Die „Szene“ der säkularen Verbände und Organisationen
Unter dem Titel „Umworbene ‚dritte Konfession‘. Befunde über die Konfessionsfreien in Deutschland“ fand im November 2005 in Berlin eine Tagung statt. Eingeladen hatten die Politische Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Humanistische Akademie und die Giordano Bruno Stiftung Mastershausen. Die Teilnehmer waren überwiegend Vertreter freigeistiger, freireligiöser, freidenkerischer, atheistischer und humanistischer Verbände. Zu den Referenten gehörte u.a. auch Andreas Fincke, der unter dem Thema „Die säkulare Szene – von außen gesehen“ aus distanzierter Sicht über die „Szene“ der zahlreichen Organisationen berichtete. Den Veranstaltern war bewusst, dass sie mit dem Autor einen evangelischen Theologen einladen, der sich selbst in weltanschaulicher Konkurrenz zu den säkularen Verbänden sieht. Folglich ist die Bestandsaufnahme kritisch bis kühl und versucht Fragen zu thematisieren, die in den Diskussionen der säkularen Verbände so nicht gestellt werden. Wie nicht anders zu erwarten, schloss sich eine heftige Diskussion an. Inzwischen wurde der Vortrag in „humanismus aktuell“ Nr. 18, Frühjahr 2006, publiziert. Wir veröffentlichen im Folgenden den Vortrag, der für den „Materialdienst der EZW“ überarbeitet wurde.
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sich seit der Wiedervereinigung ein tiefgreifender Wandel im Bereich der freigeistigen bzw. kirchenkritischen Organisationen vollzogen. Zu den Verlierern dieser Veränderungen gehören zweifellos die traditionellen Freidenker im Deutschen Freidenker-Verband (DFV), dessen geistige Ausstrahlung und politische Bedeutung gering sind. Klar profilieren konnte sich in den letzten Jahren jedoch z. B. der Humanistische Verband Deutschlands (HVD). Zwar ist seine Mitgliederbasis noch relativ bescheiden, das Erscheinungsbild des Vereins und seine politische Arbeit sind jedoch von beachtlicher Ausstrahlungskraft. Die Stärke des HVD besteht darin, dass er an den alltäglichen Atheismus im wiedervereinigten Deutschland anknüpft und in der politischen Arbeit auf die Gleichbehandlung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften drängt. Das Argument der Gleichbehandlung ist ein starkes, weil auf den ersten Blick einleuchtendes Argument. Man kann es jedoch auch hinterfragen. Ist wirklich ein Weltanschauungsverband mit bescheidener Mitgliederzahl gleich zu behandeln wie eine Kirche, die z.B. 50 Prozent der Einwohner umfasst?
Der Zentralrat der Konfessionslosen
Strategisch geschickt sind auch die Bemühungen um die Gründung eines „Zentralrats der Konfessionslosen in Deutschland“. Die Idee ist nicht ohne Raffinesse: Ein solcher Zentralrat könnte die Position der Konfessionslosen in der Öffentlichkeit stärken, er würde für Journalisten ein Ansprechpartner sein und der Begriff „Zentralrat“ hat eine gewisse Attraktivität, weil er an den bekannten Zentralrat der Juden oder an den Zentralrat der Muslime erinnert. Gegen die Idee spricht, dass von den etwa 20 Millionen Konfessionslosen in Deutschland nur etwa 20.000 in einem humanistischen bzw. atheistischen Verband organisiert sind und dass die Verbände in vielen wichtigen Fragen unterschiedliche Positionen einnehmen. Diese disparaten Positionen wären beträchtliche Hindernisse auf dem Weg zu einem „Zentralrat der Konfessionslosen“.
