Ein gebrochener Held tritt ab
Eine Krimi-Reihe aus Schweden als weltanschauliche Momentaufnahme
Seit den Tagen des seligen Sherlock Holmes hat es vielleicht keine Krimi-Gestalt zu so viel Popularität gebracht wie ein mittelalter, mittelschwerer, leicht cholerischer Kommissar aus der schwedischen Provinz: Kurt Wallander, Polizist im südschwedischen Ystad, eine Erfindung des schwedischen Autors Henning Mankell. Von den Romanen, in denen er ermittelt, sind mittlerweile allein im deutschsprachigen Raum 17 Millionen Bücher und Hörbücher verkauft worden; 30 Millionen sollen es weltweit sein.1 Dabei hatte der Rowohlt-Verlag 1993 das erste Manuskript dieser Reihe zurückgewiesen. Ein knappes Jahr nach dem spektakulären Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen wollte man keinen Roman, in dem Asylbewerber als Mordverdächtige auftauchen und sich eine Bürgerwehr gründet. „Mörder ohne Gesicht“ erschien wenig beachtet im kleinen Berliner Verlag edition 9. Erst 1998, mit der Publikation von „Die fünfte Frau“ im Zsolnay-Verlag begann in Deutschland die steile, bis heute anhaltende Erfolgsgeschichte von Henning Mankell und Kurt Wallander.
Jetzt freilich ist die Reihe unwiderruflich zu Ende: Der gerade erschienene zehnte Band „Der Feind im Schatten“ ist der definitiv letzte um den scharfsinnigen Grantler aus der Provinz Schonen. Dabei ist das Ende nicht spektakulär, aber tragisch und nicht revidierbar. Kurt Wallander, mittlerweile über 60 Jahre alt, ist amtlich bereits zu Beginn auf Eis gelegt. Er hat bei einem Restaurant-Besuch seine Pistole liegen gelassen; das ist nicht nur hochgradig peinlich, sondern führt zu seiner Suspendierung, einer Auszeit, die Wallander noch durch Urlaub verlängert.
In dieser Zeit wird er privat in eine Ermittlung hineingezogen. Seine Tochter Linda, nach manchen Irrwegen jetzt selbst Polizistin, ist mit einem erfolgreichen jungen Banker liiert und erwartet ein Kind von ihm. Wallander wird zum 75. Geburtstag von dessen Vater eingeladen und fährt unwillig hin. Der „Schwiegervater“ seiner Tochter, ein ehemaliger U-Boot-Kommandant, wirkt unruhig und ist wenige Tage später verschwunden: Entführung? Mord? Mit militärischem Hintergrund? Wallander ermittelt privat und stößt auf ungeklärte Ereignisse der schwedischen Nachkriegsgeschichte: Mehr als einmal wurden zur Zeit des Kalten Krieges fremde U-Boote in den Hoheitsgewässern des neutralen Schwedens gesichtet. Der plötzlich zur Verwandtschaft zählende U-Boot-Kommandant war nah dran, aber geheimnisvolle Befehle von „ganz oben“ verhinderten die Aufklärung. Haben diese Gespenster der Vergangenheit mit dem Verschwinden des Mannes und der bald darauf entdeckten Ermordung seiner Ehefrau zu tun? Wallander lässt sich auf die – amtlich von anderen betriebene – Ermittlung ein und findet dank Glück und Intuition schließlich die Lösung.
Zugleich begegnet er in dieser verdichteten Zeit überraschend sehr realen Gespenstern aus seiner Vergangenheit: seiner mittlerweile dem Alkohol verfallenen früheren Ehefrau Mona oder auch der kurzzeitig heftig geliebten Baiba, einer Polizistenwitwe aus dem lettischen Riga. Außerdem lernt er im bald geborenen ersten Enkelkind Klara ein Stück Zukunft kennen, dem er sich mit Staunen nähert. Alles könnte trotz Rückschlägen gut werden, wenn nicht rätselhafte kurzzeitige Gedächtnisverluste ihn immer wieder aus der Bahn schleudern würden. Als er gegen Schluss plötzlich die erwartete und geliebte kleine Klara nicht mehr erkennt, wird schmerzhaft deutlich: Der geniale Ermittler sieht dem Dämmerzustand von Alzheimer entgegen – tragisch und zugleich denkbar unheldisch. Hätte man sich z. B. den alterslosen James Bond als zukünftigen Demenz-Patienten vorstellen können?
