Ein Besuch beim Lectorium Rosicrucianum in Berlin
(Letzter Bericht: 10/2007, 383ff, vgl. auch 3/2001, 84ff) Die Rosenkreuzer gelten nach wie vor als geheime, mystische Gesellschaft, die ihr Wissen nicht nach außen trägt. Umso spannender erscheint der Besuch eines Tempeldienstes der Rosenkreuzer-Gemeinschaft Lectorium Rosicrucianum, deren Internationale Schule des Goldenen Rosenkreuzes ihren Berliner Sitz in Neukölln hat. Regelmäßig werden in den Zentren öffentliche Tempeldienste angeboten, an denen Gäste teilnehmen können. Der Tempeldienst hat im äußeren Rahmen Ähnlichkeit mit dem christlichen Gottesdienst, unterscheidet sich jedoch deutlich in den Inhalten. Die Schule ist in einem schlichten, mehrstöckigen Gebäude im Neuköllner Ortsteil Rixdorf untergebracht. Neben der verglasten Eingangstür, auf der in goldenen Lettern der Name der Schule eingetragen ist, befindet sich ein Fenster mit Schautafeln.Nach und nach trafen an einem Sonntagvormittag im November 2011 die ersten Personen ein, augenscheinlich „ganz normale Menschen“. Wir Gäste wurden wie alle Ankömmlinge von einem älteren Herrn empfangen, der uns freundlich über den weiteren Ablauf informierte. In einem Wartebereich im ersten Stock fanden sich allmählich immer mehr Menschen ein. Dieser Bereich war in schlichtem Weiß gehalten, unterbrochen durch einige Blumen und ein an der Stirnseite angebrachtes Gemälde von einem Phönixvogel, der sich mit prächtigen Schwingen aus einem Flammenmeer erhebt. Die Bestuhlung ermöglichte es den Besuchern, in kleinen Kreisen zu sitzen. Der Tempeldienst war als öffentliche Veranstaltung für jedermann zugänglich; bei den meisten Anwesenden handelte es sich aber wohl um Mitglieder oder „Schüler“, da sie sich lächelnd zunickten und miteinander vertraut schienen. Die Stimmung im Warteraum war höflich bis freundlich, Einzelne begrüßten sich, ansonsten herrschte Schweigen, das einen Hauch von Feierlichkeit barg, aber auch an die Betretenheit im Wartezimmer eines Arztes erinnerte. Die ca. 50 bis 60 Teilnehmer waren überwiegend in mittleren bis älteren Jahren; eine andernorts stattfindende Jugendkonferenz der Rosenkreuzer könnte den hohen Altersdurchschnitt erklären. Manche Männer waren im Anzug, die meisten hatten Straßenkleidung an, ein paar wechselten ihre Schuhe. Nach einigen Minuten trat ein weiterer älterer Herr in die Mitte des Raums und bat die Anwesenden, in den zweiten Stock zu gehen, wo der Tempeldienst stattfinden sollte.Auffällig war, dass beim Verlassen des Warteraums ein scheinbar stiller Konsens die Menschen nicht nacheinander aus dem Raum gehen ließ, sondern dass sich einzelne Personen bewusst Zeit ließen, vielleicht zur Besinnung. Mehrmals schien es einen Moment lang so, als wollte niemand mehr aufstehen und den Raum verlassen, aber dann ging es doch wieder voran.Im zweiten Stock erwartete uns besinnliche Klaviermusik, gespielt auf einem weißen Flügel, außerdem Platzanweiser, die uns aufforderten, die Stuhlreihen aufzufüllen in der Reihenfolge, in der wir kamen. Auf jedem Stuhl lag ein Liederbuch mit der Aufschrift „Tempellieder“. An der Wand hing ein goldenes Kreuz mit einer Rosenblüte in der Mitte. Weitere Symbole in dem ansonsten wieder weiß und schmucklos gehaltenen Raum waren ein Krug und eine aufgeschlagene