Ein "imperatives Glaubensgebot": Diskussion über Bluttransfusionen bei Zeugen Jehovas im "Deutschen Ärzteblatt"
(Letzter Bericht: 6/2002, 190f) Das Verbot von Bluttransfusionen für Angehörige der Zeugen Jehovas ist Gegenstand einer Diskussion im "Deutschen Ärzteblatt". In ihrer Ausgabe 3/2002 hatte diese Zeitschrift einen fundierten, vierseitigen Artikel über diese Problematik veröffentlicht. Dargestellt wurden die theologische Begründung der Ablehnung und mögliche soziale Folgen einer Annahme von Bluttransfusionen durch Zeugen Jehovas, rechtliche Fragen der Respektierung von Patientenverfügungen und der Umgang mit dem Sorgerecht bei Minderjährigen. Die Autoren weisen wiederholt darauf hin, dass die Entscheidung mündiger Patienten gegen eine Transfusion zu respektieren ist. "Es kann nicht ärztliche Aufgabe sein, Menschen besonderer Glaubensrichtungen von ihrer religiösen Überzeugung abzubringen, auch wenn sich aus dem Glauben aus säkular-naturwissenschaftlicher Sicht absurde oder sogar lebensbedrohliche Konsequenzen ergeben" (Deutsches Ärzteblatt, Jg. 99, Heft 3/2002, A 104). Darüber hinaus verweisen sie aber auch auf die innere Problematik der Blut-Doktrin, die durch die neuen medizintechnischen Möglichkeiten den einzelnen Zeugen Jehovas vor kaum noch begründbare ethische Entscheidungen stellt. So ist nach der Unterscheidung von primären und sekundären Blutbestandteilen die Transfusion von Vollblut zwar nach wie vor verboten, die Annahme von bestimmten Fraktionen aus Hauptbestandteilen des Blutes inzwischen aber erlaubt (vgl. "Der Wachtturm" vom 15. Juni 2000, 29-31).
Über diese Fragen hat sich offenbar innerhalb der Organisation ein Meinungspluralismus herausgebildet, mit dem die Leitung nur schwer umgehen kann. Eine Reihe von Zeugen Jehovas, die offenbar selbst Zeugen Jehovas bleiben möchten und von daher die übrigen Glaubensgrundsätze keineswegs in Frage stellen, setzen sich mit biblischen Argumenten für eine größere Offenheit in der Blutfrage ein. Diese "Association of Jehova's Witnesses for Reform on Blood" (AJWRB), in Deutschland: Vereinigung der Zeugen Jehovas für eine Reform in der Blutfrage, betreibt eine eigene Internetseite, auf der sie ausführlich über ihre Anliegen und entsprechende bereits erfolgte Lockerungen in der Lehre der Leitenden Körperschaft berichten (http://www.geocities.com//Athens/Ithaca/6236/). Der Artikel im Ärzteblatt weist auf diese Informationsquellen hin und empfiehlt, jedem erwachsenen transfusionsbedürftigen Zeugen Jehovas Zugang zu den Stellungnahmen der AJWRB zu ermöglichen. Die ärztlichen Mitarbeiter sollten sich ebenfalls mit der Materie befassen, um kompetent auskunftsfähig zu sein. Das Ziel ist, den Patienten zu ihrer eigenständigen Gewissensentscheidung möglichst alle relevanten Fakten an die Hand zu geben. Die Autoren schreiben: "Das Bewusstsein, mit einer 'abweichenden' Entscheidung nicht allein innerhalb der Glaubensgemeinschaft zu stehen, und das Wissen, dass es auch innerhalb des religiösen Bezugssystems gute Gründe gegen die 'offizielle' Blutpolitik gibt, können dem Einzelnen die Zustimmung zu einer lebenserhaltenden Transfusion entscheidend erleichtern und in der existenziellen Gewissensnot, in der sich gerade Eltern transfusionsbedürftiger Kinder befinden, helfen." Es geht also nicht darum, Menschen ihren Glauben zu nehmen, sondern lediglich Zugang zu Informationen über einen innerhalb des Glaubenssystems möglichen Auslegungsrahmen zu vermitteln, der von der Leitung aber offenbar nicht gefördert wird. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn man die offizielle Stellungnahme von Werner Rudtke vom Präsidium der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland in Selters liest, die als Diskussionsbeitrag im Ärzteblatt 15/2002 veröffentlicht wurde.
