Edgar S. Hasse

„Ein gesegnetes Fest!“

Zivilreligiöse Dimensionen in den Weihnachtsansprachen der Bundespräsidenten

Die praktisch-theologische Wahrnehmung von Zivilreligion fokussiert sich gegenwärtig auf die Frage nach Gestalt und Funktion von Religion in gesellschaftsöffentlichen Liturgien wie den Trauerfeiern für in Afghanistan gefallene Bundeswehrsoldaten und für die Opfer von Amokläufen.1 Während diese massenmedial kommunizierten Vollzüge den Charakter von Unikaten haben und insofern ein liturgisches Wagnis darstellen, gehört die Repräsentation von Zivilreligion in den Weihnachtsansprachen der Bundespräsidenten2 seit den 1960er Jahren zum festen jahreszyk-lischen Ritualbestand der Mediengesellschaft und damit zur traditionalen Kultur eines zentralen und omnipräsenten Festes. Im Unterschied zu den öffentlichen Liturgien, an denen staatliche und kirchliche Akteure gleichermaßen beteiligt sind, ist bei den Ansprachen zum Christfest der Bundespräsident mit seinem Mitarbeiterstab das vom kirchlich-institutionellen Kontext unabhängige Subjekt möglicher religiöser Deutungspraxis. Dass zivilreligiöse Dimensionen in den über das Fernsehen verbreiteten Reden auftreten können, ist Konsens in der religionssoziologischen Forschung.3 Bleiben die bisherigen Studien empirisch auf eine einzelne Ansprache (Luckmann) bzw. theoretisch auf die Beschreibung des Phänomens (Vögele, Lübbe, Hoffmann) bezogen, will der vorliegende Bericht auf der Basis einer Kriteriologie insgesamt elf per Zufallsauswahl generierte Weihnachtsansprachen qualitativ und quantitativ auf ihre zivilreligiöse Substanz untersuchen und damit zur Exploration gegenwärtiger religiöser Weihnachts-Empirie beitragen. Weil die Reden als ein normativ auf Verständigung zielender Kommunikationsprozess und als mediales Ereignis verstanden werden können, soll neben der religionssoziologischen auch die publizistik- und kommunikationswissenschaftliche Perspektive gewählt werden. Gegenstand der Untersuchung waren Weihnachtsansprachen von Christian Wulff (2010), Horst Köhler (2009, 2006, 2005), Johannes Rau (2003, 2002, 2001, 1999), Roman Herzog (1998, 1995) und Richard von Weizsäcker (1984).

Zur Kriteriologie

Seit dem Aufsatz des Soziologen Robert N. Bellah „Civil Religion in America“ (1967) sind Begriff und Phänomen „Civil Religion“ auch in Deutschland auf der religionssoziologischen Themenagenda. Im deutschsprachigen Kontext modifiziert als „Zivilreligion“, hat sich nach Vögele4 Niklas Luhmanns ethisierende Definition „Grundwerte als Zivilregion“ nicht durchsetzen, sondern Hermann Lübbes Beschreibung von Zivilreligion als „Sammelbegriff für Phänomene öffentlicher politischer Präsenz von Elementen religiöser Kultur“5, die kirchlicher Zuständigkeit nicht obliegen, etablieren können. Zu den Signaturen von Zivilreligion in Deutschland werden nach Lübbe u. a. der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes, die Erwähnung des Gottesnamens in den Weihnachtsansprachen der Bundespräsidenten, der bundespräsidiale Gottessegenswunsch, auf Bibeln abgelegte Eide und das Kruzifix in bayerischen Schulen genannt. Vertreter der Zivilreligions-These gehen also davon aus, dass die moderne Gesellschaft auf „religiösen Kitt“6 angewiesen ist.

Weil es bislang nur wenige Studien über die systematische Entwicklung von Skalen der Religion und damit zur Operationalisierung religiöser Aussagen in mündlicher, schriftlicher und bildlicher Form gibt7, wurden zur vorliegenden Untersuchung zivilreligiöser Inhalte in den genannten Weihnachtsansprachen mit religionskulturhermeneutischer Intention und im Rekurs auf Lübbe folgende spezifizierte Identifikationsmerkmale festgelegt: Aussagen mit theologischen (Name Gottes, Segenswunsch) und christologischen Konnotationen (Menschwerdung Gottes, Geburt Christi) sowie im weitesten Sinne symbolischen (Krippe, Stern von Bethlehem) und biblischen Verweisen. Wenn eines und mehrere dieser Merkmale in den Redetexten identifiziert werden konnten, galt die Annahme zivilreligiöser Inhalte als verifiziert.

