Norbert Ellinger

Die Vipassana-Meditation nach S. N. Goenka

Ein Erfahrungsbericht

Auf dem Weg zu einer vertieften Spiritualität können Christinnen und Christen viel von anderen spirituellen Traditionen lernen. Aus dieser Überzeugung heraus besuchte ich einen Vipassana-Meditationskurs im katholischen Bildungshaus St. Arbogast (Österreich). Ich hatte im Internet nach einem passenden Kurs gesucht, nachdem mir Vipassana von mehreren Seiten als Methode empfohlen worden war, die eigene Achtsamkeit zu schulen.

Schule der Achtsamkeit

Vipassana ist eine auf Achtsamkeit und Einsicht beruhende Methode, mit deren Hilfe Leiden überwunden und der Zustand des Nirwana erlangt werden soll. Die Hauptquellen finden sich im Pali-Kanon, der die ältesten überlieferten Sammlungen der Reden Buddhas enthält und die Grundlage für den Theravada-Buddhismus bildet. Mit welcher Methode genau dies erreicht werden kann, ist unter seinen Anhängern jedoch umstritten.

Sehr schnell stieß ich auf die Vipassana-Kurse, die auf den Lehren des burmesischen Hinduisten Satya Narayan Goenka beruhen. Dass die Kurse nicht kommerziell, sondern unentgeltlich angeboten werden, ehrenamtlich tätige frühere Kursteilnehmer die gesamte Organisation übernehmen und die Versicherung, dass es sich um eine quasi überreligiöse und nicht missionarisch angelegte Veranstaltung handele, bewogen mich zur Anmeldung. Außerdem signalisierte die Tatsache, dass der Kurs regelmäßig in einem katholischen Bildungshaus stattfand, eine gewisse Solidität und Kompatibilität mit christlicher Spiritualität. Die Kurse werden nach einem fest gefügten Zehn-Tage-Schema abgehalten. Nachdem man alle persönlichen Dinge wie Handy oder Bücher abgegeben hat und in einem Einführungstreffen in die Rahmenbedingungen eingewiesen wurde, werden Männer und Frauen für die gesamte Dauer des Kurses räumlich getrennt. Die „edle Stille“ beginnt. Jede Art von Ablenkung soll dabei vermieden werden. Es wird auf alles verzichtet, was die Achtsamkeit beeinträchtigt: jegliche Art von Kommunikation und Körperkontakt, Musik hören oder lesen, selbst Sonnenbaden oder das Anfertigen von Notizen. Einzige Ausnahme ist, wenn der Lehrer (bei den Frauen: die Lehrerin) zweimal täglich für Fragen zur Verfügung steht. Da der Erfolg der Meditation auf dem Praktizieren der Methode basiert, soll deren Anweisungen genauestens Folge geleistet werden. Wer an einem Kurs teilnimmt, verpflichtet sich, während dieser Zeit „kein lebendiges Wesen zu töten, nicht zu stehlen, sich jeglicher sexueller Aktivitäten zu enthalten, nicht zu lügen und keine Rauschmittel zu sich zu nehmen“. Um die Methode in ihrer eigenen Wirkung zu erleben, ist man angehalten, seine gewöhnliche religiöse oder meditative Praxis für die Dauer des Kurses ganz einzustellen.

Die Unterbringung ist einfach (Viererzimmer), das Essen vegetarisch und schmackhaft. Der Tag beginnt um 4 Uhr früh mit einer zweistündigen Meditation. Wenn der Tag um 21.30 Uhr endet, hat man sieben bis zehn Stunden meditiert, die meiste Zeit davon in einem Saal mit über 100 Schülern. Die Anweisungen kommen von Band und werden von S. N. Goenka selbst gegeben, mit deutscher Übersetzung. Am Abend findet ein einstündiger Vortrag statt, der nicht vom Lehrer, sondern ebenfalls von S. N. Goenka selbst gehalten und via iPod übertragen wird. Darin werden die Grundlagen des Vipassana auf anschauliche und durchaus unterhaltsame Weise dargelegt.

