Ein Reiseführer ins Jenseits?
Das Tibetische Totenbuch
Dass Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in Westeuropa ein breites Interesse an Tibet erwachte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es schon immer Menschen gab, die sich für Tibet interessierten, und so gelangte auch das legendäre Tibetische Totenbuch schon einige Jahrzehnte vor Beginn des Tibet-Booms in den Westen. Der berühmte amerikanische Tibetologe Walter Yeeling Evans-Wentz (1878 – 1965), der stark von der Theosophie beeinflusst war und später zum Buddhismus konvertierte, gab es 1927 erstmals auf Englisch heraus, wobei die Übersetzung das Werk eines tibetischen Lamas sein soll. Der Titel dagegen stammt von Evans-Wentz, dies in Anlehnung an das bekannte Ägyptische Totenbuch. 1935 lag das Werk zum ersten Mal auf Deutsch vor und enthielt dabei einen Kommentar des Psychoanalytikers C. G. Jung, von dem noch zu sprechen sein wird. Dieser Kommentar wurde später auch den weiteren Auflagen der englischsprachigen Ausgabe beigefügt. Mittlerweile liegt das Werk auch auf Deutsch in verschiedenen Versionen und neueren Übersetzungen vor, wobei das Interesse an dem Werk durch den Tibeter Sogyal Rinpoche, den Gründer der Organisation „Rigpa“, nicht unwesentlich angeheizt worden sein dürfte. Er hatte Anfang der neunziger Jahre seinen Bestseller „Das Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben“ veröffentlicht, das auch auf das Tibetische Totenbuch eingeht und mit diesem durch die Ähnlichkeit des Titels immer wieder verwechselt wird.
Der tibetische Name des Tibetischen Totenbuchs lautet korrekt „Bardo Thödröl Chenmo“ (meistens wird er jedoch nur „Bardo Thödröl“, auch „Bardo Thödol“, geschrieben), was so viel bedeutet wie „Große Befreiung durch Hören im Bardo“. Als Bardo (Sanskrit antarābhava) wird meistens – und so auch im Tibetischen Totenbuch – der Zwischenzustand zwischen Tod und Wiedergeburt beschrieben. Eigentlich meint Bardo aber ganz generell den Übergang von einer Situation zur anderen. In einem spirituellen Sinn sieht der tibetische Buddhismus Bardos als „besonders kraftvolle Gelegenheiten zur Befreiung, denn gewisse Momente, so sagen die Lehren, sind machtvoller als andere, mit viel mehr Potential aufgeladen, und was immer man dann tut, zeitigt starke und weitreichende Wirkungen“, schreibt Sogyal Rinpoche. „Der mächtigste und energiegeladenste dieser Momente“ sei „jedoch der Augenblick des Todes“.2 Dieser Augenblick soll, wie der tibetische Titel des Totenbuchs bereits aussagt, zur „Befreiung durch Hören“ genutzt werden. Der, der hört, ist niemand anders als der Verstorbene, dem die Anweisungen und Ratschläge des Bardo Thödröl Chenmo vorgelesen werden, um ihn so zur Befreiung, d. h. zum Ausbruch aus dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt zu befähigen.
In seinen schriftlichen Fassungen lässt sich das Bardo Thödröl Chenmo bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen. Wie der Anfang des Textes aber deutlich werden lässt, wird es dem bereits erwähnten Tantriker und Magier Padmasambhava („der Lotus Geborene“, tibetisch Guru Rinpoche, „kostbarer Lehrer“) zugeschrieben, der im 8. Jahrhundert n. Chr. den Buddhismus in Tibet etablierte, indem er viele Elemente der schamanisch ausgeprägten Bön-Religion in den Buddhismus integrierte und so einen Buddhismus „à la tibétaine“ schuf, der sich von den buddhistischen Traditionen Südasiens, gerade durch die ihm innewohnenden schamanischen Wesenszüge, stark unterscheidet.