Schier unlösbar ist jedoch die Frage nach der Legitimation: Wie kann man alle Konfessionslosen repräsentieren, wenn nur Vertreter der organisierten Konfessionslosen mitarbeiten? Wie können 0,1 Prozent der Konfessionslosen Sprachrohr der gesamten, diffusen Szene sein? So ist z. B. umstritten, ob man im Sinne einer entschiedenen Trennung von Staat und Kirche bzw. Weltanschauung auf die Abschaffung des Religionsunterrichts drängen, oder umgekehrt im Sinne einer Gleichbehandlung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die flächendeckende Einführung eines freidenkerischen Ethikunterrichts („Lebenskunde“) als Alternative zum Religionsunterricht anstreben soll. Uneins ist man auch in der Frage der theologischen Fakultäten. Fordert man deren Abschaffung oder drängt man in Analogie dazu auf die Einrichtung sog. „humanistischer Lehrstühle“? Nicht eigentlich umstritten, aber heikel ist ferner die Frage nach den politischen Präferenzen. So stehen die im Deutschen Freidenker-Verband organisierten Freidenker kommunistischen Positionen nahe, sie setzten sich für die Freilassung des inzwischen verstorbenen Slobodan Milosevic ein, man unterstellt dem politischen Establishment in der Bundesrepublik „Demokratieabbau und faschistoide Tendenzen“ und zögerte nicht, dem „lieben Genossen Egon Krenz“ ein Grußtelegramm zu dessen Haftentlassung zu senden. Andere freidenkerische bzw. atheistische Organisationen sind über solche Positionen nicht glücklich. Diese unvereinbaren Haltungen bedeuten nennenswerte Hindernisse auf dem Weg zu einem Zentralrat der Konfessionslosen. Aber es gibt auch organisatorische Schwierigkeiten: Sollen die bereits bestehenden Verbände Vertreter in diesen Zentralrat senden? Nach welcher Quote? Selbst wenn diese praktischen Fragen gelöst werden könnten, die Überwindung der ideologischen Differenzen dürfte kaum möglich sein. Wenn der zu gründende Zentralrat jedoch kein Mandat hat, zu strittigen Fragen Stellung zu beziehen, dann wird er kaum Positionen vertreten, die für die Öffentlichkeit, für Journalisten und Medien interessant sind. Der Irrtum besteht darin, dass man glaubt, man benötige nur einen zugkräftigen Namen, um gehört und wahrgenommen zu werden. Dass dem nicht so ist, erfahren die Sprecher großer Verbände und Vereinigungen häufig. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und der Ratsvorsitzende der EKD werden nur dann gehört, wenn sie in der Sache etwas zu sagen haben, und nicht, weil sie viele Mitglieder repräsentieren.
Inzwischen wird das Projekt in den Reihen der Freidenker und Humanisten kontrovers diskutiert. Man fragt sich, wie der Zentralrat von Strömungen abgegrenzt werden kann, mit denen man nichts zu tun haben möchte: von rechten Esoterikern, neuheidnischen Rechtsextremisten und ewiggestrigen Stalinisten. Dreh- und Angelpunkt ist jedoch die Frage, wie die diffuse Gruppe der Konfessionslosen zu Religion und Kirche steht. Das ist noch längst nicht ausgemacht. Nach einer Untersuchung, die Michael Schmidt-Salomon im seinem „Manifest“ erwähnt, stehen immerhin 13 Prozent der Konfessionslosen religiösen Positionen nahe. Andere Untersuchungen nennen mit 22 Prozent sogar deutlich höhere Zahlen.1
Die Giordano Bruno Stiftung
Interessant entwickelt sich in der jüngsten Zeit auch die Giordano Bruno Stiftung. Die Stiftung bemüht sich um Öffentlichkeitsarbeit, organisiert Diskussionsveranstaltungen, fördert kirchenkritische Literatur und ist im Internet präsent. Im Januar 2005 hat man eine „Forschungsgruppe Weltanschauungen“ (fowid) gegründet. Diese verfolgt das Ziel, umfassende Informationen „zur sozialen Akzeptanz religiöser oder weltlicher Weltdeutungen zu erheben, auszuwerten und öffentlich zugänglich zu machen“. In den Prospekten findet man eine recht bizarre Polemik. So heißt es bezugnehmend auf einen Text aus dem alten Testament: „Wer diese ‚heiligen Texte‘ unvoreingenommen analysiert, kommt zu dem Ergebnis, dass diese insgesamt weit unter dem ethischen Mindeststandard jeder halbwegs zivilisierten Gesellschaft stehen.“ So ähnlich hatten sich seinerzeit die Deutschen Christen auch über das (jüdische) „alte“ Testament geäußert und dessen Minderwertigkeit begründet. Auch die Giordano Bruno Stiftung wird nicht an der Tatsache vorbeikommen, dass 3000 Jahre alte Texte einer differenzierten Interpretation bedürfen und man nicht übersehen darf, dass sie einem kulturellen Kontext entnommen sind. Wer so argumentiert wie in dem genannten Prospekt, der kann auch gleich neben der Bibel die griechischen Sagen und die „Edda“ auf den Index der jugendgefährdenden Schriften setzen lassen. Viele biblische Geschichten erzählen seelische Wahrheiten, handeln von menschlichen Grunderfahrungen, Ängsten und Hoffnungen. Selbst wenn man den religiösen Gehalt der Bibel bezweifelt, wird man das anerkennen müssen.
