Werner Thiede

Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen

Werner Thiede, Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen, oekom Verlag, München 2015, 238 Seiten, 19,95 Euro.

Werner Thiede hat mit seinem Buch eine „Streitschrift“ vorgelegt. Der provokante Titel „Digitaler Turmbau zu Babel“ lässt aufhorchen. Sind wir wieder einmal auf dem Weg, uns des göttlichen Herrschaftsanspruchs entledigen zu wollen und der Hybris zu frönen, dass wir selber besser wüssten, was uns als Menschen guttut? In Anlehnung an die biblische Überlieferung vom Turmbau zu Babel (1. Mose 11) fragt Thiede: „Haben wir es mit dem Digitalisierungswahn nicht mit einer bösen Überheblichkeit zu tun, die das Paradies auf Erden eigenmächtig zu errichten trachtet?“ (19). Das Buch vermittelt Einblicke in Erscheinungsformen von gesellschaftlich und kulturell wirksamen Umgestaltungen, die viele nicht wahrhaben wollen. Es macht deutlich, welche Konsequenzen eine technische Revolution hat, die von den drei großen Mächten unserer Zeit – Industrie, Wirtschaft und Politik – gleichermaßen ideologisch wie ökonomisch vorangebracht wird.

Dabei geht es durchaus um die Machtfrage, nämlich um die totalitären Ansprüche des Digitalen und – damit verbunden – letztlich um die Ausübung von Weltherrschaft („Die Weltregierung“ titelte Der Spiegel Anfang März 2015). Wes Geistes Kind sind die Softwareentwickler und ihre Finanziers? Unsere Gesellschaft hat im Zeichen der digitalen Revolution einen risikoreichen Weg eingeschlagen. Viele sind begeistert von den fast magisch wirkenden Möglichkeiten, die uns die digitale Technik eröffnet; sie wollen die damit verbundenen Risiken lieber kleinreden als wahrhaben. Kürzlich kam beispielsweise die Computeruhr Apple Watch auf den Markt: „Ein faszinierendes Stück Hardware. Doch für den Datenschutz noch kritischer als die mobilen Geräte, die wir bislang kennen“, so das Urteil von Christian Volkmer. „Durch das Tragen am Handgelenk zeichnet sie die Bio- und Bewegungsdaten ihres Trägers noch genauer auf als Smartphones und keiner weiß, an wen diese Daten übermittelt werden … Doch sollte sich jeder Träger sehr, sehr genau der Datenschutz-Herausforderungen speziell dieses Gerätes bewusst sein“, betont der Regensburger Datenschutzexperte im Straubinger Tagblatt vom 25. April 2015.

Der Pfarrer und Publizist Werner Thiede plädiert für eine ganzheitliche Wahrnehmung der Risiken des vorherrschenden Technizismus. Er hat in seinem Buch, das umfassend recherchiert ist, eine internationale und profilierte Diskussion aufgenommen. Er führt sie weiter und weist auf Segen und Fluch der Technik hin – und zwar in allen Bereichen der Kommunikationstechnologie, ob es sich um die Drohnentechnologie, Datenschutz oder auch um die Risiken der Funkstrahlung handelt, deren negative Auswirkungen auf hypersensible Mitmenschen oftmals immer noch verharmlost werden. Ohne die positiven Aspekte der Digitalisierung zu negieren, belegt Thiede anhand der vielfältigen Literatur, welche besorgniserregenden Auswirkungen die Digitalisierung haben kann, für den Einzelnen, aber auch für die kulturellen Bereiche unseres Lebens.

Der in Erlangen außerplanmäßig lehrende Theologieprofessor verdeutlicht auch die Probleme, die hier für die Kirchen und die Verkündigung der christlichen Botschaft entstehen. Von seinen abschließenden 95 Thesen sei hier die 60. zitiert: „Der IT-Hype schafft eine technokratische Ersatzreligion, die als neue Zivilreligion versucht, Gott vergessen zu machen.“ In diesem Zusammenhang spricht der Autor auch von säkularem Götzendienst. Er weist deutlich auf die durch das Netz gesteuerte Einflussnahme auf Individuum und Gesellschaft hin. Es sei schwer, sich dieser Einflussnahme zu entziehen. Menschen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen werden zitiert: Philosophen, Theologen, Ärzte, Informatiker … Thiede ruft in seiner Streitschrift immer wieder geistig interessierte Menschen zu mehr Wachsamkeit und auch Widerstand auf. Wie kann es gelingen, heute nach ethischen Grundsätzen und christlicher Überzeugung zu leben?

Für einen Laien ist es kaum vorstellbar, dass durch die Technik sogar Unsterblichkeit erreicht werden können soll. Das zeigt ein Zitat des Internetexperten Jaron Lanier, das sich auf Seite 147f findet: „Informatiker sind ... genauso erschrocken wie alle Menschen über die Vergänglichkeit des Lebens, über Verfall und Tod. Das erklärt die Anziehungskraft einer Einrichtung wie der Singularity University. Diese einflussreiche Institution im Silicon Valley propagiert eine Geschichte, die sich etwa so anhört: Eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft wird das Internet sich plötzlich zu einer superintelligenten K(ünstlichen) I(ntelligenz) zusammenballen, unendlich klüger als jeder einzelne Mensch und alle Menschen zusammen. Es wird von einem Moment auf den anderen lebendig werden und die Weltherrschaft übernehmen, bevor wir kleinen unbedeutenden Menschen überhaupt nur wissen, wie uns geschieht … Wir sind sterblich, aber man kann nicht erwarten, dass wir den Tod wirklich begreifen, deshalb bringen wir gerade genug Irrsinn auf, um mit der Absurdität fertig zu werden ... Doch die Technologie ist da anders. Die Technologie funktioniert. Sie kann wirklich die Welt verändern ... die Menschen unsterblich (zu) machen.“

Ich finde, man sollte Werner Thiede dankbar sein für diesen Diskussionsbeitrag. Er macht deutlich, dass es bei der digitalen Revolution nicht nur um technische, sondern auch um kulturelle Veränderungen geht, deren Folgen zum Teil gravierende ethische Fragen aufwerfen. Seine Thesen schließt er mit einem Mahnruf an die Kirchen und fragt, „ob nicht expliziter Widerstand gegen kommende Auswüchse die ethisch gebotene Handlungsweise sein sollte. Distanznahmen, passive Enthaltungen und aktive Proteste legen sich für nachdenkliche Christenmenschen ebenso nahe wie für die kirchlichen Institutionen, nachdem deutlich geworden ist, dass jedes ‚Mitschwimmen‘ ein Mitbauen am digitalen Turmbau zu Babel bedeutet“.

Wer den vollen Gehalt dieser Streitschrift erfassen will, sollte sie mehrmals lesen. Das Buch gibt Anregungen für eigenes Nachdenken und Hinterfragen, etwas, was heute oftmals zu kurz kommt – dafür scheint die Zeit zu fehlen: Aufstehen gegen die Gleichgültigkeit und miteinander ins Gespräch Kommen, nötigenfalls auch Streiten und Ringen um die Wahrheit! Wie gut, wenn das diese Streitschrift mit ihren 95 Thesen bewirken würde. Nutzen wir die Zeit, solange wir noch frei reden dürfen! Ich empfehle dieses ebenso spannende wie provokante Buch, das die gesellschaftliche und kirchliche Diskussion belebt.


Elke von Winning, Regensburg