Die Überlieferungslücke zwischen der Ära Padmasambhavas und den ersten schriftlichen Fixierungen wird damit erklärt, dass es sich beim Tibetischen Totenbuch um einen sogenannten „Terma“-Text handle. Darunter werden in der Schule der Nyingmapa, der ältesten Tradition des tibetischen Buddhismus, die sich direkt auf Padmasambhava zurückführt, Dokumente verstanden, die aufgrund äußerer Umstände in Höhlen, Mauerlöchern oder Felsspalten versteckt werden mussten und oft erst Jahrhunderte später durch bedeutende Lamas, sogenannte Tertön („Schatz-Lehrer“) gefunden wurden. Im Falle des Bardo Thödröl Chenmo war es der Lama und Tertön Karmalingpa (1326 – 1386), der den Text am Berg Gampodar entdeckt haben soll.
Der Inhalt
Das Bardo Thödröl Chenmo beginnt mit einer Huldigung und einer Einleitung, aus denen hervorgeht, dass die nun folgenden Anleitungen insbesondere für Menschen gedacht sind, die noch nicht über den nötigen Bewusstseinszustand verfügen, um sich ohne Anleitung aus dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt zu befreien. In diesem Falle „muss man vor der Leiche mit klarer und deutlicher Stimme diese Große Befreiung durch Hören lesen. Ist jedoch die Leiche nicht da, so soll man sich auf dem Schlaf- oder Sitzplatz des Toten niederlassen und – da man ein Wahrheitswort ausspricht – den Geist des Verstorbenen herbeirufen. Diesen stellt man sich vor, wie er vor einem sitzt und zuhört. So soll man nun lesen! Da zu dieser Zeit es für die Verwandten und die mit dem Sterbenden liebevoll Verbundenen unpassend ist, zu weinen und zu wehklagen, ist solches streng verboten. Wenn die Leiche da ist, dann soll der Lama [des Verstorbenen], ein geistlicher Bruder, einer, zu dem der Tote Vertrauen hatte, oder ein gleichgesinnter Freund oder ein ähnlicher zu dem Zeitpunkt, da der äußere Atem bereits versiegt, der innere Lebensodem sich aber noch nicht verflüchtigt hat, diese Große Befreiung durch Hören lesen, und zwar mit dem Mund nahe am Ohr des Toten, ohne es zu berühren.“3
Es folgen darauf die Anleitungen zur Darbringung von Opfergaben und zum Sprechen vorbereitender Gebete, ehe dann der eigentliche Text beginnt, der sich in drei Teile gliedert. Der erste Teil trägt den Titel „Einsicht [in die Natur] des Urlichts im Zwischenzustand der Todesstunde“ und beschäftigt sich also mit den Vorgängen in den Momenten des Sterbens. Dabei soll, sofern es die Umstände gebieten, dem Sterbenden Folgendes mit auf den Weg gegeben werden: „Sohn von edlem Stamm, N. N., da nun für dich die Zeit gekommen ist, einen Weg zu suchen, und nachdem dein Atem fast aufgehört hat, wird dir das, was man das Urlicht des ersten Zwischenzustands nennt, und dessen Sinn dir dein Lama früher vor Augen geführt hat, das Sein-an-sich, leer und bloß wie der Himmel als der unbefleckte nackte Geist, der klar und leer, ohne Begrenzung oder Mitte ist, aufgehen. Zu dieser Zeit sollst du dieses erkennen und eben darin verharren! Ich aber werde dich zu dieser Zeit zur Einsicht führen!“4
