dämonen abzuschirmen, treibt den Kirchen Millionen von Gläubigen zu. „Christen sind Feiglinge“, erklärte mir eine Bekannte in Zimbabwe: „Warum rennen sie in die Kirche? Weil sie Angst vor Hexen haben.“ Aber sind sie im Schoß der Kirche sicher aufgehoben? Ist der Anschein christlicher Frömmigkeit, den die Kirchenbesitzer sich zulegen, nicht einfach eine Maske, hinter der sich der alte Zauber von Hexenbannern verbirgt? In Onitsha, nicht weit von meiner damaligen Universität entfernt, brannten aufgebrachte Demonstranten mehrere Kirchen nieder, nachdem dort Menschenschädel und andere verdächtige Gegenstände entdeckt worden waren.6 In Nigeria kann jeder seine eigene Kirche eröffnen und spirituelle Dienstleistungen anbieten. Keine andere Wirtschaftsbranche verzeichnete in den letzten Jahren ähnlich hohe Wachstumsraten, denn wer sich als Prophet oder Wunderpastor etablieren will, kommt mit einem Minimum an Startkapital aus. Kirchen sind low budget-Unternehmen, mit hohen Gewinnspannen. Geschäftsleute, die in anderen Branchen gescheitert sind, etablieren sich als traditionelle Heiler oder machen sich zum Besitzer einer Kirche. Eine theologische Ausbildung ist dabei nicht vonnöten; es reicht der Anspruch, erwählt zu sein und über charismatische Kräfte zu verfügen.
Vertreter der großen Missionskirchen, denen die Gläubigen davonlaufen, forderten die Regierung auf, in den ungehemmten spirituellen Wettbewerb einzugreifen und das Land von „Schundkirchen“ und „pfingstlerischer Hexerei“ zu reinigen. Nur: Mit welchem Recht werfen sich christliche Autoritäten zu Richtern über andere auf? Greifen sie nicht ebenfalls auf obskure Riten zurück? Katholische Geistliche verkaufen nicht nur geweihte Kerzen, sondern auch Pülverchen, um Hexen und Dämonen zu vertreiben, ja sie sind direkt an der Jagd auf Hexen beteiligt. Die Prophetin Ngozi, deren Kirche ich anderthalb Jahre lang angehörte, ging sogar noch einen Schritt weiter. Es hieß, sie habe den „Präsidenten“ des lokalen „Hexenclubs“ und andere Gegner ihrer Mission getötet. Ihre Anhänger versicherten mir jedenfalls triumphierend: „Schwester Ngozi hat sie durch den Heiligen Geist umgebracht.“
In einer Welt, die von Zauber und Gegenzauber beherrscht ist, sind mehr und mehr Menschen bereit, mit allen verfügbaren Mitteln zu kämpfen. Warum sollten sie sich in der Wahl ihrer Waffen mehr Zurückhaltung auferlegen als ihre Feinde? Die Unterscheidung von weißer und schwarzer Magie wird aus ihrer Perspektive hinfällig, und damit verlieren auch moralische Distinktionen an Bedeutung. „Gut“ bedeutet einfach nur: gut für mich, und „böse“ bedeutet: schlecht für mich.
Traditionelle Gesellschaften in Afrika kannten nicht den Unterschied zwischen wahren und falschen Göttern. Sie entwickelten auch keine Glaubenssysteme oder Dämonologien, wie wir sie von den großen Schriftreligionen kennen. Trotzdem war die spirituelle Welt überschaubarer als heute, denn der Zugang zu ihr war institutionell geregelt. Mit der Initiation in die Welt der Erwachsenen wurden die Menschen zugleich in die Geheimnisse des Okkulten eingeweiht, und diese Begegnung mit dem gefährlichen Reich der Geister gestaltete sich als ein kollektiver Erfahrungsprozess, der durch Männerbünde, Geheimgesellschaften oder Besessenheitskulte organisiert wurde. Heute dagegen ist es weitgehend dem Einzelnen überlassen, seine Beziehung zur spirituellen Welt zu organisieren. Er kann sich an traditionelle Heiler wenden oder an islamische Marabouts, an Geheimgesellschaften oder Wunderpastoren, an Rosenkreuzer, Freimaurer oder die Gesellschaft vom Heiligen Gral. Auf der Suche nach einem spirituellen Obdach sind die Menschen in Lagos oder Nairobi ähnlich frei und ungebunden wie Esoterik-Liebhaber in Kalifornien: anything goes. Das Sich-Auflösen alter Gewissheiten wird jedoch nicht als Befreiung erlebt. Das Nebeneinander widersprüchlicher Theorien und Spekulationen, die sich nicht zu einem konsistenten Bild okkulter Kräfte runden, steigert eher das Gefühl, unkontrollierbaren Mächten ausgeliefert zu sein. Es schafft Unsicherheit, die sich bis zu „moralischer Panik“ steigern kann. Mir scheint, es gibt ein starkes Bedürfnis nach einer Autorität, die verlässliche Auskunft gibt und die den Kampf gegen das Böse in geregelte Bahnen lenkt. Dennoch glaube ich nicht, dass sich religiöse oder politische Institutionen herausbilden werden, die eine verbindliche Dämonenlehre durchsetzen können. Die Verfolgung von Hexen und anderen okkulten Agenten lässt sich nicht monopolisieren; sie dürfte auch in Zukunft von rivalisierenden Kirchen, Kulten und Milizen betrieben werden. Für diese Vermutung möchte ich vier Gründe nennen.