Die Giordano Bruno Stiftung möchte jedoch nicht nur die Kirchen und Religionen kritisieren, sondern „attraktive säkulare Alternativen“ entwickeln. So hat Michael Schmidt-Salomon im Auftrage der Giordano Bruno Stiftung das Buch „Manifest des Evolutionären Humanismus“ im Alibri-Verlag vorgelegt. Das ist im Grundsatz zu begrüßen, weil die Szene programmatische Texte benötigt. Dennoch einige kritische Bemerkungen: Immer wieder mahnt der Verfasser einen wissenschaftlichen Zugang an, er wird dieser Erwartung jedoch selbst nicht gerecht. Seine Beschreibung des Gegenübers, ohne den offenbar kein funktionierendes Selbstbild zu gewinnen ist, erinnert an Karlheinz Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums“ – als sei bereits die Aufzählung von Fehlern und Schwächen ein angemessener Zugang. Zweifellos gab es vielfältiges Versagen der Kirchen. Die Geschichte der Kirchen ist immer auch Teil der profanen Geschichte, ist unauflöslich mit dieser verwoben. Aber man muss die Dinge auseinander halten. Ich kann die heutige Freidenkerszene auch nicht darauf reduzieren, dass einige die Verbandsarbeit im Auftrage des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR begonnen haben. Selbst wenn das historisch richtig ist, ist damit noch nicht alles über die Freidenkerei im Jahre 2006 gesagt. Selbst wenn es dunkle Seiten in der Kirchengeschichte gibt, ist damit noch nichts über die evangelische bzw. katholische Kirche heute gesagt. Ich habe überhaupt den Eindruck, dass viele Freigeister ein Bild von den Kirchen pflegen, das sich mehr an Feindbildern orientiert als an der Wirklichkeit, das eher die Kirchen des 19. Jahrhunderts vor Augen hat als die der Gegenwart. Schmidt-Salomon versteigt sich zu Aussagen wie: „kein noch so verkommenes Subjekt unserer Spezies hat jemals derartig weitreichende Verbrechen begangen, wie sie vom Gott der Bibel berichtet werden!“2 Der Gott der Bibel, der sagt „liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen“ hat in diesem Zerrbild natürlich keinen Platz.