Auf diese Weise werden dem Verstorbenen einige Anweisungen erteilt, ehe sich das Totenbuch dem zweiten Zwischenzustand, dem „Zwischenzustand des Seins-an-sich“ zuwendet. Denn es wird davon ausgegangen, dass nur wenige bereits im ersten Bardo das „Urlicht“ der Befreiung aus dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt erreichen können. Habe der Verstorbene, „obwohl er zu Lebzeiten von einem Lama zur Einsicht gebracht wurde, nur wenig spirituelle Übung, dann kann er von sich aus keine Klarheit über den Zwischenzustand gewinnen. Deshalb muss ein Lama oder ein geistlicher Bruder ihn klar und deutlich unterweisen ... Am besten ist es, wenn [der Tote das Licht] im ersten Zwischenzustand erkennt. Erkennt er es jedoch nicht, dann wird er befreit, wenn während des zweiten Zwischenzustands durch die Hilfe der klaren Anweisung seine Geist-Natur erwacht. Ferner wird im zweiten Zwischenzustand ein reines Wissen auftreten, das man bisher, als Toter oder Lebender, nicht besaß. Dies ist das, was man den wahren Illusionsleib nennt. Begreift [der Tote] zu dieser Zeit nun die Unterweisung, dann [erkennt] er das So-Sein [der Wirklichkeit], so wie Kind und Mutter sich erkennen. Das Karma kann daran nichts ändern ... Ferner geht nun dem Geist-Wesen deutlich das auf, was man den zweiten Zwischenzustand nennt. Das Bewusstsein [des Toten] schweift wie vorher in Hörweite [um die Leiche]. Wenn [der Tote] zu dieser Zeit die Unterweisung versteht, ist der Sinn erfüllt, und da die wirren Erscheinungen des Karma noch nicht aufgegangen sind, kann man nach Belieben noch Einfluss nehmen. Auch wenn [der Tote] das Urlicht nicht erkannt hat, aber nun das Licht des zweiten Zwischenzustands erkennt, wird er befreit. Wenn er hierdurch nicht befreit wird, dann nennt man [das Kommende] den dritten Zwischenzustand. Wenn der Zwischenzustand des Seins-an-sich aufgeht, ziehen die wirren Erscheinungen des Karma im dritten Zwischenzustand auf ... Zu dieser Zeit weinen und wehklagen seine Verwandten, geben ihm seinen Anteil am Essen nicht, nehmen ihm seine Kleider weg, räumen seinen Schlafplatz auf. Wenn sie ihn rufen, so kann er sie hören, aber wenn er sie ruft, dann hören sie ihn nicht. Deshalb entflieht er immer wieder voll Wehmut.“5
Dem Verstorbenen soll nun Folgendes gesagt werden: „Sohn der Edlen, nun widerfährt dir das, was man den Tod nennt. Du musst diese Welt verlassen. Du bist nicht der einzige, dem solches widerfährt. Da dieses allen geschieht, sehne dich nicht nach diesem Leben und verlange nicht danach! ... Dies ist die Quintessenz dieser Unterweisung. ‚Wehe! Zu der Zeit, da mir der Zwischenzustand des Seins-an-sich aufsteigt, und da ich jedwede Furcht und Angst zurückgewiesen habe, möchte ich doch zur Einsicht gelangen, dass alles, was mir aufsteigt, eine Erscheinung meiner eigenen Geist-Natur ist. Möchte ich doch erkennen, dass dies die Weise ist, in der der Zwischenzustand erscheint! An diesem hochbedeutsamen Zeitpunkt angelangt, möge ich die Scharen der Friedvollen und Schrecklichen, die ja eine Erscheinung meiner selbst sind, nicht mehr fürchten!‘“6
Das Bardo Thödröl Chenmo bereitet also den Verstorbenen darauf vor, dass ihm jetzt friedvolle und schreckliche Wesenheiten begegnen werden, die aber, wie gesagt, nichts anderes als spukhafte Erscheinungen seiner eigenen Geist-Natur sind. Zu den friedvollen Wesenheiten, die das Totenbuch ebenfalls näher beschreibt, zählt die Pentade der Buddhas Vairocana, Aksobhya, Ratnasambhava, Amithaba und Amoghasiddhi. Zu den schrecklichen Wesenheiten heißt es, es würden „nun flammengleich die Scharen der bluttrinkenden, schrecklichen Götter, achtundfünfzig an der Zahl, erscheinen und zwar als die Verwandlungen der früheren Scharen friedvoller Götter. Doch nun ist [die Situation] nicht wie vorhin, denn da dies eben der Zwischenzustand der Schreckensgottheiten ist, wird [der