Ein Sieg für die Meinungsfreiheit
Gerichtsurteil zum Äußerungsrecht von Weltanschauungsbeauftragten
Aus einem Beratungsfall, in dem es um die Leiterin und mehrere Lehrerinnen einer Grundschule ging, entwickelte sich 2014 eine gerichtliche Auseinandersetzung zwischen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg – Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen – und zwei Privatpersonen, eben dieser Schulleiterin und der Leiterin einer freien Beratungsstelle. In der Auseinandersetzung ging es um die Frage, ob Äußerungen der Weltanschauungsbeauftragten über die „Psychologische Lehr- und Beratungsstelle“ in Böblingen unterlassen werden müssen.
Zum Hintergrund
Eltern und Lehrer einer Grundschule hatten wegen eines anhaltenden Konflikts mit der Rektorin einer Grundschule in Böblingen die Weltanschauungsbeauftragten der württembergischen Landeskirche um Beratung und Informationen angefragt. Nach jahrelangen Konflikten um ihren Leitungsstil und die unklare Pädagogik, die hinter ihren Maßnahmen stand, hatten sie entdeckt, dass die Schulleiterin und eine wachsende Zahl von Lehrkräften enge Beziehungen zu der „Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle“ der pensionierten Lehrerin Jutta Dierks pflegten. Diese hatte vor ca. 40 Jahren ihre eigene Ausbildung in der „Zürcher Schule“ (ZS) Friedrich Lieblings erhalten. Die Weltanschauungsbeauftragten gaben den Ratsuchenden die ihnen vorliegenden Informationen über diese Beratungsstelle und ihre Hintergründe weiter, rieten aber dazu, die sachlichen Konflikte unabhängig davon auf der schulischen Ebene mit den Behörden zu klären. Da die betroffenen Eltern dort allerdings keinerlei Gehör fanden, geriet der Fall nach einigen Monaten in die Presse. In der Berichterstattung spielte in der Folge eine Kurzinformation der kirchlichen Arbeitsstelle zum weltanschaulichen Hintergrund der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle, die per E-Mail an ein Elternteil gesandt worden war, eine bedeutende Rolle.
Inhalt der Kurzinformation waren im Wesentlichen folgende Aussagen: Die Schulleiterin und weitere Lehrerinnen der betroffenen Grundschule gehörten nach Zeugenaussagen dem Kreis um Jutta Dierks an, die „seit Jahrzehnten in Böblingen eine Psychogruppe spezieller Prägung [betreibe], mit der die Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen der Ev. Kirche in Württemberg immer wieder in Konfliktfällen zu tun hatte“ und die Anlass gaben, die Gruppe um Jutta Dierks als „konfliktträchtig“ einzustufen. In den Beratungsfällen sei es um persönliche Abhängigkeit junger Menschen von Jutta Dierks gegangen, die Partner- und Familienbeziehungen gefährdete. Da Jutta Dierks nichts publiziert habe und die Abläufe in der Gruppe vertraulich gehalten würden, stammten freilich alle Informationen aus den Beratungsgesprächen.