Dass man nicht eben zimperlich ist, wenn es um die Gefühle und Überzeugungen anderer geht, stellt der Geschäftsführer der Giordano Bruno Stiftung immer wieder unter Beweis. So wenn er erklärt, dem Christentum komme unter allen Religionen die Sonderstellung als „dümmste Religion“ zu – und ihren Anhängern, so muss man wohl folgern, die der beschränktesten: „Christen glauben nicht nur trotz Hitler, Hunger, Haarausfall an die Allgegenwart eines allmächtigen, allgütigen Gottes. Ihr Gott leidet zudem auch noch an einer höchst seltsamen multiplen Persönlichkeitsstörung (Dreifaltigkeit), was sich u.a. darin ausdrückt, dass er nach einem ärgerlichen Streit mit seinen Geschöpfen (Sündenfall) zunächst 99,99 Prozent allen Lebens vernichtet (Sintflut), dann einen Teil seiner selbst (Gottsohn) von einer antiken Besatzungsmacht (den Römern) hinrichten lässt, um mit sich selbst und seiner Schöpfung wieder im Reinen zu sein (Erlösung). Im Andenken an diese hochgradig psychopathologische Erlösungstat feiern die Christen Woche für Woche ein merkwürdiges Ritual, in dem eigens dazu ausgebildete Zeremonienmeister geheimnisvolle Zaubersprüche sprechen. Hierdurch werden profane Teig-Oblaten in den sich anscheinend milliardenfach replizierenden Leib des hingerichteten Erlösers verwandelt, der dann von den Gläubigen sogleich verspeist wird.“3 – Vermutlich gibt es auch für solcherart ironisch verpackte Schmähungen ein Publikum. Seltsam nur, dass der Autor solcher Zeilen sich wundert, wenn hochrangige Vertreter der großen Kirchen in Talkshows nicht mit ihm plaudern wollen. Schnell wird dann von Verletzung der Pressefreiheit gesprochen, als ob Pressefreiheit bedeutet, dass sich jeder jederzeit mit jeder Niveaulosigkeit auseinandersetzen muss.
Das „Heidenspaß-Komitee“
Zu den eher peinlichen Aktionen gehört auch die Idee der „Religionsfreien Zonen“. Im Vorfeld des Kölner Weltjugendtags 2005 hatten einige kirchenkritische Initiativen ein Gegenprogramm ins Leben gerufen, das unter dem Titel „Religionsfreie Zone: Heidenspaß statt Höllenqual“ von sich Reden machte. Zu den Initiatoren gehörte „ein lockerer Verband von selbständig denkenden Menschen“, aber auch Vertreter verschiedener Organisationen wie dem Freidenkerverband Köln, dem „Denkladen“, der Giordano Bruno Stiftung, dem Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) und anderen. Entsprechende Pressetexte waren flott formuliert. So konnte man unter Anspielung auf Asterix-Comics lesen: „Ist ganz Köln papstbesoffen? Ganz Köln? Nein, ein kleines Häuflein aufrechter Kölner leistet Widerstand: das Heidenspaßkomitee.“
Nach eigener Auskunft verzeichnete die von der Giordano Bruno Stiftung eingerichtete Website www.religionsfreie-zone.de im Umfeld des Weltjugendtags eine erstaunlich hohe Anzahl von Zugriffen. Außerdem erhielt man einige Tausend E-Mails. Wie die Veranstalter selbst schreiben, wurden offenbar viele Menschen „das erste Mal überhaupt darauf aufmerksam, dass es in Deutschland freigeistige Verbände und Institutionen gibt“. Der Sprecher des „Heidenspaß-Komitees“, Michael Schmidt-Salomon, gab im August 2005 rund 80 Interviews. Meldungen über die „Religionsfreie Zone“ fand man in zahlreichen deutschen und internationalen Zeitungen. Das sicherlich öffentlichkeitsrelevanteste Interview druckte das Magazin „Focus“ in seiner Ausgabe 33/2005, also genau zum Weltjugendtag.
Die beschriebene, vergleichsweise große Beachtung an der Gegenveranstaltung zeigt, wie die Medienlandschaft funktioniert: Das gewaltige Interesse der Öffentlichkeit und der Medien am Weltjugendtag und hier besonders am Besuch des Papstes weckt ein Interesse an anderen bzw. kritischen Stimmen. Genau dieses Bedürfnis haben die Initiatoren der Gegenveranstaltung geschickt aufgegriffen und für sich genutzt. Damit hat Michael Schmidt-Salomon sich faktisch zum Sprecher der Konfessionslosen bzw. der freigeistigen Verbände gemacht – womit die Diskussion um einen Zentralrat der Konfessionslosen eine neue Dynamik gewinnt. Übrigens widerlegt das beschriebene, öffentliche Interesse auch die in kirchenkritischen Kreisen immer wieder zu hörende Theorie, in Deutschland ginge die Macht der Kirchen so weit, dass sie kritische Berichte in Rundfunk und Fernsehen unterbinden könnten.
