Georg Schmid

Die Sekte des Jesus von Nazaret. Neue Aspekte einer Betrachtung des Christentums

Georg Schmid, Die Sekte des Jesus von Nazaret. Neue Aspekte einer Betrachtung des Christentums, Kreuz-Verlag, Stuttgart 2006, 219 Seiten, 14,95 Euro.


Georg Schmid hat in diesem Buch seine Erfahrungen, Forschungen und Einsichten als Sektenberater, Religionswissenschaftler und Theologe in überaus origineller Weise verarbeitet. Der religionswissenschaftlichen Skepsis gegenüber dem Sektenbegriff begegnet er, indem er diesen auf die Geschichte der Jesusbewegung selbst anwendet und damit verändert. „Das frühe Christentum aber – dies zeigt die umgekehrte Blickrichtung an – ist nicht weniger Sekte als die Sekten der Gegenwart, sondern weit mehr Sekte als sie.“ (10) Diese Umkehr der Blickrichtung beinhaltet für ihn allerdings auch, den Sektenbegriff neutraler zu fassen als dies in der Regel der Fall ist: „Sekte nennen wir (...) eine dynamische Nachfolgegemeinschaft, geprägt von Erfahrungen gemeinsam erlebter oder gemeinsam anvisierter Unmittelbarkeit, d.h. eine kleine oder große Gruppe von Menschen mit gemeinsamer Leitfigur, gemeinsamem Leitbild, gemeinsamen persönlichkeitsverändernden Erfahrungen, mit einem gemeinsamen Willen und einem gemeinsamen spirituellen Raum.“ (13) Schmid weiß freilich, dass in anvisierter Unmittelbarkeit ein großes Machtpotential steckt und die Gefahr des Missbrauchs gegeben ist. In sektiererischen Gruppen der Vergangenheit und Gegenwart gewinnt dieser Missbrauch Gestalt. Techniken der Indoktrination, totale Vereinnahmung durch die Gemeinschaft, Rituale der Selbstpreisgabe gegenüber dem Meister zeigen gleichermaßen den Allmachtswahn der Sektenanführer und die grenzenlose und kritiklose Opferbereitschaft ihrer Nachfolger.

Im Folgenden erzählt der Verfasser die Gründungsgeschichte der Jesussekte, wie sie in den neutestamentlichen Schriften dargelegt ist. Er tut dies mit der Kenntnis historischer Jesusforschung und wirft gleichzeitig einen Blick auf die klassischen Sekten der Gegenwart und Vergangenheit, von denen sich die Jesussekte nach Schmid in charakteristischer Weise abhebt. „Sekten, die sich als perfekte Verwirklichung idealen Menschseins sehen, bearbeiten und überarbeiten ihren Kanon in der Regel so lange, bis er zum Zeugnis tadelloser Gläubigkeit und homogener Lehre wird. Das neue Testament geht von einem paradoxen Miteinander von altem und neuem Menschsein aus. Es gleicht Widersprüche nicht aus und verschweigt auch im Blick auf die Vorbilder im Glauben nicht Beispiele menschlicher Unzulänglichkeit.“ (41) „Sekten versuchen nach dem Tod des Meisters so rasch wie möglich eine Ordnung zu etablieren, in der sie das Meistererbe gut aufgehoben wissen. Die frühe Jesussekte durchlebt auffallend lange den Übergang zwischen Meistergegenwart und kirchlicher Organisation, denn in diesem Übergang verbindet sich die eigene Ohnmacht mit Erfahrungen neuer Unmittelbarkeit.“ (151)

Schmids Buch lebt in Sprache und Gehalt davon, Ergebnisse der modernen Diskussion über Sekten und neue religiöse Bewegungen auf die Darstellung des frühen Christentums anzuwenden. Dabei wird einerseits die faszinierende Kraft des Wirkens Jesu und seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger deutlich. Gleichzeitig wirft Schmid immer auch einen Blick auf die Kirchen, die er als „‚angegraute‘ Sekten“ (163) bezeichnet. „Wie kann eine freiheitlich gesinnte Kirche, die die Nachfolge zur sanften Mitgliedschaft verkommen lässt, noch neues Menschsein vermitteln?“ (164) Schmids eigene Perspektive ist mit einer dezidierten Kirchen- und Dogmenkritik verbunden und einem Plädoyer für christliche Selbstrelativierung. „Überzeugende Nachfolge braucht den Anspruch auf absolute Wahrheit nicht. (...) Engagierte Kirche entdeckt gottnahe Spiritualität gerne und fernab aller christlichen Gemeinschaften.“ (197) Ob eine solche Perspektive geeignet ist, die frühchristliche Faszination an Jesus und dem Urchristentum zu begründen, kann gefragt werden. Auch bleibt meines Erachtens zu wenig berücksichtigt, mit welchen inhaltlichen Anliegen und Bekenntnissen das Ereignis der Unmittelbarkeit im frühen Christentum verbunden war. Zu fragen ist auch, ob der Vorgang christlicher Traditionsbildung nicht positiver gewürdigt werden kann. Wenn Schmid die Notwendigkeit kirchlicher Selbstkritik unterstreicht, ist ihm unbedingt zuzustimmen. Die Kirche muss dafür Sorge tragen, „dass die Erfahrung des Meisters von Nazaret von der Flut neuer Unmittelbarkeit nicht völlig überschwemmt wird“. (186)

Das Buch ist in eingängiger Sprache geschrieben. Die Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels geben dem Leser einen guten Leitfaden an die Hand und sind zugleich eine nützliche Erinnerungshilfe, um sich die jeweils vorausgegangenen zentralen Aussagen zu vergegenwärtigen.


Reinhard Hempelmann