Tote] von Furcht, Angst und Schrecken überwältigt. Daher wird es schwierig sein, [die Wahrheit] zu erkennen. Da der Geist seiner selbst nicht mehr mächtig ist, versinkt er in Ohnmacht und Schwindelzustände ... Selbst Äbte, die die Mönchsregeln halten, und Lehrer der Philosophie werden in dieser Situation verwirrt und erkennen [die Wahrheit] nicht, sondern müssen wiederum in der Wandelwelt umherirren. Um wie viel mehr ergeht es erst den geringsten der Lebewesen so, denn da sie dem Schrecken, der Angst und Furcht zu entfliehen suchen, stürzen sie in den gähnenden Abgrund der üblen Daseinsbereiche und müssen leiden.“7
Zu den schrecklichen Wesenheiten, die nun den Verstorbenen ängstigen, zählen die Heruka genannten zornvollen männlichen Gottheiten, wie sie auch auf zahlreichen Thangkas dargestellt werden. Über den nun erscheinenden Buddha-Heruka heißt es beispielsweise: „Sohn der Edlen, dir wird nun erscheinen, was als der Glanzvolle Buddha-Heruka bekannt ist. Er ist von dunkelbrauner Körperfarbe, hat drei Häupter, sechs Arme und vier Beine. Das rechte Antlitz ist weiß, das linke rot und das mittlere dunkelbraun. Sein Leib strahlt als eine Masse von Licht. Seine neun Augen schauen mit einem furchterregenden Blick in deine Augen; seine Augenbrauen zucken wie Blitze; seine Eckzähne blitzen wie Kupfer. ‚A-la-la‘ und ‚ha-ha‘ dröhnt sein lautes Gelächter. Ein zischendes Geräusch, wie ‚sha-u‘ gibt er von sich. Sein gelb-rotes Haupthaar sträubt sich empor wie Flammen. Sonne und Mond sowie Totenschädel krönen seine Häupter. Schwarze Schlangen und frische Schädel zieren seinen Leib. Von seinen sechs Armen hält die rechte erste Hand ein Rad, die mittlere eine Streitaxt, die letzte ein Schwert, und von den linken Armen hält die erste Hand eine Glocke, die mittlere eine Schale und die letzte eine Pflugschar. Die göttliche Mutter Buddha-Krodheshvari umschlingt den Leib des göttlichen Vaters, und ihre Rechte umarmt den Nacken des göttlichen Vaters, wogegen ihre Linke eine Schädelschale voll Blut seinem Munde darreicht. Er stößt kehlige Laute aus, grelle Schreie und gleich Donner grollende Töne. Seine Körperhaare, eigentlich lodernde Vajras (Diamanten, C.R.), sind gesträubt, und Flammen der Urweisheit umzucken ihn. Auf einem von Garuda gestützten Thron steht er mit einem gestreckten und einem abgewinkelten [Beinpaar]. Aus der Mitte deines eigenen Hirns entsteigt [dieser Buddha-Heruka] und erscheint vor dir in eben dieser Art. Fürchte ihn nicht, habe keine Angst vor ihm! Erkenne in ihm doch das Wesen deiner Geist-Natur! Da er dein göttlicher Yi-dam (Schutzgott, C.R.) ist, fürchte ihn nicht! Da [dieser Buddha-Heruka] in Wahrheit der erhabene Vairocana, als göttliches Paar, ist, habe keine Angst! Wenn du dies wahrlich erkennst, wirst du im selben Augenblick befreit!“8
Ist es dem Verstorbenen jedoch weder im ersten noch im zweiten Bardo gelungen, zur Befreiung zu gelangen, tritt er nun in den Bardo des Werdens und damit in die Wiederverkörperung ein. Der durch die Zwischenzustände Irrende wird von verschiedenen Stimmungen heimgesucht, die das Tibetische Totenbuch sehr eindrücklich beschreibt: „‚Sohn der Edlen, da deine Geist-Natur von dem unsteten Wind deines Karma angetrieben wird, ist sie ihrer selbst nicht mehr sicher ohne Stütze und wird wie eine Feder vom Wind hinweggetragen und reitet dennoch wirbelnd und taumelnd das Pferd des Odems ... Tag und Nacht wird ein graues Etwas, wie