Das „Heidenspaß-Komitee“ verkennt die eigentliche Dynamik solcher Veranstaltungen. Man kann ja gegen die „Invasion“ von Katholiken sein und sich wie Asterix fühlen. Aber das eigentliche Phänomen besteht doch darin, dass knapp 300.000 Jugendliche aus eigenem Antrieb und mit Begeisterung solche Veranstaltungen besuchen und dafür einiges auf sich nehmen. Dieses Phänomen verlangt nach Erklärungen. Ähnliches war beim Wiederaufbau und der Einweihung der Dresdner Frauenkirche zu beobachten. Trotz eines starken Bindungsverlustes der Kirchen haben sich erstaunlich viele Menschen für dieses Ereignis interessiert. Tausende standen stundenlang an, um einen Blick in das Gotteshaus werfen zu können. Zu einer seriösen wissenschaftlichen Bestandsaufnahme gehört, dass auch diese Phänomene zur Kenntnis genommen werden und nicht nur Befunde rezipiert werden, die die eigene Position stärken. Das ist der Unterschied zwischen Ideologie und Wissenschaft, zwischen Parteitag und einer wissenschaftlichen Tagung. Der Gottesdienst zur Wiedereinweihung der Dresdner Frauenkirche, übertragen vom ZDF am 30. Oktober 2005, erreichte fast 3 Millionen Zuschauer und hatte eine Einschaltquote von 23,7 Prozent. Er ist damit der erfolgreichste im ZDF übertragene Gottesdienst seit langem. Seit Monaten ist der 11-Uhr-Gottesdienst in der Frauenkirche überfüllt. In vielen evangelischen Landeskirchen ist die Zahl der Kirchenaustritte in letzter Zeit deutlich gesunken; im Rheinland z.B. auf den niedrigsten Stand seit 1980.
Ich will nicht verleugnen, dass die beiden großen Kirchen in einer sehr schwierigen Lage sind. Die Austrittszahlen sind immer noch bedrückend. Dennoch sind in den letzten zehn Jahren etwa 500.000 bis 600.000 Menschen in die Evangelische Kirche eingetreten. Das ist ein Vielfaches der Mitgliederzahl der organisierten Kirchenkritiker. Allein in Berlin sind im selben Zeitraum jährlich etwa 1000 Menschen in die Evangelische Kirche eingetreten – das sind in nur einem Jahr so viele Menschen, wie der Berliner Humanistische Verband insgesamt Mitglieder hat! Es wäre zu wünschen, dass die Kirchenkritiker auch solche Tatsachen zur Kenntnis nehmen.
Wenn Fowid einen wissenschaftlichen Anspruch geltend machen will, muss diese Plattform auch Zahlen bieten, die die eigene Ideologie kritisch reflektieren. So wäre es interessant, dort eine Statistik zur Mitgliederentwicklung in freidenkerischen Organisationen zu finden. Wer hat denn wie viele Mitglieder? Was ist davon zu halten, dass die Deutschen Freidenker in den vergangenen 80 Jahren von mehreren hunderttausend Mitgliedern auf die verschwindende Größe von ca. 3.000 geschrumpft sind? Keine zweite Weltanschauungsgemeinschaft hat im 20. Jahrhundert einen solchen Bedeutungsverlust erlebt.