1. Staatsverfall und soziale Desintegration
In vorkolonialer Zeit, als die Igbo, Yoruba oder Kikuyu in relativ geschlossenen lokalen Gemeinschaften lebten, war die spirituelle Welt nicht nur überschaubarer; der Zugang zu ihr ließ sich auch besser kontrollieren. Im Kreis der Familie war es in der Regel das Familienoberhaupt, das den Kontakt zu den Ahnen aufrechterhielt. Und die Kommunikation mit den Clan-, Dorf- und Stadtgottheiten wurde meist von Priestern reguliert. Wer sich gegen die spirituelle Autorität der Ältesten auflehnte, gefährdete den Zusammenhalt der Gemeinschaft und riskierte damit, von seinen Angehörigen verstoßen zu werden. Ohne den Rückhalt der eigenen Gruppe aber war es kaum möglich, Leben und Freiheit zu verteidigen. Erst die Kolonialherrschaft hat den Zusammenhalt der traditionellen – durch Nachbarschaft oder Familienbande gestifteten – Gruppen dauerhaft geschwächt. Unter der Pax Britannica waren Familien, Clans oder Dorfgemeinschaften nicht länger gezwungen, als geschlossene politische Einheiten aufzutreten, die ihre Mitglieder gegen Übergriffe anderer Gruppen schützten. Von diesem Wandel profitierten all jene, die nicht gewillt waren, sich der Autorität der Ältesten zu unterwerfen, also vor allem junge Leute und zum Teil auch Frauen. Sie konnten sich nun dem Zwangszusammenhang der Dörfer und Familien entziehen und in die Anonymität der Städte abwandern, wo sie sehr viel freier waren zu entscheiden, welche sozialen und religiösen Beziehungen sie eingehen.
Ein halbes Jahrhundert nach der Kolonialzeit sind die wichtigsten Errungenschaften der Moderne, der Staat und sein Gewaltmonopol, verfallen, so dass die Menschen sich wieder selbst um ihre Sicherheit kümmern müssen. Viele klammern sich, so wie früher, an ihre Familienangehörigen, die einzig natürlichen Verbündeten. Nur ihnen gegenüber hat man grundsätzlich das Recht, Hilfe einzuklagen. Doch Verwandtschaftsgruppen bieten wenig Sicherheit, weil sich das Verhalten ihrer Mitglieder kaum noch kontrollieren lässt. Oft leben Familienangehörige weit voneinander verstreut und gehen ihren eigenen Beschäftigungen nach, so dass es ihnen leicht fällt, sich ihren traditionellen Verpflichtungen zu entziehen. Statt sich um verarmte Angehörige zu kümmern, schließen sie sich christlichen Gemeinden oder Geheimgesellschaften an, vielleicht auch der Gefolgschaft von lokalen strongmen oder warlords. All diese Gruppen aber binden sich auf je eigene Weise an spirituelle Mächte. Selbst ethnische Befreiungsbewegungen oder Milizen umgeben sich mit eigenen witchdoctors und machen Jagd auf Hexen. Da die spirituelle Aufrüstung der Bürger die Angst voreinander nur verstärkt, dürfte die Verfolgung Unschuldiger weiter zunehmen, aber wohl in der Form von Lynchjustiz, die von ‚privaten’ Akteuren betrieben wird. In der afrikanischen Postmoderne können sich Zentralgewalten offenbar nicht mehr durchsetzen. Es entstehen freie Gewaltmärkte und damit auch unkontrollierbare spirituelle Märkte.
