Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte
Uwe Puschner/Clemens Vollnhals (Hg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, 592 Seiten, 79,95 Euro.
Der Nationalsozialismus kam ideologisch nicht aus dem Nichts. Die ideologische und auch religiöse Überhöhung von Volk und Rasse ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert in den unterschiedlichsten Segmenten der deutschen Gesellschaft zu beobachten. Strittig ist, welche Bedeutung diese – in sich keineswegs einheitliche – völkisch-religiöse Strömung für die Entwicklung des Nationalsozialismus allgemein und speziell für die Ideenwelt Adolf Hitlers hatte: War sie Ursprung und Grund der NS-Bewegung oder lediglich ein günstiges Umfeld für deren Behauptung und Durchsetzung? Der 2012 erschienene Sammelband aus der Schriftenreihe des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung liefert dazu ebenso detaillierte wie differenzierende Analysen, die sich nicht in einem glatten Ja oder Nein erschöpfen.
Die 25 Beiträge nach Herkunft und Alter sehr verschiedener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler widmen sich dabei drei unterschiedlichen Schwerpunkten. Kapitel I beschreibt an ausgewählten Beispielen die dem Christentum distanziert bis feindlich gegenüberstehenden völkisch-paganen Gemeinschaften und den vergeblichen Versuch, sie inhaltlich und organisatorisch zu vereinheitlichen. Kapitel II zeichnet zum einen die Versuche nach, ein völkisch-deutsches Christentum zu entwickeln, das seine jüdischen Wurzeln zurückzudrängen, zu verleugnen oder auszumerzen suchte. Zum zweiten beschreibt es die Reaktion der großen Konfessionen auf diese Umdeutung des christlichen Glaubens. (Die Freikirchen werden hier nur am Rand erwähnt; mehr zu ihnen findet sich bei Daniel Heinz, Freikirchen und Juden im „Dritten Reich“, s. MD 11/2011, 437-439). Kapitel III befasst sich mit dem Erscheinungsbild und dem Einfluss der Völkisch-Religiösen in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft. Dabei werden sowohl einzelne Persönlichkeiten als auch ausgewählte Gruppierungen porträtiert, bis hin zu so pittoresken Phänomenen wie der „völkisch-religiösen Runengymnastik“. Aber auch das Vordringen völkischer Ideen in eigenständige Organisationen wie Freimaurer und Anthroposophen wird sachkundig beleuchtet. In Ernst Pipers Text zum NS-Chefideologen Alfred Rosenberg wie auch in den zwei einleitenden Überblicksartikeln des Bandes finden sich schließlich die entscheidenden Einschätzungen, welchen Einfluss das völkisch-religiöse Milieu tatsächlich auf das Tun und Lassen der NS-Machthaber hatte. Insofern kann man diese Einleitungstexte der Herausgeber Uwe Puschner und Clemens Vollnhals sowie von Klaus Vondung getrost auch als Zusammenfassung und Fazit lesen.
Zu den Themen im Einzelnen: Ein Teil der Völkischen hat sich von Anfang an strikt nichtchristlich bis antichristlich definiert. Neben Kritik an Elementen christlicher Theologie (z. B. an der Sünden- und Erbsündenlehre) war dafür immer die Abgrenzung von den jüdischen Wurzeln des Christentums maßgebend; am radikalsten tat dies der von Erich Ludendorff, Feldmarschall im Ersten Weltkrieg, und seiner zweiten Frau Mathilde gegründete „Bund für Deutsche Gotterkenntnis“. Sein exklusiver Anspruch auf die einzig wahre germanische Religion verbot sowohl die Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche als auch die Kooperation mit der nicht hinreichend glaubensstarken NSDAP. Mitgliederzahlen dieses elitären Bundes sind nicht überliefert; immerhin hatte seine Zeitschrift „Quell“ zeitweise eine Auflage von 86 000 Exemplaren; dort konnte man wüste Polemiken gegen „artfremde Glaubenslehre“ wie „die Hölle als Bestandteil der Kindererziehung“ (zit. 134) nachlesen. Exklusive Wahrheitsansprüche waren in der hoffnungslos zerstrittenen völkischen Szene eher die Regel als die Ausnahme.
