Diskussion um einen atheistischen Tempel im Londoner Financial District
Nicht jeder Atheist möchte mit dem Gottesglauben auch gleich auf alle anderen Aspekte von Religion verzichten. Der vor allem in Großbritannien erfolgreiche Schweizer Autor popularphilosophischer Lebenhilfe-Literatur Alain de Botton hat Ende Januar 2012 sein neuestes Buch „Religion for Atheists“ auf den Markt gebracht. Darin möchte er zeigen, wie Atheisten religiöse Ideen und Praktiken im säkularen Bereich übernehmen können. Predigt, Moral, Gemeinschaft, Kunst und Architektur, Pilgerreisen und Dankbarkeit gehören zu den Dingen, die er als Atheist lernen möchte, sei es von Christen oder Buddhisten. Geschickt ist de Botton kurz vor Erscheinen seines Buches mit der Idee an die Öffentlichkeit getreten, im Londoner Financial District einen Tempel für Atheisten zu bauen. Dem Autor, der sich für moderne Architektur begeistert, schwebt ein 46 Meter hoher Turm vor, der innen die Entwicklung des Lebens darstellt und außen mit einem binären Code verziert ist. Die Hälfte der veranschlagten 1,2 Millionen Euro für das Projekt habe er bereits durch Spendengelder zusammen. Wenn die Baugenehmigung vorliege, könne 2013 mit dem Bau begonnen werden, so de Botton in einem Interview.
In Großbritannien erntete der Vorschlag de Bottons vor allem Kritik. Auch in Deutschland und der Schweiz haben in den letzten Wochen mehrere Zeitungen die Meldung aufgegriffen. Die Kommentatoren sind in der Regel skeptisch. Die Idee eines säkularen Tempels ist nicht neu und Versuche in dieser Richtung waren meist wenig erfolgreich und von kurzer Dauer. Verwiesen wird einerseits auf den Versuch, im Zuge der Französischen Revolution in Frankreich eine „Religion der Vernunft“ zu installieren mit einem veränderten Wochentagesrhythmus, eigenen Feiertagen und Zeremonien und andererseits auf die Idee einer „Religion des Humanismus“ des französischen Denkers Auguste Comte. Aber es gibt auch bereits bestehende säkulare Bauten, die eine ähnliche Funktion erfüllen, wie sie de Botton mit seinem Turm vorschwebt. In Deutschland sind die „Ruhmes- und Ehrenhalle“ Walhalla an der Donau bei Regensburg und das Wagner-Festspielhaus in Bayreuth zwei solche Anlagen. Die Bezeichnung „atheistischer Tempel“ lässt auch zum Beispiel an das Lenin-Mausoleum in Moskau denken.
De Botton versteht seinen Turm in erster Linie als „architektonische Installation, die in den Menschen schöne, starke Gefühle auslösen soll“. Die Menschen sollen sich „klein, aber nicht gedemütigt“ fühlen, wie Uwe Justus Wenzel in der Neuen Zürcher Zeitung formuliert.
Vor und neben de Botton suchen auch andere Atheisten nach spirituellen Formen ohne Gott. Genannt sei an dieser Stelle André Comte-Sponville, dessen Buch „Woran glaubt ein Atheist? – Spiritualität ohne Gott“ 2009 auf Deutsch erschienen ist. Der deutsche Philosoph Joachim Kahl hat sich schon vor Jahren für eine ausdrücklich säkulare Feierkultur des Weihnachtsfestes ausgesprochen. Auch der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) nimmt sich dieses Themas an. 2010 machte die hauseigene Zeitschrift „diesseits“ die Spiritualität zum Titelthema („Der Humanist und die Spiritualität“). Daneben legt der HVD bei seiner Arbeit einen besonderen Schwerpunkt auf soziale und lebensbegleitende Strukturen, wie sie sonst vor allem bei den Kirchen zu finden sind.
Bemerkenswert ist am Beispiel von de Bottons Turm, dass in der Gegenwart Vertreter des Atheismus immer wieder den Eindruck erwecken, als sei die Evolutionstheorie das Kernthema des Atheismus. Doch weder ist sie eine wissenschaftliche Annahme, die nur Atheisten vertreten, noch kann sie das einzige Thema sein, das sich für Atheisten anbietet.
Claudia Knepper