2. Massenmedien und spiritueller Pluralismus
Als sich im Europa der frühen Neuzeit die Vorstellungen von Teufelspakt und Hexensabbat durchsetzten, hatten die gebildeten Schichten in Deutschland, Frankreich oder England einen ganz ähnlichen Bildungshintergrund. Ihre dämonologischen Debatten und Traktate bezogen sich auf einen Kanon klassischer Texte, allen voran die Bibel, die ihnen durch intensive Wiederholungslektüre vertraut war. Demgegenüber gibt es im heutigen Nigeria, mit seinen 500 verschiedenen Ethnien, keine homogene Elite, die sich durch gemeinsame Denktraditionen verbunden weiß. Man könnte einwenden, die modernen Massenmedien sorgten dafür, dass sich populäre Vorstellungen des Okkulten durch alle Segmente der Gesellschaft verbreiten. Aber gerade die Medien mit ihren globalen Bilder- und Informationsströmen verhindern, dass sich eine verbindliche Deutung von Magie, Hexerei und spirituellen Kräften durchsetzt. Was der Einzelne, eher zufällig, auf Dutzenden von Fernsehkanälen zu sehen bekommt, präsentiert ihm immer nur Bruchstücke der okkulten Welt, noch dazu in so disparater Form, dass sie sich nicht zu einer stimmigen Theorie zusammenfügen. Keine weltliche oder religiöse Behörde kann die Flut von wild wuchernden Phantasien und Spekulationen steuern. Eine Zensur lässt sich schon deshalb kaum durchsetzen, weil all die rivalisierenden Anschauungen auch über das Internet zugänglich sind. Durch seine egalitäre, angeblich demokratische Struktur erlaubt dieses Medium einen ungehinderten Austausch spiritueller Erfahrungen, so dass hier nicht nur die Gegner der Hexen frei zu Wort kommen, sondern auch die Hexen und Teufelsanbeter selbst.
Für Afrikaner, die den Internet links folgen, ist es faszinierend zu sehen, dass okkultes Wissen gerade dort angehäuft wird, wo sich auch technologisches know how konzentriert, in den USA. Satanskirchen und Vampir-Kulte, die ihre Praktiken aus Angst vor Strafverfolgung früher geheim gehalten hatten, nutzen den Trend westlicher Gesellschaften, kulturelle Vielfalt zu fördern, um auf Tausenden von websites Anhänger zu werben oder Nachahmer zu finden. Esoterische Lehren, Zaubersprüche und Rituale sind dadurch so frei zugänglich wie nie zuvor. Auf der website einer Satanisten-Gruppe, Order of the Nine Angles, findet sich z.B eine Anleitung zu Ritualmorden.7 Vieles, was sich an Rezepten für okkulte Gewalt nachlesen lässt, ist traditionellen Hexerei-Vorstellungen, wie Afrikaner sie aus ihren eigenen Kulturen kennen, verblüffend ähnlich. Durch „magnetischen Vampirismus“ etwa soll sich lernen lassen, seinen Astralkörper auszusenden, um andere Personen anzugreifen oder ihnen die Lebenskräfte auszusaugen. Gut möglich, dass einige dieser spirituellen Vampire sich einbilden, Mörder zu sein, so wie sich Hexen in Afrika, auch ohne äußeren Druck, monströser Verbrechen bezichtigen. Die Beschäftigung mit Okkultem spielt sich jedoch nicht nur in der virtuellen Sphäre ab. Afro-karibische Religionen mit ihren elaborierten Zauberriten und Geisterbeschwörungen haben in Nordamerika Millionen von Anhängern. Bizarre Rituale finden hier tatsächlich statt und hinterlassen gespenstische Spuren: Kadaver von geopferten Tieren, die an Flüssen, Stränden oder Bahngleisen zurückbleiben, zuweilen auch geschändete Friedhöfe und aufgewühlte Gräber. Für Anhänger des Palo Mayombe, einer düsteren Abart des Voodoo, spielen Leichenteile eine wichtige Rolle. Indem sie Knochen und Schädel eines Menschen in einem Kessel kochen, rufen sie den Geist des Toten herbei und verwandeln ihn in ein willenloses Werkzeug, das sich aussenden lässt, um Feinde zu vernichten.