Insofern überrascht auch das Scheitern des bedeutendsten Einigungsversuchs nicht, der Pfingsten 1934 gegründeten „Deutschen Glaubensbewegung“. Was ihre Mitglieder gemeinsam hatten, fasst der Tübinger Religionswissenschaftler Horst Junginger so zusammen: „Erstens die Gegnerschaft zu den christlichen Kirchen, zweitens die positive Berufung auf eine vor- oder außerchristliche religiöse Tradition, die vorzugsweise mit den Germanen oder Indogermanen in Verbindung gebracht wurde, und drittens die Bezugnahme auf den Rassegedanken“ (66). Ihr Gründer und „spiritus rector“, der frühere Missionar und spätere Indologe Jakob Wilhelm Hauer, hoffte damit eine „dritte Konfession“ gleichwertig zu den christlichen Konfessionen zu etablieren. Diese zählte freilich – ungeachtet zahlreicher beteiligter Gruppen und Grüppchen – nie mehr als fünf- bis zehntausend Mitglieder.
Am erstaunlichsten war der zeitweilige Versuch eines Teiles der Freireligiösen, hier anzudocken. Da eine reale „dritte Konfession“ nicht zustande kam, verlor die Naziführung bald das Interesse daran. Spöttisch notierte Reichspropagandaminister Goebbels am 25. April 1936, nach dem Rücktritt Hauers, in seinem Tagebuch: „Ein Konglomerat von Schwätzern, Intriganten, böswilligen Gesinnungsschiebern. Nein, so entstehen keine Religionen. Und so stürzt man auch nicht das Christentum“ (zit. 97).
Nur kurzzeitig erfolgreicher – was die Anerkennung des Regimes angeht – war die von Hauer verachtete Konkurrenz: diejenigen christlichen Kräfte, die eine völkische und „judenfreie“ Variante des Christentums etablieren wollten. Das begann mit den Versuchen, den Galiläer Jesus von Nazareth zum von eingewanderten Ariern abstammenden Nichtjuden zu machen; die Tradition dieses schon im 19. Jahrhundert aufflackernden Gedankens stellt der Paderborner Exeget Martin Leutzsch kurz und prägnant vor. Und es endet mit dem sehr deutschen Versuch, die Ausmerzung des Judentums aus der christlichen Religion geschäftsmäßig zu organisieren: mit der am 6. Mai 1939 erfolgten Gründung des „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ in Eisenach. Nichts weniger als die „Umdefinierung des Christentums in eine germanisch-arische Religion“ (249) war laut der Theologin Susannah Heschel das Ziel dieses Instituts, das von dem Jenaer Theologen Walter Grundmann geleitet wurde. Radikale Formen wie „entjudete“ Bibeln und Gesangbücher, die das Institut herausgab, mögen nur einer Minderheit des Protestantismus in der Praxis gedient haben. Aber auf 600 000 Mitglieder schätzt der Berliner Historiker Manfred Gailus die es tragende „Glaubensbewegung Deutsche Christen“, die in ihren besten Jahren 1933 bis 1935 zudem viele Kirchenleitungen dauerhaft erobert hatte (z. B. Thüringen, Bremen, Lübeck).
