Ein Jahr nach dem Mord an Samuel Paty - Umfragen zu Meinungsfreiheit und Islam in Frankreichs Schulen
Ein Jahr nach der Ermordung des französischen Lehrers Samuel Paty durch einen 18-jährigen Tschetschenen (vgl. ZRW 1/2021, 5 – 22) blickt Frankreich zurück. Umfragen in Schulen zeichnen ein düsteres Bild.1 Die Entfremdung weiter Teile der muslimischen Bevölkerung vom Staat und ihre Distanz gegenüber den autochthonen Franzosen nehmen eher zu als ab. Das gilt umso mehr, je jünger die Befragten sind. Umgekehrt bleibt die anhaltende Serie islamistischer Gewalttaten auch aufseiten der Einheimischen nicht folgenlos. Die regelmäßigen Anschläge (in Deutschland oft kaum noch registriert) erodieren das gesellschaftliche Vertrauen. Der Mord an Paty hat etwas verstärkt, das schon seit Jahren beobachtet und dokumentiert worden war: Lehrer weichen vor den aggressiv vertretenen Ansprüchen muslimischer Schüler zurück und müssen bisweilen Radikalisierungstendenzen machtlos zusehen. Die Erfahrung, dass jede angebliche Beleidigung, jede gefühlte Kränkung zu Konflikten mit Schülern, Eltern, islamischen Autoritäten, zu Drohungen oder gar zu Gewalt führen kann, schüchtert viele Lehrkräfte so sehr ein, dass sie alles vermeiden, was zur Provokation erklärt werden könnte.
Es gibt zwar relativ wenige zuverlässige Umfragen zu radikalen Einstellungen unter Schülern. Diese aber sind besorgniserregend. Ein Viertel der muslimischen Oberschüler verurteilt die Pariser Anschläge auf das Bataclan und Stade de France (13.11.2015) nicht uneingeschränkt, weitere 12 % finden die Motive der Mörder nachvollziehbar. Für den Anschlag auf Charlie Hebdo (7.1.2015) bekennt sogar fast die Hälfte von ihnen mindestens ein gewisses Verständnis. Je jünger die Befragten sind, desto größer ist die Nachsicht gegenüber Gewalttätern und desto geringer die Zustimmung zur Bedeutung von Meinungs- und Redefreiheit, soweit sie ihre Religion betrifft. Die Wertschätzung solcher demokratischen Freiheiten rangiert weit hinter der Forderung nach „Respekt“, wobei damit insbesondere der Respekt für den Islam gemeint ist.2 Drei Viertel der jungen Muslime stellen die Scharia über das staatliche Gesetz.
Bei den schulischen Gedenkveranstaltungen für Samuel Paty vor einem Jahr registrierten die Behörden landesweit fast 800 Störungen durch Schüler – wahrscheinlich waren es weit mehr: Denn eine im Auftrag von Charlie Hebdo und der sozialistisch-laizistischen Fondation Jean-Jaurès durchgeführte Ifop-Umfrage fand heraus, dass jeder dritte Lehrer in den „quartiers sensibles“ damals einen solchen Zwischenfall an seiner Schule beobachtet hatte. („Quartier sensible“ ist eine politisch korrekte Bezeichnung für ärmere, meist migrantisch beziehungsweise islami(sti)sch dominierte Stadtteile.)
Weit davon entfernt, auf eine wehrhafte Demokratie zu treffen, welche die laizistische Schule verteidigt, zeitigen die immer offensiver dargestellte islamische Identität und die wachsende Gewaltbereitschaft offenbar die erwünschte Wirkung. Landesweit sagt die Hälfte aller Lehrer, sie sparten im Unterricht bestimmte Themen aus, um ihre Schüler nicht zu provozieren. Bei nicht wenigen scheint echte Angst zu herrschen. Der Anteil ist deutlich höher unter jenen, die schon einmal religiös begründete Konflikte mit Schülern hatten. Solche Konflikte führen wie bei Paty oft zum Vorwurf der „Islamophobie“. Wer dem ausgesetzt ist, muss nicht nur Angst um Ruf und Karriere, sondern auch um seine Gesundheit haben.
Bei jenen, die in den „quartiers sensibles“ unterrichten, vermeidet sogar die große Mehrheit der Lehrer alle strittigen Themen. Diese sind zahlreich: Holocaust, Israel / Judentum, Evolutionslehre, Trennung von Staat und Kirche, Demokratie und Laizismus, Homosexualität, die Rolle der Frau und eben die Rede- und Meinungsfreiheit, für deren Verteidigung Samuel Paty ermordet wurde. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich daran etwas ändern wird. Zum einen, zeigen die Umfragen, sind jüngere Lehrer noch vorsichtiger als ältere, und zum anderen steigt auch in Frankreich der muslimische Anteil an der Schülerschaft ständig an (genaue Zahlen dazu gibt es nicht, weil der Staat nicht nach Religion fragen darf). Obendrein sind islamistische, auch gewaltbereite Positionen unter jüngeren Muslimen stärker verbreitet als unter älteren. Inzwischen befürwortet gar ein Viertel die Störungen von Gedenkfeiern für die Mordopfer von Charlie Hebdo.