Angesichts dieser unheimlichen Praktiken sehen sich konservative, evangelikale Christen in ihrer Überzeugung bestätigt, dass von satanischen Kräften eine reale Bedrohung ausgeht. Für sie ist es empörend, dass der säkulare Staat dem düsteren Spuk fast tatenlos zusieht. Das Plündern von Gräbern ist natürlich ein strafbares Vergehen, das die Behörden zwingt, einzuschreiten. Doch ansonsten zeigt sich die Obrigkeit bemüht, das Recht jedes Bürgers, seine Religion frei auszuüben, nicht anzutasten. Juristische Klagen kommen meist nur von Tierschutzverbänden, die sich nicht damit abfinden wollen, dass Hunde, Ziegen oder Katzen auf makabre Weise zu Tode gebracht werden. Der Oberste Gerichtshof der USA hat freilich festgestellt, dass Gläubige im Prinzip das Recht haben, ihren Göttern Tieropfer darzubringen.8 Im Übrigen gelten auch Satanskirchen als gemeinnützige Vereinigungen mit eigenen ethischen Zielsetzungen, so dass sie Steuerfreiheit genießen.9 Trotz dieser offiziellen Anerkennung klagen manche darüber, dass sie wegen ihrer religiösen Überzeugungen diskriminiert werden. Um gegen Vorurteile anzukämpfen, organisierten Vampir-Vereinigungen eine Kampagne unter dem Slogan „Stop Vampire Hate“.10 Die moralische Empörung, mit der sie Kritik an den eigenen Ritualen abweisen und ihren Gegnern Intoleranz vorwerfen, lässt ahnen, dass sich auch in westlichen Gesellschaften, ähnlich wie in Afrika, die Grenzen von Gut und Böse, Real und Irreal heillos verwirrt haben.
3. Legitimationsverlust der politischen Elite
Staatliche Autoritäten sind in Afrika zu sehr diskreditiert, um den Kampf gegen spirituelle Bedrohungen anzuführen. Statt das Okkulte abzuwehren, ziehen Staatsmänner es in die politischen Auseinandersetzungen hinein. Sie umgeben sich mit Zauberern und Geistersehern, binden sich an Geheimgesellschaften und Schreingottheiten, so dass Hexereivorstellungen bis in das Herz des Staates vorgedrungen sind.11 Da Macht kaum noch institutionell geregelt ist, wird sie unberechenbar; sie heftet sich an gewisse Personen und verlässt sie wieder, ohne dass es klare Kriterien gäbe, die über die Vergabe von Macht entscheiden. Wer sich in dem Wettbewerb um Macht und Reichtum durchsetzt, scheint von verborgenen Kräften abhängig zu sein. Viele vermuten sogar, dass sich sozialer und materieller Erfolg gar nicht anders erwerben lässt als durch okkulte Mittel. Politiker geben sich auch gar nicht die Mühe zu verbergen, dass sie in finstere Praktiken verstrickt sind. Die aufwendigen okkulten Veranstaltungen dienen gerade dazu, mögliche Gegner einzuschüchtern. Schon vor Jahrzehnten machte der Präsident von Haiti, Dr. Duvalier, von sich reden, als er die Leiche eines ermordeten Oppositionspolitikers verschwinden ließ, um seine Untertanen glauben zu machen, dass er Voodoo betreibe.12
4. Freie Religionsmärkte und das Werben um Kunden
Im Europa des späten Mittelalters und der beginnenden Neuzeit hatte die katholische Kirche eine Monopolstellung. Sie konnte strikte Rechtgläubigkeit auch beim Glauben an Dämonen anstreben, weil sie die Möglichkeit hatte, ihre Doktrin durchzusetzen. Im heutigen Afrika dagegen ist sie nur eine von vielen tausend Kirchen; mit mehr als 100 Millionen Anhängern sicher die größte des Kontinents, aber ohne die institutionelle Macht, abweichende Glaubensvorstellungen zu unterdrücken. Statt Häretiker zu verfolgen, muss sie um Mitglieder werben. Den potentiellen Kunden aber geht es um handfeste materielle Vorteile. Religion war für sie immer schon eine selbstsüchtige Angelegenheit: das angestrengte Bemühen, feindselige Kräfte abzuwehren, um sich Reichtum, Gesundheit und Fruchtbarkeit zu verschaffen. Seit die verschiedensten religiösen und magischen Techniken wie in einem großen spirituellen Supermarkt zur Verfügung stehen, prüfen die Gläubigen das Angebot und testen, was Wunderpastoren, indische Gurus oder esoterische Zirkel ihnen zu bieten haben: „Come and receive your miracle.“13 Manche schließen sich auch zwei oder drei Kirchen gleichzeitig an. Im Übrigen zeigen sie wenig Bedenken, die Konfession öfter zu wechseln, so dass ihre religiösen Glaubenssätze recht fluide sind.