Die Allensbach-Umfrage
Im vorigen Jahr hatte der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) beim renommierten Allensbacher Institut für Demoskopie eine Studie in Auftrag gegeben. Die Studie erstaunt – weniger wegen der Ergebnisse als vielmehr wegen deren kühner Interpretation. Ermittelt wurde nicht etwa, wie bekannt der HVD landesweit ist und wie dieser oder jener zur Arbeit des Verbandes steht. Man hatte sich vielmehr beim HVD drei Schwerpunkte überlegt, die man in der eigenen Arbeit für zentral erachtet, und nach deren Akzeptanz in der Bevölkerung gefragt. Den Umfrage-Teilnehmern wurde ein Kärtchen mit folgendem Text vorgelegt: „Der HVD vertritt diese Lebensauffassung:
• ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben, das auf ethischen und moralischen Grundüberzeugungen beruht
• ein Leben frei von Religion, ohne den Glauben an einen Gott
• andere weltanschauliche und religiöse Lebensauffassungen zu achten und zu respektieren.“4
Dem schloss sich die Frage an: „Einmal alles zusammengenommen: Entspricht das ihrer eigenen Lebensauffassung voll und ganz, überwiegend, eher nicht oder gar nicht?“ 7 Prozent der Befragten entschieden sich für „voll und ganz“, 42 Prozent hielten das für „überwiegend zutreffend“, 21 Prozent für „eher nicht“ und 25 Prozent für gar nicht zutreffend. Daraus folgert der HVD: 49 Prozent der Deutschen stimmen der Lebensauffassung des HVD in der Hauptsache zu – sind quasi stille Sympathisanten. Das wäre eine gewaltige Zahl! Die Problematik dieser Umfrage bzw. ihrer Deutung besteht darin, dass ein Verband, den obendrein kaum jemand kennt, hier Werte eruiert, die sich auf allgemein zustimmungsfähige Themen beziehen, aber nicht auf die eigene Organisation und auf deren Ziele und Strukturen. Wenn die Kirchen sagen würden, sie stehen für Toleranz, den Schutz der Robbenbabys und die Bewahrung des Regenwaldes und anschließend fragen „Entspricht das ihrer eigenen Lebensauffassung...?“, so würde dies sicher die Mehrzahl der Befragten bejahen. Wäre damit aber etwas über die Zustimmung zu den Kirchen gesagt? – Wohl kaum. Der HVD aber versucht, die Ergebnisse der Allensbachumfrage in ein positives Votum für sich selber umzumünzen, indem er behauptet, dass immerhin 7 Prozent der Bevölkerung seine Lebensauffassung „voll und ganz“ mittragen. Das wären immerhin 4,23 Millionen Bundesbürger. Man ist schon jetzt überzeugt, das Sprachrohr dieser 4 Millionen zu sein, und wird sich künftig sicher entsprechend weiter profilieren.
Die organisierten Freigeister sind gewiss nicht die Vertreter der Konfessionslosen in Deutschland. Entsprechende Behauptungen entspringen reinem Wunschdenken. Es herrscht auch kein Wettbewerb zwischen „den Kirchen“ und „den Freigeistern“. Allenfalls ist Sprachlosigkeit zu konstatieren. Wenn die Kirchen jedoch Jesu Auftrag zu Verkündigung des Evangeliums (Mt 28, 19f) ernst nehmen, dann dürfen sie nicht müde werden, danach zu fragen, wer die Konfessionslosen sind und was sie denken – so wenig konsistent sie auch in Erscheinung treten. Dabei gilt es, gravierende Unterschiede zu beachten: Die Mehrzahl der westdeutschen Konfessionslosen haben sich bewusst von den Kirchen entfernt, die Mehrzahl der ostdeutschen Konfessionslosen haben keine solche Entscheidung getroffen, weil Kirche aufgrund ihrer Sozialisation überhaupt nie in ihren Lebenshorizont getreten ist. Es gibt also nicht „die“ Konfessionslosigkeit, wohl aber unterschiedliche Gesichter dieses Phänomens.
Andreas Fincke
Anmerkungen
1 Michael Schmidt-Salomon, Manifest des Evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffenburg 2005, 141. Vgl. Gottesvorstellungen nach Religionszugehörigkeit, zu finden unter www.fowid.de.
2 Schmidt-Salomon, Manifest, 68.
3 Heike Jackler, Interview mit M. Schmidt-Salomon. Zu finden unter http://www.humanist.de/kultur/literatur/religion/salomon.html.
4 Zit. nach: Pressemappe des HVD vom 16. März 2005.