Rudtke beschreibt zunächst die medizinischen Vorteile der Einschränkung von Bluttransfusionen, verteidigt die Arbeit der Krankenhaus-Verbindungskomitees und beklagt dann, dass immer noch Zeugen Jehovas wegen ihrer Ablehnung von Fremdblut diskriminiert würden. Dies geschehe z. B. "über eine anonyme Website und von Dr. Osamu Muramoto, der selbst kein Zeuge Jehovas ist und seine Informationen hauptsächlich von Apostaten bezieht". Es folgt in der Anmerkung ein Hinweis auf den oben referierten Artikel des Ärzteblattes. Weiter heißt es: "Es ist sachlich nicht gerechtfertigt, Patienten, die Zeugen Jehovas sind, im Rahmen des Aufklärungsgesprächs auf diese Quellen hinzuweisen. Denn gemäß den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin besteht der Zweck der Aufklärung darin, über Diagnose und Verlauf der Erkrankung sowie Alternativen und Risiken der Behandlung zu informieren. Zudem basiert bei Jehovas Zeugen die Ablehnung von Bluttransfusionen auf einem 'imperativen Glaubensgebot', das der Einzelne aufgrund seines Bibelstudiums vor Beginn der Mitgliedschaft als für sich bindend akzeptiert hat. Eine dieses Glaubensgebot ablehnende Reformbewegung innerhalb der Religionsgemeinschaft existiert nicht. Wenn ein Zeuge zentralen Glaubensinhalten den Rücken kehrt, kann dies zur Trennung von der Religionsgemeinschaft führen" (Deutsches Ärzteblatt, Jg. 99, Heft 15, 3/2002, C 775).
In dieser Antwort sind verschiedene Punkte beachtenswert:
1. Was soll der Vorwurf an einen Kritiker, selbst kein Zeuge Jehovas zu sein und Informationen von "Apostaten" zu beziehen, letztlich besagen? Soll dies heißen, dass etwa nur Kritik von innen statthaft wäre? Soll dies heißen, dass Informationen von ehemaligen Mitgliedern prinzipiell alle nur falsch sein können? In der Tat scheint hier ein intern übliches Argumentationsmuster zur Immunisierung vor äußerer Kritik sichtbar zu sein.
2. Warum sollen Patienten nicht auf diese Quellen hingewiesen werden dürfen? Soll eine eigene, mündige Entscheidung damit verhindert werden? Sind die "biblischen" Argumente der Leitung etwa so schwach, dass sie sich keiner alternativen Betrachtung stellen können? Diese Materialien dienen sehr wohl dazu, über "Alternativen und Risiken der Behandlung" zu informieren, denn diese enden keineswegs am Krankenbett. Hier spricht deutlich die Angst aus den Zeilen, dass eigenes Denken zu anderen Schlussfolgerungen kommen könnte. Darum wird lieber eine Abschirmung der Mitglieder vor möglicherweise gefährlichen Gedanken versucht. Dahinein nun auch die Ärzte einspannen zu wollen, indem sie auf rein medizinische Faktenvermittlung vergattert werden sollen, zeugt von wenig Zutrauen in die Tragkraft der eigenen Argumentation.
3. Die Ablehnung von Bluttransfusionen als "imperatives Glaubensgebot" dürfte die gegenwärtige Praxis der Wachtturmgesellschaft sicher treffend beschreiben. Dass dies jedes Mitglied bereits vor Beginn seiner Mitgliedschaft aufgrund seines Bibelstudiums in allen Details nachvollzogen habe, darf jedoch ebenso wie die biblische Begründung dieses Gebotes mit Recht bezweifelt werden. Die Äußerungen der Reformbewegung beweisen das Gegenteil, auch wenn deren Existenz rundweg bestritten wird.
Der Vorgang insgesamt zeigt wieder einmal deutlich, dass von Seiten der Leitung der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas die Abschirmung der Mitglieder vor kritischen oder auch nur alternativen Sichtweisen einer sachlichen Auseinandersetzung auf der inhaltlichen Ebene vorgezogen wird. Die Beschneidung von Freiheitsrechten (Informationsfreiheit) bereitet der Leitung offenbar weniger Sorgen als eigenständiges Denken der Mitglieder. Das ist kein gutes Aushängeschild für eine Organisation, die im Rahmen des angestrebten Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes ihre Offenheit zur Gesellschaft zu zeigen bemüht ist.
Harald Lamprecht, Dresden