Weihnachtsansprache als TV-Ereignis

Die vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesendeten Reden der Bundespräsidenten sind alle Jahre wieder Bestandteil der öffentlichen Inszenierung des Christfestes in der Gesellschaft. Die Weihnachtsansprache von Christian Wulff im vergangenen Jahr verfolgten allein in der ARD am 25. Dezember 6,49 Millionen Zuschauer. Mit ihrem Vollzug werden diese TV-Reden selbst zum Ereignis, über das andere Fernsehsender, Hörfunk und Printmedien wegen ihrer Aktualität und Bedeutsamkeit als wichtige Kriterien der Nachrichtenselektion ausführlich berichten.8 Saßen die Bundespräsidenten bei der Aufzeichnung ihrer Reden bisher an ihrem Schreibtisch, so entwickelte sich die Ansprache von Christian Wulff, seit 2010 im Amt, im vergangenen Jahr zu einem performativen Akt. Erstmals waren rund 200 ehrenamtlich aktive Bürger, darunter Polizisten, Pfadfinder und Helfer des Malteser Hilfsdienstes, zu der Aufzeichnung im Berliner Schloss Bellevue eingeladen. Dabei wandte sich der Bundespräsident stehend und nicht sitzend und insofern mit mehr Gestik ans Volk und die geladenen Bürger, sodass die TV-typische „sekundäre Oralität“ als eine Mündlichkeit, die auf Schrift beruht9 und damit auf einem zuvor wohl bedachten Redemanuskript, zum performativen Akt wurde, der in der Berichterstattung der Medien über dieses Ereignis die neue Form relevanter erscheinen ließ als die Inhalte.

Formaler Aufbau

Nach der noch näher zu beschreibenden Grußformel „Gesegnete Weihnachten“, die häufig zusätzlich auch im Namen der Gattin des jeweiligen Bundespräsidenten ausgesprochen wird, beginnt im ersten Teil die Retrospektive auf das zu Ende gehende Jahr; es folgt der Ausblick auf das kommende Jahr und schließlich das ethisch-appellative Finale. Der Skopus der Reden liegt stets in der ausführlichen Entfaltung einer „staatsbürgerliche(n) Toleranz- und Beistandsmoral“10, die von Luckmann in Luhmanns Sinne als zivilreligiöses Phänomen interpretiert wird. Im Unterschied aber zu Luckmann, der die Form der Weihnachtsansprachen mit dem Aufbau einer kirchlichen Moralpredigt (Anprangern von Missständen, Unheilsprophetie, moralischer Appell) vergleicht11, waren diese Elemente als rhetorische Grundarchitektur in den elf analysierten Texten nicht zu entdecken. Während die Unheilspropheten im achten vorchristlichen Jahrhundert klare Schuldzuweisungen für die ökonomischen und sozialen Verhältnisse vornahmen12 und ein Szenario göttlichen Gerichts entwarfen, sind die Christfest-Reden der Bundespräsidenten in Retrospektive und Prospektive von einer positiven Grundhaltung geprägt, die eher von Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Zivilgesellschaft zeugt als von fundamentaler Gesellschaftskritik, Horrorszenarien und Unheilsprophetie. Beispiel dafür ist etwa die Ansprache von Horst Köhler im Jahr 2005 mit der zentralen Aussage: „Gemeinsam sind wir stark.“ Selbst in der Ansprache Johannes Raus von 2001 – dem Jahr der Terroranschläge in Amerika und der wachsenden Diskussion über postulierte Zusammenhänge zwischen Religion und Gewalt13 – wird auf die politische Funktionalisierung von angstbesetzten Zukunftsszenarien zugunsten einer Pointierung politischer Entscheidungskompetenz im Blick auf militärische Aktionen verzichtet. Aufgrund dieses empirischen Befundes sollte Luckmanns formale Qualifizierung von Weihnachtsansprachen im Sinne alttestamentlicher Unheilsprophetien revidiert werden.

Bundespräsident dixit: Ein gesegnetes Fest!