In der Information der kirchlichen Arbeitsstelle wird kurz die Weiterentwicklung der Zürcher Schule nach dem Tod des Gründers angesprochen. Als eine Nachfolgeorganisation der auf Friedrich Liebling (1893 – 1982) zurückgehenden „Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle“ wurde 1986 der „Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis“ (VPM) gegründet. Den rechtskonservativen Kurs, auf den der VPM später umgeschwenkt sei, habe Jutta Dierks nicht mitvollzogen, heißt es in der Information. Sie habe wie in der früheren Zürcher Schule Beratungs- oder Therapiegruppen etabliert „mit Jutta Dierks als Meisterin. Wie in der ZS betrachtete sie deren Lehre als höchste Form der Menschenkenntnis und als jeder Psychologie oder Pädagogik weit überlegen; im Gegensatz zu der Tatsache, dass sie nach unserem Wissen keinerlei fachliche Ausbildung aufzuweisen hat.“
Zur früheren Zürcher Schule heißt es in dem Text: „Inhaltlich ist wichtig, dass die ZS eine libertinär-linksprogressive, hoch religions- und gesellschaftskritische Ideologie hatte, mit familienfeindlichen Zügen und der Idee, dass ein Kind nicht von den eigenen Eltern erzogen werden sollte. Die meisten ZS-Anhängerinnen und -Anhänger verzichteten bewusst auf Kinder, viele ließen sich sterilisieren. Wie die Praxis in der Dierks-Gruppe war, ist nicht genau bekannt, aber es gibt Hinweise in diese Richtung.“
Sofort nachdem Passagen dieser Kurzinformation in der Presse zitiert worden waren, forderten die Anwälte der Schulleiterin die Weltanschauungsbeauftragten auf, eine Unterlassungsverpflichtungserklärung bezüglich einzelner Abschnitte des Textes abzugeben. Dies wäre nicht möglich gewesen, ohne die Betroffenen, die sich bei der Arbeitsstelle informiert hatten, mitten in diesem nun offen ausbrechenden Konflikt im Stich zu lassen. Die Kurzinformation war zwar in dieser Form nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Aber die Sachinformationen waren korrekt und belegbar und die enthaltenen Meinungsäußerungen u. E. im Rahmen des Zulässigen. Nachdem die Unterlassungsverpflichtung ausblieb, klagte zunächst die Schulleiterin auf Unterlassung einzelner Aussagen, dann die Leiterin der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle auf Unterlassung des gesamten Textes der Kurzinformation. Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wurden beim Verwaltungsgericht Stuttgart eingereicht.
Die Arbeitsstelle der württembergischen Landeskirche äußerte sich während des laufenden Verfahrens nicht mehr in den weiterhin öffentlich ausgetragenen Konflikten um die Schule und die Psychologische Lehr- und Beratungsstelle, auch wenn ihr von vielen Seiten eine Art Sündenbockfunktion zugeschoben wurde – so, als habe die Kurzinformation erst den Konflikt ausgelöst und geschürt. Dass sich dieses Eilverfahren und damit auch das selbst auferlegte Schweigen so lange hinziehen würden, war allerdings nicht zu erwarten gewesen.
Nach einigen Wochen beruhigte sich die Situation an der betreffenden Schule allmählich. Das Kultusministerium beschloss Ende August 2014, die Stelle der Schulleitung neu zu besetzen, um den Schulfrieden wiederherzustellen. Die Lehrkräfte, die ebenfalls Kontakt zur Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle hatten, stellten Versetzungsanträge. Es gab einen geordneten Neubeginn an der betroffenen Schule, lange bevor die gerichtliche Auseinandersetzung entschieden wurde.
Urteil in erster Instanz
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart erging mehr als vier Monate nach der Einreichung der Eilanträge und fiel, aus Sicht der Weltanschauungsarbeit, unerfreulicher aus als erwartet.
Gesondert und vorweg (20.10.2014) hat das Verwaltungsgericht über die Zulässigkeit des Rechtswegs entschieden. Den Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 VwGO hielt das Gericht für gegeben, da die beanstandete Stellungnahme der Weltanschauungsbeauftragten dem Kernbereich kirchlichen Wirkens zuzurechnen sei. Es handle sich daher nicht um eine bürgerlich-rechtliche, sondern um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit (Beschluss des Verwaltungsgericht Stuttgart 2 K 3525/14 vom 25.11.2014, 11).
In der Sache entschied das Verwaltungsgericht am 25. November 2014 in beiden Verfahren fast wortgleich. Der Antragsgegnerin wurde bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Hauptverfahrens die Äußerung einiger Sätze der Kurzinformation untersagt, ansonsten wurde der Antrag zurückgewiesen. Untersagt wurde die Benennung der Gruppe als „Psychogruppe spezieller Prägung mit ihr [Jutta Dierks] als Meisterin bzw. Psychomeisterin“. Auch die Behauptung, es gebe Hinweise darauf, dass die Dierks-Gruppe die Ideologie der Zürcher Schule vertrete, wurde beanstandet; dies trotz der einschränkenden Aussage in der Kurzinformation, die genaue Praxis sei nicht bekannt.