das graue Licht des Herbstes, immer da sein, so werden die Tage des Zwischenzustands, der ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs oder sieben Wochen usw. bis zu neunundvierzig Tagen dauern kann, sein. Für gewöhnlich heißt es, dass die Leiden des Zwischenzustands des Werdens bis zu einundzwanzig Tagen andauern können, obschon dies nicht bestimmt ist, denn [es hängt] von der Macht des Karma ab. Sohn der Edlen, zu dieser Zeit wird der Sturm deines Karma, rot und bedrohend, äußerst schrecklich sein, und er wird bis zur Unerträglichkeit wüten und dich von hinten anpacken. Davor fürchte dich nicht, es ist eine trügerische Erscheinung deiner selbst. Eine ganz furchtbare, große Dunkelheit, die unerträglich ist, geht dir voraus. Verschiedenes, schreckliches Geschrei ertönt, wie: ‚Schlage, töte!‘ Davor fürchte dich nicht! Aber denen, die stark verblendet sind, werden die fleischfressenden Dämonen ihrer eigenen Taten, verschiedene Waffen schwingend, unter großem Gedröhne und Kriegsgeschrei wie: ‚Tötet, tötet! Schlagt, schlagt!‘ erscheinen. Und dir wird vorkommen, als ob verschiedene, furchterregende Bestien hinter dir herjagten, als ob Schnee und Regen, Schneestürme und Finsternis zusammen mit vielen Kriegern dich verfolgten. Die Geräusche berstender Berge, überströmender Seen und um sich greifenden Feuers, zusammen mit dem Heulen des Sturmes werden entstehen, und aus Angst davor wirst du blindlings fliehen. Vor dir schneiden jedoch drei Abgründe [dir den Weg ab]. Sie sind weiß, rot und schwarz; tiefgähnend und furchterregend werden sie Stücke aus dir machen. Sohn der Edlen, in Wahrheit sind dies keine Abgründe, sondern die drei Verzerrungen: Hass, Begehren und Unwissen ... Sohn der Edlen, zu dieser Zeit wirst du dich bei Brücken, Tempeln und Klöstern, Grashütten, Stupas usw. aufhalten, aber du wirst nicht lange bleiben können, da deine Geist-Natur ohne Körper sich nicht niederlassen kann. Du fühlst dich bedrängt, verärgert, verprellt; dein Intellekt ist zerstreut, taumelnd und diffus. Zu dieser Zeit wirst du nur einen Gedanken haben: ‚Ich bin tot, was soll ich nur tun?‘, und während dir diese Gedanken bewußt werden, steigt dir ein starkes Mitleid [mit dir selbst] auf. Und so wirst du unendlich großes Leid erfahren ... Danach verliert das Geist-Wesen seine Zuversicht; und du denkst, wäre es nicht geschickt, irgendeinen Körper zu erlangen? ... Auch weil du noch einen Körper suchst, wird dir nichts als Leid zuteilwerden. Tue daher nichts, um nach einem Körper zu verlangen, verweile im Wesen [dieses Nichtsuchens] und sei ohne Zerstreuung!‘ So zur Einsicht verholfen, wird [der Tote] im Zwischenzustand die Befreiung erlangen.“9
Das Allerwichtigste im Bardo des Werdens ist es jedoch, dem Verstorbenen zu sagen, wie er einer Wiederverkörperung entgehen kann. Damit dies, sozusagen im letztmöglichen Moment, gelingt, muss der Verstorbene vermeiden, in den Mutterschoß einzutreten und diesen daher verschließen: „Sohn der Edlen, zu dieser Zeit werden dir Erscheinungen aufsteigen, als ob sich Männer und Frauen in Leidenschaft vereinten. Da du sie erblickst, tritt nicht zwischen sie, sondern vergegenwärtige dir [die Unterweisung] und meditiere über diese männlichen und weiblichen Paare als deinen Lama und die heilige Mutter. So verehre sie und bringe ihnen im Geiste Opfer dar! Nur indem du dein Denken ganz darauf sammelst, sie mit tiefer Hingabe und Inbrunst um Unterweisung zu bitten, wirst du die Pforte des Schoßes verschließen.“
