Atheismus

Ein Nachmittag mit Michael Schmidt-Salomon

An einem verregneten Januartag (30.1.2013) lädt die Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur zu einer öffentlichen Vorlesung ein. Leuchtend rot ist das Plakat, auf dem ein Schimpanse als Che Guevara posiert. Lateinamerikanische Glut auf der Karl-Liebknecht-Straße: „Viva la evolución!“ Der reisende Philosoph Michael Schmidt-Salomon bespielt Hörsaal 119 mit dem Lichtbildervortrag: „Darwins brisantes Erbe“. Doch Erbe allein wäre zu wenig, und so verspricht der Redner dem Publikum: „Die Perspektiven des evolutionären Humanismus“.

Das leicht geschürzte Erbrechtstheater wird in drei Akten aufgeführt. Im ersten werden die religiösen Bösewichte vorgestellt. Sie werden folgender Missetat beschuldigt: „Glauben statt Wissen“. Dann folgen Erbschleicher, die Darwin missverstehen und sich Irrwegen hingeben. Schließlich folgt der Sieg der wahren Darwinversteher. Leider kann er nicht vollstreckt werden, da die meisten Menschen in der praktischen Anwendung der Vernunft gehemmt sind. Der poetische Gerichtsvollzieher, Schmidt-Salomon, spricht hier mit der ironischen Distanz des Wissenden von „Schwarmdummheit“.

Zum ersten Akt: Klar gegliedert und farblich hervorgehoben präsentiert das Schaubild Mutationen und Varianten einer eigentümlichen Begriffsverwirrung. Jeder, der an einen Schöpfer, lateinisch Creator, glaubt, ist entweder ein offener oder ein getarnter Kreationist. So einfach kann Wissenschaft sein, man muss nur Latein verstehen. Aber wenn wir die Lehrformel des Wissenschaftserklärers Schmidt-Salomon ernst nehmen, dann ergeben sich erstaunliche Aussichten. Theodosius Dobzhansky, Mitbegründer des modernen „Darwinismus“ und zugleich bekennender orthodoxer Christ, wäre von Schmidt-Salomon des Kreationismus überführt. War Dobzhansky vielleicht partiell dumm? Ist sein berühmtes Motto „Nothing in biology makes sense except in the light of evolution“1 vielleicht durch ein getarntes religiöses Virus verseucht?

Der zweite Akt: Schnellen Schrittes und eher konventionell werden Sozialdarwinismus und Rassismus als illegitime Kinder eines fiktionalen Darwin enterbt. Das ist nicht falsch. Aber gerade Anspruch und Schicksal des mit dem Kaiserreich sang- und klanglos untergegangenen Monistenbundes hätten dem Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung zeigen können, wie leicht man sich mit dem Erbe verschätzen kann.

Der letzte Akt: „Siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker, doch über dir geht leuchtend der Herr auf, seine Herrlichkeit erscheint über dir“ (Jes 60,2). Es ist strittig, von wem der Prophet sprach, aber Schmidt-Salomon verweist auf den evolutionären Humanismus. In ihm sind Naturalismus und Humanismus miteinander versöhnt. Dies wird auch durch eine graphische Darstellung untermauert, die den evolutionären Humanismus pädagogisch geschickt als Schnittmenge dargestellt. Das Tafelbild konnte aufgrund seiner Schlichtheit und präzisen Ausführung gut abgezeichnet werden. Auch im weiteren Verlauf überzeugt das Referat durch holzschnittartige Thesen und unterhaltsame Sinnsprüche, darunter verblüffende Kalauer wie „Sinn erwächst aus Sinnlichkeit“. Bemerkenswert routiniert – quasi nebenbei – erledigt Schmidt-Salomon Kategorien wie Gut und Böse, während er Maßstäbe wie Dumm und Klug beibehält. Schmidt-Salomon ist halt ein kluger „Trockennasenaffe“2.

Zum tiefgründigen Abschluss gibt es Erbauliches von Albert Schweitzer und die letzten Strophen des religionskritischen Heine-Gedichts von dem Himmel, der den Spatzen und Engeln gehört.3 Ich verlasse den Hörsaal und trinke ein Bier auf Heinrich Heine und das kritische Denken.


Robert Giesecke, Schöningen


Anmerkungen

1 Theodosius Dobzhansky, The American Biology Teacher 35 (1973), 125-129.

2 Michael Schmidt-Salomon, Jenseits von Gut und Böse, Zürich 2009, 306f u. ö.

3 Deutschland, ein Wintermärchen, 1844. Aber Heinrich Heine ist vielschichtiger, als Schmidt-Salomon behauptet. 1852 schrieb Heine: „ich verdanke meine Erleuchtung ganz einfach der Lektüre eines Buches – Eines Buches? Ja, und es ist ein altes, schlichtes Buch, bescheiden wie die Natur, auch natürlich wie diese; ... die Bibel. Mit Fug nennt man dies auch die heilige Schrift; wer seinen Gott verloren hat, der kann ihn in diesem Buch wiederfinden, und wer ihn nie gekannt, dem weht hier entgegen der Odem des göttlichen Wortes“. Gemäß Schmidt-Salomon gefährden Religioten die Freiheit. War Heinrich Heine ein Religiot? (Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Vorrede zur 2. Aufl., Stuttgart 1997, 151f; Michael Schmidt-Salomon, Keine Macht den Doofen, Zürich 2012, 24ff).