Die katholische Kirche ist nicht nur eine unter vielen, die weltweit um Anhänger wirbt; sie ist auch, was die Existenz von Hexen und andere Glaubensfragen angeht, tief gespalten. Ein Priester aus Südostnigeria, Rev. Dr. Akwanya, versicherte mir: Wenn der Vatikan gezwungen wäre, zur Hexerei eindeutig Stellung zu nehmen, würde die Kirche auseinander brechen. Deshalb sei es eine weise Entscheidung, zu diesem Thema offiziell zu schweigen. Kontroversen über dämonologische Fragen könnten, mehr als andere Antagonismen, den Bestand der Kirche als einer universalen Institution gefährden. Von den Disputen innerhalb des Klerus dringt deshalb kaum etwas nach außen. Für Aufsehen sorgte immerhin der Fall des Erzbischofs von Lusaka, Emmanuel Milingo, der durch Wunderheilungen und Geisterbeschwörungen in seiner Heimat Sambia enorme Popularität gewonnen hatte. Im Jahre 1982 wurde er nach Rom beordert, wo man ihn, zu seiner Überraschung, einer medizinischen Untersuchung unterwarf, bei der auch Psychologen über seinen Gesundheitszustand urteilten. Das Ergebnis war, dass er nicht mehr in seine Diözese zurückkehren durfte. Er erhielt eine kleine Gemeinde in der Nähe von Rom, begann aber auch dort mit seinen Wunderheilungen und erreichte schließlich, dass der Vatikan seine Heilertätigkeit anerkannte. Wir wollen den Fall Milingo etwas genauer betrachten, weil der Erzbischof durch seine theologischen Schriften als Wegbereiter eines neuen, genuin afrikanischen Christentums gilt. So wie er sind heute mehr und mehr afrikanische Theologen bereit, den Kampf gegen dämonische Wesen zu sanktionieren.
Rückbesinnung auf die spirituellen Wurzeln des Christentums
Milingo hatte schon früh an seine Mitchristen in Europa appelliert, ihr Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Afrikanern abzulegen. Solange sie meinen, die Entwicklung des Christentums auf anderen Kontinenten weiter beaufsichtigen zu müssen, bleibe die Kirche in Afrika ein Fremdkörper. Das Zweite Vatikanische Konzil habe den Schwarzen ein Christentum versprochen, das sie nicht zwingt, ihr „eigenes Selbst“ zu verwerfen.14 Was als christlich zu gelten habe, werde allerdings weiterhin in den Metropolen des Westens definiert. Das Recht, auf ihre eigene Weise Christen zu sein, können sich Afrikaner daher nur erkämpfen, wenn sie sich – auch innerlich, im eigenen Denken – von kolonialen Vorurteilen lösen und der eigenen Kultur wieder Respekt entgegenbringen. Ein integraler Bestandteil der afrikanischen Kultur aber sei der Glaube an Geister.15
Weiße Missionare hatten diesen Glauben als irrational abgetan. Statt die Ängste vor okkulten Kräften erst zu nehmen, erklärten sie ihren Schutzbefohlenen, es gebe keinen Grund sich zu sorgen, da Geister nicht existierten. Erst allmählich bemerkten die Betroffenen, dass sie getäuscht worden waren, denn in der Heiligen Schrift ist recht eindeutig festgehalten, wie mit Hexen oder Zauberern zu verfahren ist. Während das moderne europäische Christentum mit solchen Bibelpassagen nichts mehr anzufangen weiß, nähern sich Afrikaner diesen Aspekten der göttlichen Offenbarung sehr viel unbefangener. Was sie in den heiligen Texten lesen, soll in der eigenen Gegenwart wieder lebendig werden. Fast alle Strömungen des afrikanischen Christentums sind, nach dem Urteil von Paul Gifford, „fundamentalistisch“.16 Dazu gehört, dass sie die Botschaft Gottes, mit ihren vielen Reminiszenzen an die Geisterwelt, wörtlich nehmen: „Wir haben nicht dieselben Probleme mit der Bibel wie die Weißen mit ihrer westlich wissenschaftlichen Denkweise.“17 Die Spiritualität des antiken Orients erschließt sich ihnen auf so unmittelbare Weise, weil diese verzauberte Welt ihnen sehr viel näher steht als uns. Auch in den Anfängen des Christentums lag die Anziehungskraft der Kirche darin, dass sie in einer Zeit des sozialen und moralischen Niedergangs Sicherheit versprach: „Die Menschen wurden Mitglied der neuen Gemeinschaft, um von Dämonen befreit zu werden“.18 Milingo konnte sich also auf genuin christliche Motive berufen, wenn er daran erinnerte, dass Jesus – nach dem Zeugnis der Bibel – seinen Anhängern Macht über Geister und Dämonen verliehen habe.19