Und wenn dies nicht gelingt? Dann, so das Tibetische Totenbuch, „wirst du Männer und Frauen in leidenschaftlicher Vereinigung erblicken. Zu dieser Zeit wirst du kraft deines Begehrens und deines Hasses in den Schoß eingehen, und du kannst als Pferd, Vogel, Hund, Mensch oder ähnliches geboren werden. Sollst du als Mann wiedergeboren werden, dann wirst du dir selbst als männlich erscheinen und gegenüber deinem Vater heftige Ablehnung empfinden, und es dünkt dich, als ob du gegenüber deiner Mutter Eifersucht und Leidenschaft empfändest. Sollst du aber als Frau geboren werden, dann wirst du dir selbst als weiblich erscheinen, und du wirst Neid und Eifersucht gegen deine Mutter empfinden, und für deinen Vater wirst du Begehren und Leidenschaft fühlen.“
Gemäß der Lehre des tibetischen Buddhismus kann man auch als Tier wiedergeboren werden: „Warst du zuerst ein Mensch, so bist du nun ein Hund geworden und leidest in einem Hundezwinger oder – in entsprechender Weise – in einem Schweinestall oder in einem Ameisenhaufen oder in einem Fliegennest. Oder du wirst als Kalb oder Zicklein oder Lämmchen geboren. Einen Weg zurück gibt es nicht. In Stumpfheit und Nichtwissen wirst du verschiedenartigstes Leid erdulden müssen.“ Doch immer noch nicht ist es zu spät für eine Rettung: „O Sohn der Edlen, sei nicht zerstreut, nimm deinen Geist in voller Konzentration zusammen! Wenn du bisher die Pforte des Schoßes nicht verschließen konntest und dabei bist, in den Schoß einzutreten, dann musst du die Pforte des Schoßes mit dieser Unterweisung schließen, dass nämlich in Wahrheit nichts ein Sein hat [nichts ist], sondern eine Halluzination ist ... Wenn man es so von ganzem Herzen als Trug erkennt, wird die Pforte des Schoßes sicher verschlossen.“10 Und gelingt dies wiederum nicht, steht unweigerlich eine weitere Wiedergeburt bevor.
Kritische Würdigung
So weit ein Überblick über den Inhalt des Bardo Thödröl Chenmo. Was ist nun von all dem aus einer abendländischen oder sogar christlichen Perspektive zu halten? Zunächst einmal: Das Tibetische Totenbuch ist mit einer verklärenden, verkitschenden Sichtweise des Todes, wie sie etwa in der Esoterik immer wieder anzutreffen ist, nicht zu vereinbaren. Insofern stellt es ein Werk dar, das das Ende der menschlichen Existenz buchstäblich todernst nimmt. Daraus resultiert die Aufforderung, den Tod nicht zu ignorieren und aus dem Bewusstsein zu verbannen, sondern sich rechtzeitig, also bereits zu Lebzeiten mit ihm auseinanderzusetzen. Sogyal Rinpoche zitiert dazu in seinem „Tibetischen Buch vom Leben und vom Sterben“ den bereits erwähnten Magier Padmasambhava mit den Worten: „Die, die glauben, sie hätten noch eine Menge Zeit, bereiten sich erst vor, wenn der Tod naht. Dann werden sie plötzlich von Reue überwältigt. Aber ist es dann nicht zu spät?“ Und Sogyal Rinpoche schreibt weiter: „Der Buddhismus sieht Leben und Tod als eine Ganzheit, wobei der Tod ein neues Kapitel im Leben einleitet. Der Tod ist ein Spiegel, in dem der ganze Sinn des Lebens reflektiert wird.“11
Diese Haltung vermittelt auch das Tibetische Totenbuch, da alle Zustände, die der Verstorbene durchmacht, ja nichts anderes sind als karmische Spiegelungen des zuvor gut oder schlecht geführten Lebens. Indem es so die Einheit von Leben und Tod betont, weist es darauf hin, dass das Leben ebenso ernst zu nehmen ist wie der Tod.