Kritik an diesem „christlich-nationalsozialistischen Doppelglauben“ (233) formulierte und begründete u. a. die „Apologetische Centrale“, die Vorläuferin der EZW, mit ihrem Leiter Walter Künneth, der zum konservativ-lutherischen Flügel der Bekennenden Kirche zählte. Seine theologische Kritik freilich galt nur den völkisch-christlichen Misch- (und Miss-)gebilden, während er im staatlich-politischen Bereich den Volkstums- und Rassegedanken durchaus angebracht fand. „Damit kam der evangelischen Apologetik letztlich das ideologiekritische Instrument abhanden, um das verhängnisvolle wie menschenverachtende Potenzial der nationalsozialistischen Ideologie, die mit der völkischen Weltanschauung nahezu identisch war, zu durchschauen“, so der frühere EZW-Referent Matthias Pöhlmann in seinem lesenswerten Beitrag. – Auch die amtlich-katholische Kritik, so die Saarbrücker Theologin Lucia Scherzberg, attackierte in ihrer Auseinandersetzung mit dem „Mythos des 20. Jahrhunderts“ (dem vom Vatikan auf den Index verbotener Bücher gesetzten Hauptwerk des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg) alles Streben nach einer „entjudeten“ neuen Religion und einer deutschen Nationalkirche, nicht aber die Politik des NS-Staats. Die Versuchung zu rassistisch-deutschtümelnder Theologie war freilich in der übernationalen, von Rom aus geleiteten katholischen Kirche ohnehin geringer als im Protestantismus; so versuchten sich auch nur Einzelne wie der prominente Tübinger Theologe Karl Adam an einer völkischen Variante des Katholischen, und die Resonanz blieb marginal.
Die Nazis freilich reagierten erstaunlich kühl auf Kooperationsangebote völkisch-heidnischer wie völkisch-christlicher Hilfstruppen. Zum einen sahen sie zu Recht in den völkischen Gruppen eher obskure und sektiererische Kräfte am Werk und gingen bald nach der Machtergreifung dazu über, diese durch den – mit der Polizei konkurrierenden – Sicherheitsdienst (SD) der SS zu beobachten. Zudem gefährdeten diese Gruppen den weltanschaulichen Monopolanspruch der Partei. Nach Wolfgang Dierker „wurde der Deutschen Glaubensbewegung und anderen völkischen Gruppen ein vorläufiges Existenzrecht als informell kontrollierte Kampforganisationen gegen die christlichen Kirchen zugestanden, auf lange Sicht aber ihr vollständiges organisatorisches und weltanschauliches Aufgehen in der nationalsozialistischen Bewegung gefordert“ (371). Auch die „Deutschen Christen“ dienten den Nazis nur kurzfristig als Instrument im Kirchenkampf; Hitler selbst warb für sie im Radio vor den Kirchenwahlen im Juli 1933. Demonstrative Auftritte wie Massentrauungen und Massentaufen unter Verwendung auch von NS-Symbolen wurden hingegen bald untersagt. Der Nationalsozialismus wollte keine alte Religion und keine neue Religion; er wollte sich selbst an die Stelle jeglicher Religion setzen. Hitler betonte: „Der Nationalsozialismus ist eben keine kultische Bewegung, sondern eine ausschließlich aus rassischen Erkenntnissen erwachsene völkisch-politische Lehre. In ihrem Sinne liegt kein mystischer Kult, sondern die Pflege und Führung des blutsbestimmten Volkes“ (zit. 32). Die Übernahme kultischer Elemente, wie Fahnenweihe und ritualisierte Massenversammlungen, diente instrumentell „der Unterwerfung der Gefolgsleute unter den politischen Willen der Führung und der Verpflichtung zu bedingungslosem Gehorsam“ (33). Der Potsdamer Historiker Ernst Piper fasst den Anspruch der Nazis prägnant so zusammen: „Nicht Ersatzreligion zu sein, sondern etwas, das die Religion als Stiftung von Lebenssinn ersetzt, ein Religionsersatz, der in der Praxis gleichwohl ohne kultische Überhöhung nicht auskam“ (347). „Aber religiöses Brauchtum macht noch keine Religion, es kann im Gegenteil auch die Funktion haben, ihr Verschwinden zu kaschieren“ (346).
Letztlich scheiterten alle Versuche, den NS-Staat völkisch-christlich oder völkisch-heidwolfnisch zu unterbauen und sich dadurch unentbehrlich zu machen, am mangelnden Verständnis für den totalitären, alles vereinnahmenden Charakter der NS-Bewegung. Die es versuchten, endeten als betrogene Betrüger. Das ist für mich das Fazit dieses ungemein instruktiven und gerade in seiner Vielfalt überzeugenden Buches.
Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.