Die Vipassana-Methode nach S. N. Goenka besteht darin, Körperempfindungen wahrzunehmen, und zwar sehr intensiv. Am ersten Tag konzentriert man sich lediglich darauf, den ein- und ausströmenden Atem in den Nasenhöhlen, an der Nase und unter der Nase wahrzunehmen. Am zweiten und dritten Tag wird das Gebiet, auf das man seine ganze Aufmerksamkeit richten soll, auf das Dreieck zwischen Nasenwurzel und Oberlippe erweitert. Erst am vierten Tag beginnt das eigentliche Vipassana, indem sehr langsam und aufmerksam die Körperempfindungen nach und nach, von der Fontanelle bis in die Zehenspitzen, wahrgenommen werden (Bodyscann). Das soll geschehen, ohne sie zu bewerten, sie zu begehren oder abzulehnen, sondern sie sollen mit Gleichmut betrachtet werden. Begehren und Aversion werden als geistig-seelische Dynamiken der Anhaftung (Sankara) verstanden, die sich in körperlichen Empfindungen manifestieren. Indem man diesen körperlichen Empfindungen nicht wieder mit Aversion, Begehren oder den üblichen konditionierten Denk- oder Verhaltensweisen begegnet, sondern mit dem Gleichmut, der auf der Einsicht in die Vergänglichkeit (Anicca) beruht, geschehen Reinigung und Läuterung.

Dass während ca. acht Stunden Meditation täglich (dreimal täglich davon eine Stunde in absoluter Bewegungslosigkeit) nicht nur starke körperliche Schmerzen, sondern auch innerliche Kämpfe ausgefochten werden („Was tue ich hier überhaupt?“), kann man sich vorstellen. Die ersten Tage fiel ich todmüde ins Bett und schlief tief und fest. Nicht nur körperliche, sondern auch seelische Empfindungen und längst vergangene Erinnerungen stiegen in mir auf.

Doch Disziplin und Geduld zahlten sich bald aus: Die Gefühle des Hungers, des Davonlaufen-Wollens oder der Einsamkeit verschwanden ebenso wie die Lust auf Schokolade, Unterhaltung oder Körperkontakt. Nach acht Tagen strebsamer Meditation und Befolgung aller Anweisungen (außer der, sich keine Notizen zu machen) stellte sich unvermittelt eine Art „flow“ ein: eine ständig sich von oben nach unten und umgekehrt bewegende Wahrnehmung der gesamten Körperoberfläche. Er mündete schließlich in das überwältigende Gefühl, in den eigenen Körper einzutauchen und herumzuschwimmen wie ein Fisch im Aquarium des eigenen Ich. Später erfuhr ich, dass ich das Stadium des „Bhanga“ erreicht hatte. Dieses Gefühl der Auflösung wurde jedoch immer wieder von starken Rückenschmerzen begleitet. Das alles mit dem geforderten Gleichmut zu erleben und weder erstreben noch vermeiden zu wollen, war eine Herausforderung für sich.

Die von Goenka angebotenen Begriffe und Vorstellungen kann man teilweise durchaus ins Christliche übersetzen: Der stoische und gefühlskalt klingende „Gleichmut“ hat etwas mit „Gottvertrauen“ zu tun, nämlich der Haltung, alles – sei es gut oder schlecht – aus Gottes Hand zu nehmen. Dieser Gleichmut kann auch davor bewahren, sich durch Leistungen rechtfertigen zu wollen oder sich Rückschläge zu sehr zu Herzen zu nehmen. Die Anhaftungen kann man als eine Art Götzendienst interpretieren im Sinne von Luthers „woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“. Die Vipassana-Methode ist auch eine gute körpernahe Einübung in die Bejahung der eigenen Vergänglichkeit. Die Zeit auf dem Meditationshocker ist sozusagen ein reinigendes Fegefeuer auf dem Weg ins Nirwana. Genau da beginnt aus evangelischer Perspektive natürlich auch die Kritik.