Die Bezeichnung der Gruppe als „konfliktträchtig“ wurde aufgrund der vorgetragenen Beratungsfälle und auch aufgrund der aktuellen Konflikte an der Schule als zulässige Meinungsäußerung gewertet.
Problematisch aus Sicht der Weltanschauungsarbeit war nicht der auferlegte vorläufige Verzicht auf die beanstandeten Behauptungen und Begriffe. Schwer zu akzeptieren war die Begründung.
Das Gericht erkannte das Recht der Kirchen aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG an, sich kritisch mit anderen Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen auseinanderzusetzen. Es wies zugleich, wie das oft in diesem Zusammenhang geschieht, auf die besondere Sorgfaltspflicht kirchlicher Weltanschauungsbeauftragter nach dem BGH-Urteil vom 20.2.2003 hin. Danach wertete es aber die Belege, die die Weltanschauungsbeauftragten für die beanstandeten Äußerungen vorgelegt hatten, als nicht ausreichend. U. a. lägen die von Hansjörg Hemminger, dem ehemaligen Weltanschauungsbeauftragten der württembergischen Landeskirche, eidesstattlich erklärten Beratungsfälle, die die Nähe der Beratungsstelle zur Zürcher Schule hatten erkennen lassen, zu weit zurück. Für die Verwendung des Begriffs „Psychogruppe“ seien weder der feste Kundenstamm noch gruppentypische Innen- und Außenbeziehungen genügend nachgewiesen.
Der daraus ableitbare (und teilweise in der Öffentlichkeit auch so kommunizierte) implizite Vorwurf, der Sorgfaltspflicht nicht genügend nachgekommen zu sein und so unzulässig in die Persönlichkeitsrechte der Antragstellerinnen eingegriffen zu haben, wiegt für die Glaubwürdigkeit kirchlicher Weltanschauungsarbeit sehr schwer. Vor allem deshalb beschloss die Landeskirche, beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim Beschwerde gegen den Beschluss einzulegen. Die Antragstellerinnen legten danach ihrerseits Beschwerde ein.
Urteil in zweiter Instanz
Im März 2015 änderte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim auf die Beschwerde der Landeskirche hin die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Stuttgart und lehnte die Anträge der Antragstellerinnen auf Erlass einstweiliger Anordnungen insgesamt ab.
Die Äußerungen der Weltanschauungsbeauftragten griffen nach Auffassung des Gerichts nicht unverhältnismäßig in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Leiterin der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle und einer mit ihr in Kontakt stehenden Grundschulrektorin ein.
1. Es gebe „hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte“, die die Bezeichnung „Psychogruppe spezieller Prägung“ vonseiten der nicht zu weltanschaulicher Neutralität verpflichteten Weltanschauungsbeauftragten rechtfertigten. Die länger zurückliegenden Beratungsfälle von Hansjörg Hemminger könnten insofern berücksichtigt werde, als aktuellere Aussagen aus einer anderen Beratungsstelle und auch Einschätzungen der „Interministeriellen Arbeitsgruppe“ für Fragen sogenannter Sekten und Psychogruppen in dieselbe Richtung wiesen. Zudem zeigten die eigenen Angaben von Jutta Dierks, dass ihre Ausbildung und Tätigkeit sich außerhalb der fachlichen Psychologie bewege. Die von der landeskirchlichen Arbeitsstelle und von anderer Seite aufgezeigte Gruppenbildung um Jutta Dierks würde (ungewollt) bestätigt durch die Aussagen eines ihrer Anhänger, die in einem Zeitungsartikel vom Oktober 2014 zur Sprache kamen.