Die heiligen Schriften sind aber nicht die einzige Quelle seiner Dämonologie. Sein Charisma, das ihn über gewöhnliche Priester erhob, speiste sich daraus, dass er in unmittelbaren Kontakt mit der Geisterwelt getreten war. Was er über Hexen, Dämonen oder Totengeister mitteilte, hatte er direkt von ihnen erfahren, durch zahllose exorzistische Sitzungen mit seinen „Patienten“. Bei einer dieser Geisterbeschwörungen, als sich das Antlitz einer Besessenen zu einer grotesken Fratze verzerrte, ist ihm Satan, der Anführer der Teufel, sogar persönlich erschienen. Angesichts dieser Erfahrungen beklagte er die Ignoranz westlicher Wissenschaftler, die ganze Bücher über Hexen verfassten, ohne je mit einer gesprochen zu haben. Seine Kritik galt aber auch Vertretern des kirchlichen Establishments, die davor zurückscheuten, sich mit dem Reich des Bösen auseinander zu setzen. Um Satan zu besiegen, müsse man seine Taktiken studieren. Mit Hilfe exorzistischer Techniken habe er die Teufel oft gezwungen, die Wahrheit zu bekennen, und so finden sich in den theologischen Abhandlungen Milingos viele Zitate von Dämonen, aus denen sich das Wesen der okkulten Welt erschließt.20
Zu Beginn seiner Priesterausbildung, als er sich noch von europäischen Vorurteilen leiten ließ, lehnte Milingo weite Teile der traditionellen afrikanischen Religiosität als heidnisch ab. Doch durch den engen seelsorgerischen Kontakt lernte er, dass 95 Prozent von dem, was er verworfen hatte, gut ist und sich mit dem Christentum vereinbaren lässt.21 So wie Milingo hat sich offenbar ein großer Teil des Klerus damit arrangiert, dass die religiösen Aktivitäten ihrer Gemeindemitglieder, ähnlich wie in vorkolonialen Zeiten, auf ganz diesseitige, materielle Ziele gerichtet sind.22 An moralischen Belehrungen ist ihnen wenig gelegen. Sie wollen auch nicht, in der Nachfolge Jesu, ihr Kreuz auf sich nehmen und dem Leid der menschlichen Kreatur religiöse Würde geben. Das Bild des gekreuzigten Gottes, der Schmerzen erduldet, hat afrikanische Christen nie fasziniert, so dass es fast nirgendwo zu sehen ist. Durch die rituelle Unterwerfung unter den mächtigsten aller Götter wollen die Gläubigen, ganz im Gegenteil, diverse Wohltaten empfangen. Vorstellungen von Sünde, Reue oder Buße spielen bei diesem religiösen Handel kaum eine Rolle. Statt das Böse in sich selbst zu suchen, imaginiert man es in Gestalt äußerer Kräfte, als feindselige Geister oder fremde Magie, die dem Streben nach Glück und Erfolg im Wege stehen. Im Kampf gegen diese unheilvollen Mächte geht es nur darum, religiöse Experten zu finden, die tatsächlich über die Fähigkeit verfügen, widrige Einflüsse mit Hilfe Gottes oder des Heiligen Geistes zu vertreiben. Priester, die Gläubige an sich binden wollen, müssen also durch Zeichen und Wunder beweisen, dass sie Unglück und Krankheit besiegen und den Fluch der Armut brechen können. Erzbischof Milingo zog Tausende von Gläubigen an, nicht weil er als geweihter Priester die vorgeschriebenen Sakramente spenden konnte, sondern weil er über exklusive Kräfte verfügte, die nur von seiner Person ausgingen. Deshalb wurde er in Sambia Tag für Tag von Hilfesuchenden bedrängt, die mit ihm sprechen oder ihn wenigstens berühren wollten.