Bibel. Nach einer kurzen Einstimmungsphase mit Hintergrundmusik traten eine Frau und ein Mann an ein Pult. Bei der „Predigt“ wechselten sie sich ab. Die liturgischen Teile übernahm, einer Tradition des Lectorium Rosicrucianum folgend, die Frau, die Ansprache, die sich auf eine Stelle aus der Johannesoffenbarung bezog, verlas der Mann. Üblicherweise wird bei der Lesung die Lutherübersetzung verwendet. Beide trugen sehr sachlich und ernst vor, im Stil einer Vorlesung. Die Klaviermusik setzte mehrmals zwischendurch zu einem kurzen Intermezzo ein.Der Vortrag vermittelte ein Bild von der Lehre des Lectorium Rosicrucianum. Die Bemühungen der Vereinigung sind ihrer Erlösungslehre gemäß auf ein „unbewegliches Königreich“ ausgerichtet, einen vollkommenen Geisteszustand, der für den Schüler der Gnosis im Prozess einer vom Lectorium Rosicrucianum vorgegebenen geistigen Entwicklung erreicht werden kann, die sich über Stufen der Schülerschaft vollzieht. Der Mensch wird als gefallenes Wesen betrachtet, ausgesetzt einer dualistischen Wahrnehmung, einem nicht endenden Teufelskreis von Gegensätzen, und blind taumelnd durch den Sturm von flüchtigen Freuden und Begierden. So sieht die Lehre den Menschen von seinem Weg abgekommen. Aus der Sicht des Lectorium Rosicrucianum bleibt ihm nur eine Chance: die Distanzierung vom Weltlichen, die Wiedererweckung und Entwicklung des göttlichen Funkens, der dem Menschen in seiner irdischen Existenz innerlich geblieben ist. Das wird durch die sogenannte Transfiguration erreicht. Dabei geht es im Wesentlichen um eine „Ich-Zerbrechung“ der gegenwärtigen Natur des Menschen und den Bau eines neuen, göttlichen Menschen aus dem göttlichen „Geistfunkenatom“, das, der Lehre der Rosenkreuzer nach, viele Menschen in sich tragen.Der Tempeldienst dauerte etwa eine Dreiviertelstunde und wurde durch ein Lied aus dem Liederbuch beendet. Anschließend begaben sich die Teilnehmer erneut in den Wartesaal, um dort schweigend zu verharren. Nach ein paar Minuten erhob sich eine Frau, bedankte sich für die Teilnahme am Tempeldienst und lud alle Mitglieder zu einer weiteren Veranstaltung ein.In einem anschließenden Gespräch mit vier Vertretern des Berliner Zentrums des Lectorium Rosicrucianum widersprachen diese dem Eindruck der Homogenität der Tempeldienstbesucher. Nicht nur Gebildete, sondern auch Handwerker und sozial Schwache gehörten zu den Rosenkreuzern. Auch spielten Studium und Texte eine weniger große Rolle, als oft angenommen werde. Es käme vor allem auf die Haltung im Alltag an. Hier wurde besonders genannt, dass man nicht über andere Menschen urteilen solle. Eine weltverneinende Haltung wiesen die anwesenden Rosenkreuzer von sich. Angesprochen auf Kontakte zu anderen Gemeinschaften, Religionen und Weltanschauungen wurde die Anthroposophie genannt, mit der es verstärkt Gespräche gebe. Aus der Geschichte des Lectorium Rosicrucianum legen sich solche Beziehungen zur Anthroposophie nahe. Das Gespräch wurde in einer freundlichen Atmosphäre geführt. Kritische Anfragen wurden ebenso freundlich beantwortet, ließen aber kaum selbstkritische Ansätze erkennen. Es ist der Gemeinschaft zu wünschen, dass sie kritischen Stimmen auch in den eigenen Reihen Raum schaffen und Gehör schenken kann.
Tobias Lauer und Claudia Knepper