2. Die Aussagen, die die Dierks-Gruppe mit der Zürcher Schule und ihrer Ideologie in Verbindung bringen, seien ebenfalls nicht zu beanstanden: Die Werturteile über die Zürcher Schule stützten sich auf genügend Tatsachengrundlagen. Diese Äußerungen würden so mit der Tätigkeit von Jutta Dierks verknüpft, dass abschwächend nur von Hinweisen auf eine gleichartige Ausrichtung die Rede sei. Tatsächliche Hinweise auf eine ähnliche Ausrichtung hätten die Weltanschauungsbeauftragten aufgeführt. Auch die Beschwerden von Eltern und Lehrern an der betreffenden Schule, der Bericht der „Interministeriellen Arbeitsgruppe“, der Bericht aus einer anderen Beratungsstelle und nicht zuletzt wiederum die Eigendarstellung von Jutta Dierks zeigten, dass sie tatsächlich stark von der Züricher Schule beeinflusst sei. Insofern sei auch diese in erster Instanz einstweilen untersagte Äußerung zulässig.
Die Beschwerden der Antragstellerinnen, die auch die Äußerung der „Konfliktträchtigkeit“ der Gruppe um Dierks untersagt haben wollten, wurden als unbegründet zurückgewiesen. Die Gründe habe die erste Instanz, das Stuttgarter Verwaltungsgericht, zutreffend ausgeführt.
Unter beiden Beschlüssen, sowohl dem im Verfahren der Schulleiterin als auch dem im Verfahren der Leiterin der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle, jeweils gegen die Evangelische Landeskirche in Württemberg, steht: „Dieser Beschluss ist unanfechtbar“. Die Erleichterung darüber war groß. In der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen nahm man das Urteil am Ende einer sehr belastenden Zeit als Bestätigung auf, dass man mit der nötigen Sorgfalt recherchiert und informiert hatte.
Persönliche Bilanz oder: Was haben wir daraus gelernt?
1. Gerichtliche Auseinandersetzungen – selbst wenn es noch nicht einmal zum Hauptverfahren kommt – binden so viel Kraft und Zeit, dass man gute Gründe haben muss, sie zu riskieren. Erforderlich sind außerdem: klare Rückendeckung seitens der Kirchenleitung, kollegiale Unterstützung und im Äußerungsrecht versierte Anwälte.
2. Recht zu behalten und sich durch ein Urteil die Berechtigung der Einschätzung bestätigen zu lassen, ist m. E. kein hinreichender Grund, zumal wenn es sich wie hier um eine Gruppe von sehr begrenzter, nur regionaler Bedeutung handelt. Die Motivation, sich für eine Äußerung auf eine gerichtliche Auseinandersetzung einzulassen, geben uns die Menschen, die sich in einem Konflikt an uns gewandt haben und denen gegenüber wir zur Hilfe verpflichtet sind. Viele Seiten haben uns nahegelegt, teilweise auch gedrängt, die Kurzinformation zurückzuziehen oder zu relativieren. Wären wir auf dieses Ansinnen, auch der Schulbehörden, eingegangen, wären die betroffenen Eltern nicht nur in dem Konflikt endgültig unterlegen, sondern sie hätten zusätzlich als Lügner dagestanden.
3. Es ist nicht leicht, die (kleine) Bedeutung, die wirklichen Chancen und Risiken eines Verfahrens realistisch einzuschätzen angesichts der Wucht von Einschüchterungsversuchen, von umfangreichen Schriftsätzen, von Zeitungsartikeln und Leserbriefen. Demgegenüber war selbst das unerfreuliche Urteil der ersten Instanz „harmlos“.
4. Entgegen den Drohungen, mit denen weltanschaulich problematische Gruppen auf kritische Äußerungen reagieren, ist festzuhalten: Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut in unserem Land, und die Äußerungsrechte kirchlicher Weltanschauungsbeauftragter sind erfreulich weit gefasst. Selbstverständlich versuchen die von uns beobachteten Gruppen, diesen Rechten engere Grenzen zu setzen. Und genauso selbstverständlich ist es für uns Weltanschauungsbeauftragte, verantwortungsvoll mit diesem Recht umzugehen, indem wir uns in unserer Arbeit um größte „Sorgfalt, Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit“ (BGH-Urteil vom 20.2.2003) bemühen.
Annette Kick, 10.12.2015