Wie das Beispiel Milingos zeigt, ähnelt sich die katholische Kirche den vielen kleinen, unabhängigen Kirchen an, die mit ihrer ekstatischen, pfingstlerischen Frömmigkeit sehr viel erfolgreicher operieren. Einzelne Gemeinden verwandeln sich dadurch in lokale Kulte, die durch die charismatischen Fähigkeiten ihrer Führer zusammengehalten werden. Diese Entwicklung schwächt die Einheit der Kirche als einer Gnadenanstalt, die durch eine Hierarchie beamteter Priester die göttlichen Heilsmittel verwaltet. Statt über die Reinheit des Glaubens und der Liturgie zu wachen, wird sie zu einer Art Dachverband, der Tausende von lokalen Kulten und charismatischen Bewegungen umfasst. Ähnlich bei Anglikanern, Presbyterianern oder Methodisten. Als multikulturelle Unternehmen verlieren sie die Fähigkeit, einheitliche Formen der Lehre oder des Kultus durchzusetzen. Der katholische Bischof von Bloemfontein in Südafrika plädiert dafür, Gott durch Blutopfer zu ehren.23 Sein anglikanischer Kollege in Kapstadt, Desmond Tutu, will die Polygamie einführen, und der Vorsitzende der Methodistischen Kirche Südafrikas verlangte, inspiriert durch islamische Vorbilder, dass man Straftätern, je nach der Art ihrer Tat, die Hände oder andere Körperteile abschneidet.24
Afrikanisierung des Christentums
Vertreter einer schwarzen Theologie verlangen nicht nur das Recht, ihre Kirchen nach den eigenen religiösen Überzeugungen zu führen, sie wollen auch auf die Entwicklung des globalen Christentums Einfluss nehmen. Die spirituellen Kräfte, mit denen sich Theologen wie Milingo beschäftigen, sind nach ihrer Auffassung nicht nur ein afrikanisches Phänomen; Hexen und Dämonen gebe es auch in Frankreich oder Holland. Dass Kirchenführer in Europa – aus Ignoranz oder Überheblichkeit – diese spirituellen Realitäten verleugnen, habe großen Schaden angerichtet. Der Niedergang des europäischen Christentums hänge eng damit zusammen, dass es sich von seinen spirituellen Wurzeln entfernt habe. Umso anmaßender sei es, wenn kirchliche Autoritäten, die in ihrer Heimat kaum noch Respekt genießen, anderen Christen vorschreiben wollen, wie sie die Bibel zu lesen haben. Statt sich um Afrika zu kümmern, wo die Kirche in voller Blüte stehe, sollten sie sich besser um die eigene dekadente Kultur sorgen. Nach fast 2000 Jahren christlicher Präsenz sei Europa ein irreligiöser Kontinent, ein neues „Babylon“, in dem Satanskirchen sich offiziell registrieren lassen und Hexen ganz legal ihre Versammlungen abhalten.25 Der Kampf gegen liberale Strömungen in Europa eint afrikanische Kirchenführer über konfessionelle Grenzen hinweg. So stellte sich der methodistische Erzbischof von Lagos demonstrativ hinter seinen Amtskollegen, den Vorsitzenden der anglikanischen Kirche Nigerias, als der mit Bischöfen in England und den USA in Konflikt geriet: „Erzbischof Jasper Akinola hat ausgesprochen, was alle Nigerianer denken (…). [Homosexualität] ist eine Perversion des Christentums und der christlichen Kultur. (…) Wann immer wir einen bekennenden homosexuellen Bischof oder Pastor sehen, werden wir die Zusammenarbeit einstellen. Wir werden uns aus dem Weltkirchenrat zurückziehen. Es ist unvereinbar mit dem Christentum, besonders mit dem afrikanischen Christentum, und es ist an der Zeit, das wir beginnen, die Weißen zu re-christianisieren.“26