Die Furcht in der Lehrerschaft ist begründet. Insbesondere Lehrerinnen sind seit Jahren mit Respektlosigkeiten konfrontiert. Schulverwaltung und Staat wirken hilflos. Die Lehrer beklagen seit langem vergeblich, dass sie im Konfliktfall mit Schülern und Eltern von vorgesetzten Behörden und Schulleitungen alleingelassen werden. Auch die Solidarität des Kollegiums ist keineswegs sicher. Das zeigten zuletzt schulinterne E-Mails, die nach Patys Tod bekannt wurden. Nicht wenige Lehrer beschuldigen mutige Kollegen, wenn es Streit gibt, diese hätten den Stress ja selbst verschuldet. Habe man die Muslime denn provozieren müssen? „Ne pas faire de vagues!“ (bloß keine Welle machen) ist die Devise. Der Druck wirkt wie eine Art inoffizielles Blasphemiegesetz.
In der Schule geschieht dabei mit größerer Schärfe das gleiche wie in der Gesellschaft insgesamt. Angesichts drohender Islamophobievorwürfe wird nach außen hin versucht, jeglicher Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Derweil wachsen aber innerlich Ablehnung und Entfremdung von Islam und muslimischen Bürgern. Denn einheimische Franzosen und muslimische Migranten entwickeln sich zunehmend auseinander, die Fronten scheinen sich zu verhärten. Zwar fanden schon 2006 38 % der französischen Bevölkerung die provokante Veröffentlichung der dänischen Mohammed-Karikaturen als Ausdruck der Meinungsfreiheit richtig. Aber 2020 war dieser Wert auf 59 % gestiegen – im vollen Bewusstsein ihres Provokationspotenzials. Dagegen finden sie heute wie damals weit über zwei Drittel der Muslime falsch. Parallel dazu fiel der Anteil jener Franzosen, die Verständnis für die muslimische Indignation angesichts von Beleidigungen ihres Propheten haben, auf weit unter ein Drittel. Interessantes Detail: Deutlich höher ist das Verständnis unter religiösen Menschen, gleich welcher Religion. Gläubige Katholiken verstehen die muslimische Erregung eher. Der Graben besteht hier also teilweise nicht zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, sondern zwischen Säkularen und Gläubigen.
Nur in einem scheinen sich beide Seiten anzunähern: In der Einschätzung, dass die Differenzen (jedenfalls bei beidseitiger Bewahrung ihrer Identität) unüberbrückbar seien: 61 % der Bevölkerung finden inzwischen, Islam und „französische Werteordnung“ seien unvereinbar. Das glauben im Moment zwar nur 29 % aller Muslime. Aber unter jüngeren Muslimen ist es schon fast die Hälfte, Tendenz steigend. Entfremdungsgefühle und radikale Einstellungen sind dabei nicht nur unter den jüngeren Muslimen deutlich stärker als im Durchschnitt. Auch das Wohnen in mehrheitlich islamischen Stadtteilen korreliert mit radikaleren Einstellungen. Die urbane Segregation der Wohngegenden, die jeder aufmerksame Frankreichreisende beobachten kann, hat also – wenig überraschend – eine selbstverstärkende Wirkung auf die gesellschaftlichen Grenzziehungen.
Wer wissen möchte, wie es diesbezüglich in Deutschland aussieht, der sei auf eine Befragungsstudie von 2017 verwiesen. Sie wurde im Auftrag des American Jewish Committee unter Lehrkräften an zwei Dutzend Berliner Schulen durchgeführt und zeigte – auf bislang weit geringerem Niveau – mancherlei Ähnlichkeiten mit der französischen Situation.3
Kai Funkschmidt, 05.11.2021
Anmerkungen
- Vgl. zum Folgenden: Anant Agarwala: Ermordet, weil er seinen Job gemacht hat, Die Zeit, 6.10.2021, 41; Sondage: „Les Français sont-ils encore ‚Charlie‘?“ (Fondation Jean Jaurès, Ifop, Charlie Hebdo, 31 août 2020), tinyurl.com/2kzx7rf2 (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 4.11.2021); Ifop: Les enseignants, la laïcité et la place des religions à l’école, 6.7.2021, https://tinyurl.com/7xvc43eh
- François Kraus: Sondage: Droit au blasphème, caricatures, liberté d’expression … Les Français sont ils encore „Charlie“?, 1.9.2020, https://tinyurl.com/4xs77pf4 (hier auch die Originalumfrage zum Download); Denys Bédarride: Enquête: Les français sont-ils encore „Charlie“?, EcomNews, 4.9.2020, https://tinyurl.com/33sb2ev9.
- Der Fairness halber muss man erwähnen, dass in der sogenannten „Woke-Kultur“ und „Cancel-Culture“ ähnliche Positionen auch von Nichtmuslimen vertreten werden, oft ebenfalls hoch aggressiv und vor allem von Jüngeren. Teilweise handelt es sich also um ein kulturelles, nicht um ein rein islamisches Phänomen. An Universitäten der gesamten westlichen Welt erklären sich extremistische Vertreter der Woke-Culture selbst zu Sprechern für diverse Opfergruppen, die als identitäre Bewegungen auftreten (Schwarze, Transsexuelle usw., vgl. Kai Funkschmidt: Akademischer „Social Justice“-Aktivismus als „Kulterfahrung“, in: ZRW 3/2021, 209 – 215). Ihre Position ist nicht religiös, sondern akademisch unterfüttert (Identity Studies), aber auch sie erklären in Umfragen regelmäßig, die Rede- und Meinungsfreiheit solle nur für nicht-kontroverse Ansichten gelten und insbesondere nichts einschließen, was Menschen verletzen könnte.
- Salafismus und Antisemitismus an Berliner Schulen. Erfahrungsberichte aus dem Alltag, Eine Dokumentation im Auftrag des American Jewish Committee Berlin, 2017, https://ajcgermany.org/de/media/37