Antiheld und Kämpfer für Gerechtigkeit: Kurt Wallander
So sehr das Ende schmerzt, es passt zu Kurt Wallander, dem tapferen und gescheiten, aber auch übergewichtigen und misanthropischen Anti-Helden. In allen Romanen verkörpert er beides: den Mann von nebenan, mit privaten Sehnsüchten und Problemen, mit Licht und (mehr) Schatten in seinen privaten Beziehungen, und zugleich den zähen Kämpfer für die Gerechtigkeit, manchmal nah der Resignation, aber nie zynisch, dabei leidenschaftlich und schonungslos gegen sich und andere, wenn es gilt, ein Verbrechen aufzuklären. „Er war der, der er war ... Ein Mann, der tüchtig war, sogar scharfsinnig in seinem Beruf. Er hatte sein ganzes Leben lang versucht, zu den guten Kräften in der Welt zu gehören, und wenn ihm das nicht gelungen war, dann war er damit nicht allein. Was konnte ein Mensch anderes tun, als es versuchen?“2
Wallander sieht sich bei seinem Kampf um Recht und Gerechtigkeit auf einem schwierigen Posten. Mit wachsendem Unbehagen erlebt er den Einbruch einer kalten und rohen Form der Globalisierung in sein beschauliches Südschweden. Exzessive Gewalt schwappt von außen in seine Idylle, ob durch die Russenmafia oder terroristische Kämpfer aus fernen Ländern. Und auch sein Schweden, das einstige sozialdemokratische „Volksheim“, ächzt unter innergesellschaftlichen Spannungen früher nicht gekannter Art: „Das Land, in dem er aufgewachsen war, sein Schweden, das Land, das nach dem Krieg aufgebaut worden war, hatte nicht so fest auf Urgestein gestanden, wie sie geglaubt hatten. Unter dem Ganzen hatte sich ein verdeckter Morast befunden. Die Gesellschaft war härter geworden. Menschen, die sich in ihrem eigenen Land überflüssig oder gar unwillkommen fühlten, reagierten mit Aggressivität oder Verachtung. Wallander wusste, dass es keine sinnlose Gewalt gab. Jede Gewalt hatte für den, der sie ausübte, einen Sinn. Erst wenn man es wagte, diese Wahrheit zu akzeptieren, durfte man hoffen, die Entwicklung in eine andere Richtung zu lenken.“3
Vorbei sind die Hoffnungen auf eine gesellschaftliche Utopie, wie sie die Begründer des gesellschaftskritischen schwedischen Kriminalromans, Maj Sjöwall und Per Wahlöö, noch im Kommunismus gesehen hatten. Es geht fast nur noch darum, dem amoralischen Zerfall der Gesellschaft Grenzen zu setzen: ein sehr defensives Gesellschaftsideal. In der Tradition des sozialkritischen Romans bleibt es insofern, als nicht die Individuen, sondern die Gesellschaft den Wurzelgrund des Bösen bildet – auch wenn, entsprechend den Gesetzen des Genres Kriminalroman, individuelle Täter ermittelt und bestraft werden. Aber gerade Kommissar Wallander betont im Gespräch mit der Frau eines Kollegen: „Es gibt kaum böse Menschen. Jedenfalls glaube ich, dass sie sehr selten sind. Dagegen gibt es böse Umstände. Die diese ganze Gewalt auslösen. Und genau diese Umstände müssen wir uns vornehmen. – Wird es nicht schlimmer und schlimmer? – Vielleicht, erwiderte Wallander zögernd. Aber wenn es so ist, dann liegt das daran, dass die Umstände sich verändern. Nicht daran, dass böse Menschen heranwachsen.“4