Diesen Zusammenhang zwischen Leben und Tod, wie ihn das Bardo Thödröl Chenmo beschreibt, sah der Psychoanalytiker C. G. Jung vor allem darin, dass alle Erscheinungen, die dem Verstorbenen begegnen, nichts anderes als Projektionen seiner Seele, also psychologisch erklärbare Phänomene sind und so quasi auf das Leben zurückweisen. Mehr noch: „Die Seele ist es“, schrieb Jung, „die aus eingeborener Schöpferkraft die metaphysische Aussage macht; sie ‚setzt‘ die Distinktionen der metaphysischen Wesenheiten. Sie ist nicht nur die Bedingung des metaphysisch Realen, sondern sie ist es selbst.“12 Gemäß Jung sei es „sinnvoll, dem Toten in allererster Linie den Primat der Seele klarzumachen, denn das Leben macht einem eher alles andere klar“. Daher sei das Tibetische Totenbuch, und hier folgt Jung ausdrücklich Evans-Wentz, „ein Initiationsvorgang mit dem Zweck, die durch die Geburt verlorene Gottheit der Seele wiederherzustellen“.13
Frommen Christenmenschen schrillen bei einem Begriff wie „Gottheit der Seele“ natürlich die Alarmglocken, und es stellt sich zumindest der Verdacht eines gnostischen Weltbilds ein. Christliche Vorbehalte dürfte das Tibetische Totenbuch aber vor allem deshalb wecken, weil es in typisch buddhistischer Manier eine Anleitung zur Selbsterlösung ist – denn der Tote soll sich ja durch das Hören befreien, sich also aus eigener Kraft dem Nirvana zuführen. Er ist also nicht mehr auf die Gnade, Barmherzigkeit und die Kraft eines den Tod überwindenden Gottes angewiesen, sondern nur noch auf die Befolgung von Anweisungen und die Beachtung der karmischen Gesetze. Das hat den vermeintlichen Vorteil, dass man sozusagen auf Nummer sicher gehen kann und scheinbar der Kontingenz der unerschließbaren Jenseitigkeit Gottes und seines Willens damit entgeht. Der Buddhist, der sich ans Bardo Thödröl Chenmo hält, hat den subjektiven Vorteil zu wissen, was ihn jenseits der Schwelle des Todes erwarten könnte – ganz im Gegensatz zum Christen, der ja, was konkrete Aussagen über das Jenseits angeht, von der Bibel ziemlich im Stich gelassen wird. Der Christ kann nicht viel mehr tun als zu beten „Dein Wille geschehe“ und ansonsten auf die Gnade und Barmherzigkeit seines Schöpfers zu hoffen.
Am Selbsterlösungsgedanken des Buddhismus hält selbstverständlich auch der Dalai Lama fest, wenn er schreibt: „Jeder ist für seine eigene Erlösung verantwortlich, und niemand wird sich anstelle eines anderen befreien können ... Um es zeitgemäß auszudrücken, könnten wir auch sagen, dass die Botschaft des Buddhismus eine Botschaft der Erlösung ist, die den Akzent auf die Verantwortung des einzelnen legt und dabei sein enormes Potential an Intelligenz und Einsicht miteinbezieht ... Man muss ... den Buddhismus als eine Religion begreifen, die volles Vertrauen in den Menschen setzt.“14 Von diesem allgemeinen Vertrauen zeugt auch das Bardo Thödröl Chenmo – denn es ist keinesfalls als ein Buch zu verstehen, das sich nur an ein klerikales, mit tantrischen Ritualen vertrautes Mönchspublikum wendet, sondern war auch und gerade einfachen Tibetern wie Hirten und Nomaden zugedacht.
Doch ist es auch für die Menschen des Westens ein geeigneter Reiseführer ins Jenseits? Ich wage das zu bezweifeln, denn der tibetische Buddhismus besteht eben nicht nur aus den mehr oder weniger allgemein gehaltenen Weisheiten des Dalai Lama, sondern weist, wie gerade das Tibetische Totenbuch beweist, eine extrem komplexe Theologie auf. Zum einen ist er, ganz im Gegensatz zu den buddhistischen Traditionen Südasiens, eine ausgesprochen polytheistische Religion, voller Götter, Schutzgeister und Dämonen, was darauf zurückzuführen ist, dass der Buddhismus, als er sich in Tibet durchzusetzen begann, wie bereits erwähnt, zahlreiche Elemente der dort praktizierten schamanisch geprägten Bön-Religion integrierte. Zum andern ist der tibetische Buddhismus bis heute stark von einem magischen bis okkulten Denken beeinflusst. Wer sich auf einen authentischen tibetischen Buddhismus einlassen möchte, wird also mit einer beinahe archaisch anmutenden religiösen Praxis konfrontiert, die mit einem aufgeklärten, westlichen Denken nicht unbedingt kompatibel ist, um es einmal vorsichtig zu formulieren.