In allen elf analysierten Ansprachen konnten den Kriterien entsprechende zivilreligiöse Aussagen diagnostiziert werden. Auf der Basis dieses eindeutigen Befunds kann festgestellt werden, dass die Zivilreligion nach wie vor zur Signatur bundespräsidialer Repräsentation in der weihnachtlich gestimmten Öffentlichkeit gehört. In neun von elf Weihnachtsansprachen wurde die theologisch konnotierte Segensgrußform „Ein gesegnetes Weihnachtsfest“ exploriert, die entweder am Anfang und/oder am Ende steht. Mit dieser präludierenden bzw. finalen Sakralisierung erhalten die Reden ein signifikantes zivilreligiöses Framing. Die Segensgrußformel fehlt allerdings bei Wulff 2010 und Rau 1999. Anders als der von Wulff 2010 verwendete nicht-sakrale Gruß „Fröhliche Weihnachten, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!“, der sich in seiner Genese eigentlich und ursprünglich aus der biblischen Verkündigung des Engels an die Hirten herleitet14, stellt die Verwendung der Segensgrußformel funktional die Anschlusskommunikation zum tradierten christlich-religiösen Weihnachtsfest her. Indem ein Bundespräsident diese Segensgrußformel wählt, trägt er zur gesellschaftsöffentlichen Manifestation von Zivilreligion und insofern zur Repräsentanz von Elementen religiöser Kultur bei. Dass Wulff dieser Tradition im vergangenen Jahr nicht folgte, ist ein erster Indikator für die Vermutung eines auch die Zivilreligion betreffenden Umformungsprozesses, der im Kontext von Modernisierungs- und Säkularisierungsprozessen zu betrachten ist.

Plausibilitätsverlust von Zivilreligion

Zwar verzichtete auch Johannes Rau 1999 auf die weihnachtliche Segensgrußformel, aber die Durchsicht seiner Rede ergab im Textverlauf explizite zivilreligiöse (christologisch konnotierte) Aussagen wie „Wichtig ist, woran Weihnachten erinnert: an Christi Geburt, an das Geschehen im Stall von Bethlehem.“ Auch in weiteren Weihnachtsansprachen lassen sich biblische (Köhler 2006: „Die Weihnachtsgeschichte, wie sie in der Bibel überliefert ist, beschreibt alles andere als eine heile Welt“, Herzog 1995: „... erinnern uns an die biblische Geschichte von einem heiligen Paar“), christologische (Weizsäcker 1984: „Gott wendet sich in Christus den Menschen zu“) und theologische Verweise (Rau 2002: Weihnachten kündet von der „Nähe Gottes zu jedem einzelnen Menschen“) feststellen. Diese zivilreligiösen Kriterien haben allerdings bei weitem nicht jenes Gewicht, das der kollektiven Beistands- und Toleranzmoral beigemessen wird.

Wulffs Rede vom vergangenen Jahr indes verzichtet in toto auf theologische, christologische und biblische Bezüge und bietet lediglich singulär einen Beleg für einen zivilreligiösen Kommunikationsversuch: „Was vor 2000 Jahren auf den Feldern von Bethlehem als Gruß der Engel an die Hirten erklang, das ersehnen wir uns auch heute noch: Friede auf Erden.“ Unter Verzicht auf die Verwendung des Gottesnamens und den Hinweis auf den kirchlich tradierten Grund und Anlass des Christfestes erscheinen lediglich die Engel als letzte Repräsentanten von Transzendenz. Meine These ist, dass die massenmediale Kommunikation von Zivilreligion hier ihre Plausibilität bei den Rezipienten verlieren kann, weil die kognitive religiöse Dimension zugunsten einer Säkularisierungsanpassung ausgeklammert wird – indem unspezifisch von „Feldern“, „Bethlehem“ und den „Hirten“ die Rede ist, ohne sie in einen biblischen, theologischen und christologischen Erklärungsrahmen zu stellen. Wer den christlich tradierten Kontext nicht kennt, versteht darunter möglicherweise nicht das, was eigentlich intendiert ist. Weil nach einer Forsa-Umfrage vom Dezember 2006 im Auftrag der Illustrierten „Stern“ jeder zehnte Bundesbürger – in Ostdeutschland sind es 20 Prozent der Befragten – nicht weiß, warum Weihnachten gefeiert wird, können solche Umformungen durch die Redenschreiber des Bundespräsidenten von den Rezipienten als reine Säkularisate, allenfalls als „säkulare Religiosität“15 und damit als religiös indifferent wahrgenommen werden. Verständigung im Kommunikationsprozess kann aber nur erzielt werden, wenn Kommunikator und Rezipient über einen gemeinsamen, übereinstimmenden Zeichenvorrat verfügen; Verständigung liegt also nur dann vor, wenn der Rezipient eine ihm mitgeteilte Aussage so versteht, wie sie vom Kommunikator auch gemeint ist.16 Droht der kollektive christliche Code sich trotz eines neuen Interesses an Religion in einer säkularisierten Gesellschaft aufzulösen und das Wissen über den Ursprung des Weihnachtsfestes verloren zu gehen, gewinnt die kognitive, auf grundsätzliche Wissensvermittlung zielende religiöse Dimension17 an Bedeutung, wenn bundespräsidiale Weihnachtsansprachen den Anspruch haben, Zivilreligion plausibel und verstehbar zu machen. Die Redenschreiber im Bundespräsidialamt stehen daher vor der Aufgabe, das christliche Framing auf der religiösen Wissensebene wenigstens mit minimalen biblischen, christologischen und theologischen Konnotationen ins Sprachspiel zu bringen, wenn Zivilreligion in der Mediengesellschaft weiterhin zur verstehbaren Signatur der weihnachtlich gestimmten Gesellschaft gehören soll.