Gerade Mankells Wallander reflektiert ausführlich nicht nur über Technik und Taktik der Ermittlung, sondern über Moral, Gerechtigkeit und ein menschliches Zusammenleben. Ja, er klagt die Moral regelrecht ein. Und warum tut Wallander sich das an? „Ich weiß es nicht. Vielleicht eine Art Verantwortungsgefühl. Ich hatte einen Mentor, einen erfahrenen Ermittler ... Er hat das immer gesagt. Es sei eine Frage der Verantwortung. Nichts anderes.“5
Wallanders Religion: Recht und Gerechtigkeit
Metaphysische Spekulation oder religiöse Begründungen liegen Wallander fern, wie überhaupt der Mehrzahl schwedischer Ermittler. Sie sind weit entfernt von der künstlichen Allwissenheit eines Father Brown bei Chesterton oder von der unbefangenen religiösen Grundierung eines Lord Peter Wimsey in den Romanen von Dorothy Sayers. Und doch hat die Unbedingtheit ihres Kampfes für das Recht, ihre allerdings gesellschaftlich, nicht religiös konnotierte „Hoffnung wider alle Hoffnung“, unterschwellig religiöse Züge. So sieht es jedenfalls der Journalist und Krimi-Fachmann der „Zeit“, Tobias Gohlis, wenn er vom nordischen im Gegensatz zum angelsächsischen Krimi schreibt: „Hier sind es die gehobenen Beamten vom Schlage eines Wallander, Beck oder Hjelm, meist geschiedene Eigenbrötler mit Neigung zu Dickleibigkeit und Spintisierereien, die als schwache, zähe Stellvertreter Gottes fungieren. Bieder und biedermännisch bilden sie das moralische Widerlager zu McDonalds, KGB, CIA und Microsoft. Psoriasis und Diabetes sind die Stigmata dieser Auserwählten, Einsamkeit und Erschöpfung ihre Ordensregeln ... Ihr stures Festhalten an den Regeln des Anstands, die der Job vorschreibt (Wallander spricht einmal vom ‚Unteroffizier in sich’) lässt sie als die einzig authentischen Reformisten erscheinen: Tue nur deine Pflicht, und alles wird gut werden. Sie wissen immerhin, worin ihre Pflicht besteht. Der nordische Krimi ist die Apotheose des Polizeibeamten.“6
Mankells Krimis als verkappte Religion
Die Popularität der Wallander-Romane erklärt sich vielleicht gerade aus dem, was ihre gesellschaftliche Folie bildet: dem Zusammenbruch einer bisher tragenden Ordnung. „Kriminalromane sind populär in Zeiten des sinkenden Glaubens, der sinkenden Ordnung, des drohenden Chaos, einer unsicheren, neu entstehenden Ordnung“7 – und zwar nicht, weil sie das Chaos spiegeln, sondern weil sie ihm einen Mythos entgegensetzen: dass es doch noch einen Rest von Ordnung gibt, dass die Rätsel des Lebens (wie die des Kriminalfalls) gelöst werden, dass Ursachen Folgen und Folgen Ursachen haben, dass der Böse bestraft und der Gute belohnt wird. So hat es der Literaturkritiker Willy Haas schon in einer anderen Zeit des Umbruchs, nämlich der Weimarer Republik, 1929 in der Zeitschrift „Literarische Welt“ notiert. Seine Beobachtungen passen aber verblüffend auf die schwedische Gesellschaft des anbrechenden dritten Jahrtausends.