Zur Ent-Christianisierung Europas hat, nach Ansicht afrikanischer Theologen, vor allem die Aufklärung beigetragen.27 Sie hat die Religion fast ganz aus dem öffentlichen Leben verdrängt und sie in den Bereich einer weitgehend privaten Gemeindefrömmigkeit eingeschlossen. Die Kirchen haben sich nicht nur diesem Diktat unterworfen, sie haben es auch verinnerlicht, so dass sie selbst vom aufgeklärt-säkularen Denken angekränkelt sind. Ihre Gotteshäuser sind leer, weil Priester, die sich dem rationalistischen Denken gebeugt haben und die Macht des Irrationalen verdrängten, den Menschen nichts mehr zu sagen haben. Aus eigener Kraft wird sich das europäische Christentum mit seinem Intellektuellenglauben nicht erneuern. Der Impuls zu einer religiösen Wiedergeburt muss von außen kommen, von einer Region wie Afrika, in der das Christentum vom Denken und Fühlen der Menschen wieder Besitz ergriffen hat. Theologen wie Milingo wollen die Spaltung zwischen dem Heiligen und Profanen rückgängig machen, damit die Religion wieder ihre führende Rolle im Kampf gegen das Böse einnehmen kann.28 Um Europa wieder zu Gott zu führen, plädieren sie dafür, Missionare zu entsenden, die den weißen Christen „wirkliches Christentum“ beibringen.29 Sie wissen, dass sich der Schwerpunkt des Christentums in die Dritte Welt verlagert. Offenbar ist es nur eine Frage der Zeit, bis in Afrika mehr Christen leben als auf jedem anderen Kontinent, und deshalb sind schwarze Theologen optimistisch, dass sich das Christentum in eine nicht-westliche Religion verwandeln wird.30 Die Kirchen als Mittler zwischen den globalen Kulturen würden damit eine völlig neue Funktion erhalten. In der Vergangenheit, als weiße Missionare ihren Glauben nach Afrika brachten, wollten sie damit den Menschen zugleich die Segnungen der westlichen Zivilisation nahe bringen. Demgegenüber würden die Kirchen der Zukunft dazu dienen, afrikanische Spiritualität in andere Kontinente zu verbreiten. Kwame Bediako sieht darin eine Chance, die vorherrschende, vom Westen betriebene Form der Globalisierung umzukehren und durch eine „Globalisierung von unten“ zu ersetzen.31 Damit würde sich auch die Prophezeiung Emmanuel Milingos erfüllen, dass die ganze katholische Kirche eines Tages wieder charismatisch sein wird, so wie ihr Urbild vor fast 2000 Jahren.
Johannes Harnischfeger, Heidelberg
Anmerkungen
1 Ralushai 1996, 57, 61.
2 Ralushai 1996, 54f.
3 Tell [ein Nachrichtenmagazin aus Lagos], 22.4.2002, 12.
4 Ebd., 13.
5 Ebd., 13-14.
6 Harnischfeger 1997, 149-152.
7 Perlmutter 2003/2004, 2, 15.
8 Ebd., 13.
9 Perlmutter 2001/2002, 13, 15.
10 Perlmutter 2003/2004, 7.
11 Geschiere 1997, 200.
12 Rotberg 1976, 363-365.
13 Unter dieses Motto stellte der Evangelist Reinhard Bonnke seine öffentlichen Auftritte in Nigeria. In einer einzigen Nacht kamen 1,6 Millionen Gläubige (Jenkins 2002, 74).
14 Milingo 1985, 13; ter Haar 1992, 159.
15 Milingo 1985, 73; Kiagora 1993, 52; ter Haar 1992, 174-180, 198, 235.
16 Gifford 1998, 42.
17 African Independent Churches, Speaking for Ourselves, Braamfontein 1985, 26, in: Gifford 1998, 43.
18 Brown 1970, 33.
19 Lukas 9,1; Apostelgeschichte 5,12-16, 19,11.
20 Milingo1985, 36, 41-45, 69; ter Haar 1992, 190.
21 Milingo1985, 102.
22 Missionare, die jahrzehntelang in Afrika tätig waren, stellten ernüchtert fest, dass die traditionellen religiösen Einstellungen ihrer Gemeindemitglieder durch die christliche Botschaft „fast unberührt“ geblieben sind (Kirby 1994, 58).
23 Jenkins 2002, 131.
24 Business Day [Johannesburg], 9.2.1999.
25 Milingo 1984, 25; ter Haar, 261.
26 Newswatch [Lagos], 3.5.2004, 45.
27 Sanneh 1993, 184, 208-212.
28 Ter Haar 1992, 15, 156-157, 201.
29 Wan-Tatah 1998, 294.
30 Bediako 2000, 305-306, 314.
31 Bediako 2000, 314.
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