Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde
Gerhard Schulze, Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde. Hanser Verlag, München 2006, 288 Seiten, 21,50 Euro.
Eigentlich haben sie ihren Schrecken verloren: die Todsünden, die in früheren Zeiten die Menschen mit Höllenfahrt und ewiger Verdammnis bedrohten. Heute verspricht die Werbung „Geiz ist geil“ und kokettiert so gleich mit zwei Todsünden aus dem klassischen Siebener-Katalog von Papst Gregor I.: Völlerei, Wollust, Geiz, Trägheit, Zorn, Stolz und Neid. Warum also heute, da man diese Sünden vielleicht gerade noch aus der Eiskrem-Werbung kennt, ein flammendes Traktat gegen Höllenangst und moralischen Despotismus? Der Untertitel macht klarer, worum es dem Bamberger Kultursoziologen geht: Er sieht die seit der Aufklärung gewonnene Befreiung von der Sündenangst hin zum angstfreien Lebensgenuss bedroht vom Furor alt-neuer, radikal religiöser Lebensentwürfe: dem christlichen Fundamentalismus und dem Islamismus. Aber nicht deren politische Strategien und Winkelzüge zeichnet er nach, sondern Mentalitäten, die im Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen konkurrieren. „Zum einen geht es um den Gegensatz zwischen einem Leben für Gott und dem eigenen Leben, zum anderen geht es um die Balance zwischen Freiheit und Selbstbegrenzung.“ (30)
Dabei baut Schulze im ersten Teil einen nahezu schwarz-weiß gemalten Kontrast auf: Die Lehre von den sieben Todsünden gilt ihm als ein Frontalangriff auf jedes lustvoll selbstbestimmte Leben. „Es geht um die völlige Überwindung typisch menschlicher Empfindungen, um das ‚Abtöten’ des Fleisches.“ Also gegen jegliche Freude am Essen, jegliche sexuelle Lust, jeglichen Genuss von Besitz. Dies alles diene dazu, den ‚alten Adam’ zu brechen und den Gesetzen (und Launen?) eines rätselhaften Gottes zu folgen. Diese Linie zieht Schulze in je einem Kapitel für jede Todsünde aus, immer unter der Vorgabe, dass es keinesfalls um die Suche nach dem rechten Maß gehe, etwa zwischen Selbstbewusstsein und Überheblichkeit: „Die Lehre von den sieben Todsünden differenziert nicht zwischen verschiedenen Varianten des Stolzes, sie verurteilt ihn pauschal. Wer stolz ist, achtet sich selbst und vertraut sich selbst; wer sich aber selbst achtet und vertraut, der missachtet und misstraut Gott.“ (96)
Anders die Moderne: Sie sei gekennzeichnet zum einen durch die Freigabe menschlicher Bedürfnisse, zum zweiten durch die Privatisierung der Ethik. Welches das rechte Maß im Umgang mit Lebensgenuss ohne Schädigung anderer sei, das habe in der Moderne das Individuum in seinem eigenen Lebensentwurf zu entscheiden und nicht ein tyrannischer Gott. Dass auch die Todsündenlehre als Einhegung statt Negierung menschlicher Bedürfnisse verstanden werden kann, dieser Gedanke verschwindet hinter der plakativen Gegenüberstellung von religiöser Fremdbestimmung und aufgeklärtem Lebensgenuss.1 Der wiederum wird ja nicht nur von mittelalterlichen Päpsten bedroht (die dienen Schulze nur zum intellektuellen Aufgalopp), sondern von den religiösen Kulturkämpfern der Gegenwart. Die sieht der Autor vor allem im Islam beheimatet, aber auch in evangelikalen Erweckungsbewegungen und im „mythengesättigten Konservativismus“, den er der katholischen Kirche zuschreibt. Einzig der Protestantismus hat es nach Schulze vermocht, Impulse der Aufklärung zu einer „postmagischen Religiosität“ zu entwickeln, für die am Anfang der Name Schleiermacher steht: „ein Grenzgang ohne Mythen, ohne Dogmen, ohne letzte Autoritäten; eine Religion, die auf den denkenden und fühlenden Einzelnen als wichtigste Instanz in Glaubensfragen setzt.“ Demgegenüber sieht Schulze heute eine „magische Religiosität“ auf dem Vormarsch, die nicht auf Argumente setzt, sondern auf Unbeirrbarkeit und Diskursverweigerung, auf Bekenntnis statt Erkenntnis, auf Gefühl statt Verstand. „Ernüchterung verlangt Anstrengung, Ergriffenwerden geht fast von alleine.“ (159)
Schulzes Botschaft ist so schlicht wie prinzipiell plausibel: Es gelte, neue Gottesstaatsideen aller Schattierungen abzuwehren und die bunte, widersprüchliche Privatheit modernen Lebens ebenso offensiv zu verteidigen wie die Säkularität der Institutionen. Anders als Huntington mit seiner Idee des „clash of civilisations“ sieht Schulze die aktuelle Frontstellung nicht zwischen christlich und islamisch geprägter Welt, sondern zwischen westlich-weltlicher Moderne und alten wie erneuerten vormodernen Denkformen. Diese westliche Weltlichkeit (der eine aufgeklärte Religiosität nicht fremd sein muss) stehe aber vor einer geradezu paradoxen Aufgabe: Wie feiert man Skepsis, wie bekennt man sich zur Bekenntnisfreiheit? Oder im O-Ton: „Woher könnte ein Bekenntnis des Westens zu sich selbst genug emotionale Anziehungskraft beziehen, um mit der zutiefst berührenden Ausstrahlung magischer Glaubensbekenntnisse konkurrieren zu können?“ (262)
Die Frage bleibt offen, wie so viele in diesem Buch, das glänzend formulierte Gedankenblitze vermittelt, aber den roten Faden manchmal vermissen lässt. Dessen Sünden-Theorie fragwürdig bleibt, dessen eloquente Verteidigung einer offenen Gesellschaft aber allen Respekt verdient. Katholische wie protestantische Theologinnen und Theologen könnten es als Herausforderung begreifen, jenseits des klassischen Kulturprotestantismus ebenso wie jenseits der vormodernen Versuchung des Erweckungschristentums eine neue, tragfähige Theologie der Moderne zu formulieren.
1 Vgl. als vorzügliches Gegenbeispiel das auf einer Hörfunkreihe des Hessischen Rundfunks basierende Bändchen von Lothar Bauerochse / Klaus Hofmeister (Hg.), Geiz ist geil. Die Todsünden als Gebot der Stunde, Würzburg 2004.