Das gilt auch in religiöser Hinsicht. Denn die religiöse Ordnung der früheren Staatskirche zerbröselt. Waren 1975 noch 95 Prozent der Schweden Lutheraner, so sind es derzeit 71 Prozent, und von diesen besuchen nur 1,18 Prozent regelmäßig den lutherischen Gottesdienst. „Als ihre wichtigsten Werte bezeichnen Schweden bei Umfragen Freiheit, Aufrichtigkeit, Toleranz, Vertrauen und Respekt ... Bei vielen der herrschenden gesellschaftlichen Moral- und Wertvorstellungen kann man zwar die christlichen Wurzeln durchaus noch erkennen, doch werden sie nicht mehr mit der Religion verknüpft.“8 Ähnlich denkt und handelt auch der nicht als gläubig auffallende Moralist Kurt Wallander, hier sicher ein Spiegelbild seines Schöpfers Henning Mankell. Wallander will mehr als die Täter dingfest machen. Er will sie verstehen – gerade dann, wenn sie in tragischer Verschränkung Täter und Opfer zugleich sind. Es kann dann sogar zu so etwas wie angedeuteter Versöhnung kommen – nicht als Ersatz für die Gerechtigkeit, aber als deren Überhöhung.
In dem Roman „Die fünfte Frau“ kann Wallander der Täterin am Schluss bei den Verhören ein gewisses Verständnis entgegenbringen – weil diese nicht mehr leugnet oder verbirgt, sondern im Rahmen des Geständnisses ihre Motive verständlich werden – was die Taten im Übrigen nicht rechtfertigt. Als die Täterin nach Abschluss des Geständnisses Selbstmord mit Tabletten begeht, unterstellen die Kollegen sogar, womöglich habe Wallander diese besorgt – vor lauter Verständnis. Das ist jedoch falsch; Verstehen heißt nicht Verzeihen, die Gerechtigkeit muss ihren Gang gehen. Aber damit kann auch ein Ende gesetzt werden – ein Ende der Konfrontation.
Der gleiche Roman beginnt damit, dass Wallander zur Beerdigung eines früher gefassten Täters geht, der in der Psychiatrie Selbstmord begangen hat. Aber die angedeutete Versöhnung des Kommissars mit dem Täter, der auch ihn selbst bedroht hatte, setzt den vorherigen Prozess voraus: Entdecken der Wahrheit, Akzeptieren der Wahrheit, Akzeptieren der Verantwortung, wofür im Prozess Urteil und Strafe stehen. Erst nachher, nicht vorher, kann es vielleicht so etwas wie Versöhnung geben.
Die Offenheit für solche Fragen wie Schuld, Verantwortung, Gerechtigkeit – sie machen neben der genretypischen Spannung den Reiz der Wallander-Krimis aus. Sie werfen Lebensfragen auf, die auch in der Kirche ihren Platz hätten. Aber dass sie im fremden Gewand des Krimis eher ernst genommen werden als im klassischen der Predigt, passt zu einer so säkularisierten Gesellschaft wie unserer und der des Nordens. Wie hat doch Willy Haas schon vor 70 Jahren festgestellt: „Das Theologische in unserer Welt äußert sich nicht offen, kann sich nicht offen äußern ... In einem gewissen Sinn ist also der Kriminalroman ein Ersatz für den fehlenden religiösen Glauben: er gibt die Zuversicht zum göttlichen Logos, zur göttlichen Gerechtigkeit.“9
Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.
Anmerkungen
1 Siehe www.schwedenkrimi.de/specials .
2 Henning Mankell, Der Feind im Schatten, Wien 2010, 383.
3 Henning Mankell, Die fünfte Frau, Wien 1998, 223.4 Ebd., 411.
5 Henning Mankell, Der Feind im Schatten, a.a.O., 253.
6 Tobias Gohlis, Nord ist Mord, in: Jost Hindermann (Hg.), Fjorde, Elche, Mörder. Der skandinavische Kriminalroman, Wuppertal 2010, 18f.
7 Willy Haas, Die Theologie im Kriminalroman, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman, München 1971, 122.
8 Reinhart Wolff, Lutheraner in Schweden, in: Zeitzeichen 7/2010, 32.
9 Willy Haas, Die Theologie im Kriminalroman, a.a.O., 122.