Edgar S. Hasse, Hamburg


Anmerkungen

1 Vgl. Kristian Fechtner / Thomas Klie (Hg.), Riskante Liturgien. Gottesdienste in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, Stuttgart 2011.

www.bundespräsident.de.

3 Vgl. Klaus Hoffmann, Civil Religion in der BRD am Beispiel des Weihnachtsfestes, epd-Dokumentation 1/1985, 39-62; Hermann Lübbe, Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtstheorien, Direkte Demokratie und Moral, München 2004, 83; Wolfgang Vögele, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, Gütersloh 1994, 250-251; Thomas Luckmann, Unheilsschilderung, Unheilsprophezeiung und Ruf zur Umkehr. Zum historischen Wandel moralischer Kommunikation am Beispiel der Weihnachtsansprachen eines Bundespräsidenten, in: Anne Honer / Ronald Kurt / Jo Reichertz (Hg.), Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz 1999, 39-57.

4 Vgl. Wolfgang Vögele, Zivilreligion, a.a.O., 210-221.

5 Hermann Lübbe, Modernisierungsgewinner, a.a.O., 83.

6 Eberhard Jüngel, Religion, Zivilreligion und christlicher Glaube. Das Christentum in einer pluralistischen Gesellschaft, in: Burkhard Kämper / Hans-Werner Thönnes (Hg.), Religionen in Deutschland und das Staatskirchenrecht, Münster 2005, 55.

7 Vgl. Robert Kecskes / Christof Wolf, Christliche Religiosität. Konzepte, Indikatoren, Messinstrumente, in: KZfSS 45 (1993), 270-287.

8 Vgl. Edgar S. Hasse, Weihnachten in der Presse. Komparative Analysen der journalistischen Wahrnehmung des Christfestes anhand der „Weihnachtsausgaben“ ausgewählter Tageszeitungen und Zeitschriften (1955-2005), Erlangen 2010.

9 Vgl. Günter Thomas / Roland Rosenstock, Fernsehen. Medienreligion / Alltagsrituale / Religiöse Bricolage / Kirche in der Medienwelt, in: Wilhelm Gräb / Brigit Weyel (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 263-274.

10 Thomas Luckmann, Unheilsschilderung, Unheilsprophezeiung und Ruf zur Umkehr, a.a.O., 55, der eine Weihnachtsansprache Richard von Weizsäckers untersucht hat.

11 Vgl. ebd., 49f.

12 Vgl. Christof Hardmeier, Erzähldiskurs und Redepragmatik im Alten Testament, Tübingen 2005, 260.

13 Vgl. Edgar S. Hasse, „Alle Jahre wieder“ – eine neue Aufmerksamkeit für Religion in Zeitungen und Zeitschriften?, in: Sabine Plonz / Walter Klaiber (Hg.), Wie viel Glaube darf es sein? Religion und Mission in unserer Gesellschaft, Stuttgart 2008, 57-73.

14 Vgl. Guido Fuchs, Heiligabend. Riten, Räume. Requisiten, Regensburg 2002, 75.

15 Reinhard Hempelmann, Religion und Religiosität in der modernen Gesellschaft. Evangelische Beiträge, EZW-Texte 179, Berlin 2004, 6.

16 Vgl. z.B. Roland Burkart, Kommunikationswissenschaftliche Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, Wien 31993.

17 Vgl. Charles Y. Glock, Über die Dimensionen der Religiosität, in: Joachim Mattes, Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie II, Reinbek 1968, 150-168.