Selbsterlösung und keine religiöse Neutralität

Ziel von Vipassana ist es, sich selbst mithilfe einer bestimmten Methode zu reinigen und im Leben das Nirwana zu erreichen. Sämtliche Reden Goenkas sind durchzogen von der Aufforderung: „You have to liberate yourself, because no other person will do it for you“. In der Praxis geht es nicht nur um das Erlernen einer Meditationstechnik, sondern um die gläubige Annahme der buddhistischen Vorstellung vom Karma und der damit verbundenen Lehre von der Wiedergeburt bis hin zur endlichen Selbsterlösung. Alle anderen Arten von Religion tut Goenka letztlich als „devotional game“ ab und diffamiert alles Nachdenken als „intellectual game“. Andere Meditationstechniken werden als zwar hilfreich, aber doch nicht zur Erlösung hinführend abgetan und die Vipassana-Technik als die allein zum Ziel führende gepriesen. Dafür erntet Goenka auch innerhalb der buddhistischen Gemeinde vehementen Widerspruch.1 Indem er behauptet, seine Vipassana-Methode sei die Originalmethode, wie sie der Buddha selbst praktiziert habe, erhebt er einen Exklusivitätsanspruch.

Mein positiver Eindruck während der ersten neun Tage verdunkelte sich schlagartig am letzten Tag. Bei S. N. Goenkas Rede am letzten Morgen kam ich mir vor wie bei einer Missionspredigt von Billy Graham. Es ging plötzlich nicht mehr nur um eine „Technik“, sondern darum, zwei Stunden am Tag meditieren zu müssen, um die Technik zu behalten. Angereichert mit Berichten von „Prophezeiungen“ und dem persönlichen „Zeugnis“ S. N. Goenkas fühlte ich mich gedrängt, in eine Regionalgruppe – am besten jedes Wochenende – zu gehen, einmal im Jahr den zehntägigen Meditationskurs zu machen und dem „Dhamma“-Service der Ehrenamtlichen beizutreten – ganz zu schweigen von der Aufforderung, dies auch noch als „Honorar“ für den eigentlich kostenlosen Dienst des Lehrers anzusehen. Ich bekam mehr und mehr das Gefühl, auf einer Missionsveranstaltung einer sektenartigen, fundamentalistischen Gruppierung gelandet zu sein.

Auch wenn S. N. Goenka in seinen Vorträgen betont, dass es nicht darum gehe, von einer organisierten Religion zu einer anderen zu wechseln, und dass Vipassana kein Ritus oder Ritual sei und auch nicht auf blindem Glauben beruhe, so fordert er doch zu einer Konversion und dem Eintritt in seine Vipassana-Gemeinde auf. Wie soll jemand seine christliche Religion weiter praktizieren, wenn sein Wochen- und Tagesablauf von Vipassana und seiner Gemeinde dominiert wird? Auch meine Gespräche mit den Schülern, die schon länger dabei waren, verstärkten in mir den Eindruck, dass Vipassana für sie nicht als eine Vertiefung ihres christlichen Glaubens, sondern als eine Alternative dazu empfunden wurde.

Durch diese massiven Missionsversuche am Ende des Kurses kam ich mir schließlich wirklich getäuscht vor. Letztlich wird Vipassana von S. N. Goenka nicht nur als eine wertvolle Meditationsmethode, sondern als der (letztlich einzige) Weg zur Erlösung verkauft. Dazu erhebt er den Anspruch, genau die Technik zu lehren, die der Buddha selbst praktiziert und gelehrt hat. Diese Behauptung bleibt unbewiesen und wertet implizit alle anderen spirituellen Wege und Religionen ab. Das liegt sicher nicht nur nicht im Sinne des Buddhismus, sondern widerspricht der zentralen christlichen Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben. Meditieren mit dem Ego-gesteuerten Ziel, sich selbst zu erlösen, befreit nicht, sondern führt in eine neue Knechtschaft.

Antirationalismus

Was an Vipassana als Technik nicht hoch genug einzuschätzen ist, ist der Erfahrungsbezug und die Anleitung, auf seine eigenen Wahrnehmungen zu achten. Doch die eigene Erfahrung als einziges Kriterium der Wahrheit herzunehmen, ist – nicht nur aus christlicher, sondern auch aus philosophischer und wissenschaftlicher Sicht betrachtet – unzureichend, ja gefährlich.