Die schrillsten Kritiker des tibetischen Buddhismus, Herbert und Mariana Röttgen alias Victor und Victoria Trimondi, können dem Bardo Thödröl Chenmo jedenfalls nichts Positives abgewinnen: „Die Zustände zwischen Tod und Wiedergeburt“ würden „in diesem Text von solch horrenden, sadistischen Szenen beherrscht, dass das Tibetanische Totenbuch einer dringenden Wertung von einem humanistischen und humanpsychologischen Standpunkt aus bedarf, bevor wir es in unsere Kultur übernehmen und integrieren ... Auch wenn hier immer wieder betont wird, dass der Horror, dem die Seele nach dem Tode begegnet, letztendlich eine Projektion ihres eigenen Bewusstsein sei, so darf nicht übersehen werden, dass in der tibetischen Kultur ‚Horror‘, ‚Schrecken‘, ‚Tod‘ und ‚Zerstückelung‘ ständig mit einer solch geballten Gewalt auftreten, dass man den Eindruck haben muss, dieses System beschwört etwas herauf, was es dann später wieder abbaut ... Für das Gros der Menschen dürfte der Bardo-Zustand deswegen nicht befreiend, sondern traumatisierendwirken. Von Trost, Liebe und Mitgefühl ist in diesem Religionsszenario nicht die Rede.“15
An dieser Kritik ist sicher bedenkenswert, dass das Tibetische Totenbuch eine verdienstlose Barmherzigkeit, wie sie das Christentum kennt, nicht enthält. Und auch C. G. Jung erkannte, dass gewisse Erscheinungen des zweiten Bardos, wie sie das Tibetische Totenbuch schildert, „einer absichtlich herbeigeführten Psychose“ entsprächen, die „bei gewissen belasteten Individuen unter Umständen ohne weiteres in eine wirkliche Psychose“ übergehen könne.16 Jung schließt seinen Kommentar mit der zweifellos richtigen Bemerkung, dass das Tibetische Totenbuch „ein geheimes Buch“ geblieben sei, und vielleicht ist es das Beste, dieses Geheimnis nicht ohne Not und ohne gewissenhafte Vorbereitung lüften zu wollen. Dies gebietet im Übrigen schon der Respekt vor der reichen Kultur Tibets. Und insofern taugt das Bardo Thödröl Chenmo auch und gerade nicht als Jenseits-Reiseführer für rationalitäts- und christentumsmüde sowie erleuchtungshungrige Westler – mag der Text auch noch so faszinierend sein. Was uns nach dem Tod erwartet, bleibt uns verborgen – und ich glaube, das ist auch ganz gut so.
Christian Ruch, Chur/Schweiz
Anmerkungen
1 Gekürztes Manuskript eines Vortrags, gehalten am 23.2.2013 bei der EZW-Fortbildung zum Thema „Das Ende ist mein Anfang. Jenseitsvorstellungen in neuen religiösen Bewegungen“ in Berlin.
2 Sogyal Rinpoche, Das Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben. Ein Schlüssel zum tiefen Verständnis von Leben und Tod, München ²¹1998, 26.
3 Eva und Gesche Lobsang Dargyay, Das Tibetische Buch der Toten, München 1999, 81.
4 Ebd., 87.
5 Ebd., 99f.
6 Ebd., 101f.
7 Ebd., 130f.
8 Ebd., 134f.
9 Ebd., 160ff.
10 Ebd., 177ff.
11 Sogyal Rinpoche, Das Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, a.a.O., 25f.
12 Carl Gustav Jung, Geleitwort und psychologischer Kommentar zum Bardo Thödol, in: Walter Y. Evans-Wentz, Das Tibetanische Totenbuch oder die Nachtod-Erfahrungen auf der Bardo-Stufe, erweiterte und verbesserte 7. Auflage, Olten/Schweiz 1971, 41-56, 43.
13 Ebd., 44f.
14 Dalai Lama, Vision des Herzens. Wieso ich optimistisch in die Zukunft sehe, Freiburg i. Br. 1999, 28.
15 Zit. nach www.trimondi.de/Kalachakra/links.ka.htm (abgerufen am 22.4.2013).
16 Carl Gustav Jung, Geleitwort und psychologischer Kommentar zum Bardo Thödol, a.a.O., 50.