Während S. N. Goenka jeden Anflug von Rationalität als „intellectual game“ abtut, darf er selbst eine Stunde pro Tag den rationalen Geist der Schüler massiv beeinflussen, indem er jede Menge (z. T. sehr gute, z. T. weniger gute) an den Intellekt seiner Zuhörer gerichtete Argumente gebraucht. Nachfragen und Kritik diesbezüglich sind aber weder erwünscht noch möglich. Es gibt keinen Raum für Nachfragen, die sich nicht auf die Meditationstechnik beziehen. Alle anderen Fragen werden abgetan oder mit der Antwort „probiere es aus“ abgespeist. Auch nach den zehn Tagen, als die „edle Stille“ wieder aufgehoben wird, besteht keine echte Gelegenheit zum Feedback oder Austausch.

Schlecht begleitet

Wie ich an mir selbst sehen konnte, ist die Vipassana-Technik ein machtvolles Instrument der Selbstwahrnehmung. Deshalb wird Menschen mit psychischen Problemen zu Recht davon abgeraten, den Kurs zu besuchen. Doch selbst Menschen mit einem guten Seelenkostüm können über die Bewusstseinszustände, die sie dort erleben, in schwere spirituelle bzw. psychische Turbulenzen geraten. Weder in den Vorträgen noch im Gespräch mit dem Lehrer wird über die Aus- und Nebenwirkungen z. B. des Stadiums des „Bhanga“ hinreichend aufgeklärt. Ich selbst war in diesem Stadium, noch bevor der Hinweis kam, dass dies geschehen könnte, und ich fühlte mich zunächst total hilflos und verloren.

Der äußere Rahmen ist zwar sehr hilfreich für die außerordentlich hohe Achtsamkeit. Im Verbund mit der absoluten, unhinterfragbaren Autorität von S. N. Goenka, den stereotypen Antworten des Lehrers, dem Mangel an Reflexion und Aussprache können Nahrungs-, Schlaf- und Kommunikationsentzug bei vielen Menschen schnell zum Verlust der Urteils- und Kritikfähigkeit und damit in eine Abhängigkeit und Manipulation führen. Wer etwas im Internet forscht, findet jede Menge Berichte von Menschen, die bei oder nach einem Vipassana-Kurs nach S. N. Goenka in psychotische Zustände verfielen. Das Verantwortungsgefühl gebietet es, auf solche Ereignisse vorbereitet zu sein. Das scheint jedoch nicht der Fall zu sein, da es in der Einführung heißt, dass die Kurse „von nicht speziell therapeutisch geschulten Personen organisiert und durchgeführt werden“. Im Internet wird berichtet, dass Menschen während oder kurz nach dem Kurs Psychosen erlitten2 oder dass Teilnehmer mit psychischen Problemen ohne ein Gespräch oder Begleitung einfach in den nächsten Zug gesetzt wurden.3

Fazit

Vipassana als Meditationstechnik ist eine gute Möglichkeit, Selbstwahrnehmung und Achtsamkeit zu vertiefen. Das erhöhte Körperbewusstsein verschafft unmittelbareren Zugang zur spontanen Gefühlswelt und Intuition, sodass alltägliche unbewusste Reiz-Reaktions-Schemata leichter durchbrochen werden können. Ein gut begleiteter, nach westlichen Standards durchgeführter Kurs ist sicher für jeden ein Gewinn und empfehlenswert. Doch S. N. Goenka packt Vipassana in ein Gewand, das ich aus oben genannten Gründen nur als buddhistischen Fundamentalismus mit sektiererischen Zügen bezeichnen kann. Deshalb: Vipassana: ja – Goenka: nein.


Norbert Ellinger


Anmerkungen

1 Vgl. www.buddha-heute.de/blog/2010/03/07/die-tradition-des-vipassana-von-s-n-goenka-und-ihre-reine-technik-des-buddha .
2 Vgl. im Forum: http://de.soc.weltanschauung.buddhismus.narkive.com/CKkmJdwz/rat-zu-ubung .
3 Vgl. einen anonymen Bericht auf http://sekten-info-nrw.de/index.php?option=com_content&task=view&id=154&Itemid=46