Eine Blume für Zehra
Andreas Malessa: Eine Blume für Zehra, bene! Verlag, München 2019, 224 Seiten, 18,50 Euro.
Andreas Malessa kann erzählen, das hat er vielfach bewiesen. In diesem Buch erzählt er die Geschichte von zwei Menschen mit Migrationshintergrund, die Geschichte der türkischstämmigen, gläubigen Muslimin Zehra Tayanc, und von Michael Blume, der als Kind aus einer kirchenfernen Familie, ungetauft, aus der ehemaligen DDR nach Württemberg kam und dort evangelischer Christ wurde. (Wer meint, der Weg aus Sachsen-Anhalt auf die Fildern bei Stuttgart sei keine Migration, sollte noch einmal überlegen.) Was die Geschichte für die EZW interessant macht, ist, dass diese beiden Migranten seit 1997 verheiratet sind, sich viele Gedanken über die religiöse Erziehung ihrer drei Kinder gemacht haben und viel erlebt haben mit den Problemen und Erträgen ihrer Ehe. Sie haben einem Freund, Andreas Malessa, ihre Geschichte zur Publikation anvertraut, weil sie möchten, dass religionsverschiedene Paare, von denen viele bei ihnen anfragen, an ihren Erfahrungen teilhaben können. Michael Blume ist Religionswissenschaftler und selbst ein erfolgreicher Autor. „Islam in der Krise“, 3. Aufl. 2017, sei pars pro toto erwähnt. Aber er schreibt, wie er sagt, nur Sach- und Fachbücher.
Als Beamter im Staatsministerium Stuttgart übernahm Michael Blume 2014 die gefährliche und heikle Aufgabe, tausend sogenannte Kontingentflüchtlinge aus Syrien und dem Irak nach Baden-Württemberg zu holen: vom IS missbrauchte und gefolterte jesidische Mädchen und Frauen mit ihren Kindern. 14 Mal war er mit seinem Team im Irak, jedes Mal hatte die Familie zu Hause Angst um ihn. Eindrucksvoll ist der Bericht, wie der Hohe Rat der Jesiden (bzw. Eziden) in Lalisch dazu bewogen wurde, der Evakuierung der Frauen nach Deutschland zuzustimmen, sie zu segnen und sie nicht als Entehrte auszuschließen, was nach jesidischem Recht hätte geschehen müssen.1 Damit wurde ein wichtiger Schritt nicht nur zum inneren Frieden des Jesidentums, sondern auch zur Integration der Geflüchteten im Westen gemacht.
Durch den Kontrast zwischen der harmonischen deutsch-türkischen Familie in Stuttgart und den furchtbaren Gräueln des IS gewinnt die Erzählung eine unglaubliche Spannung. Michael Blume berichtet, wie er es kaum verkraften konnte, im Irak missbrauchten Mädchen im Alter seiner eigenen Tochter zu begegnen, mit ähnlich kindlicher Gestalt und doch aus einer grauenhaft anderen Welt. Für die eine, die behütete Tochter liebender Eltern, sind deren Religionen Tore in die Weite ihres jungen Lebens, durch die sie nach eigener Entscheidung gehen kann oder nicht. Für die andere, die junge Jesidin, hat die Religion ihrer Peiniger ein dämonisches Antlitz, in das sie zu schauen gezwungen wurde und das sie seither mit Angst und Schrecken quält. Eine der geretteten Frauen, Nadia Murad, wurde ebenso gequält, aber nicht gebrochen. Sie ist Trägerin des Friedensnobelpreises 2018 und dem Ehepaar Blume persönlich verbunden. Inzwischen ist Michael Blume Antisemitismusbeauftragter der baden-württembergischen Landesregierung (vgl. MD 6/2018, 224-227).
Das Buch enthält keine ausdrückliche Religionstheologie oder Religionssoziologie. Aber man braucht kein Islam- oder Religionsexperte zu sein, um viel darüber zu lernen, wie sich der türkische Islam ethisch und politisch wandelt, wenn er sich in die Welt des deutschen Bürgertums begibt: Man lasse sich von Zehra Blume berichten, deren Religionstheorie – wie sie sehr wohl weiß – unter Muslimen nicht allgemein zustimmungsfähig wäre. Was für intellektuelle und praktische Anpassungsleistungen Muslimen in Deutschland abgefordert werden und in welchem Ausmaß sie diese Leistungen erbringen, wird als Hintergrund ihrer Geschichte immer wieder deutlich. Auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft muss zur Integration beitragen, aber vergleichsweise – da wollen wir das Augenmaß nicht verlieren – doch viel weniger. Wer gut zuhört, wird künftig vorsichtig mit der Forderung werden, der europäische Islam solle Reformation und Aufklärung nach christlich-abendländischem Vorbild nachvollziehen. Was immer an Modernisierungsschritten sein muss, kann nur aus den eigenen religiösen Quellen gespeist werden. Die Geschichte der Familie Blume kann sogar umgekehrt Anlass zu der Frage geben, ob wir evangelischen Christen unsere eigene Reformation nicht immer wieder neu nachzuvollziehen haben. Malessa erzählt von snobistischen Schulmädchen, die eine junge Türkin aus einer Arbeiterfamilie mobbten, von progressiv gestimmten Lehrerinnen, die Druck auf sie und ihren deutschen Freund ausübten, aber auch von Franziskanerinnen, die eben diesem Schulmädchen in ihrem Privatgymnasium Wertschätzung entgegenbrachten, von seelsorgerlich handelnden Pfarrern, die ein kleines Kind gemeinsam mit einem muslimischen Geistlichen segneten, von anderen Pfarrern und deren Berührungsängsten, vom Versagen des Verfassungsschutzes und von Menschlichkeit in der Landespolitik.
Köstlich ist die Charakterisierung der pietistisch geprägten schwäbischen Pflegeeltern, bei denen Zehra Tayanc großenteils aufwuchs und mit denen sie in die evangelische Kirche ging. „Die einen beten so und die anderen so. Aber es gibt nur einen Vater im Himmel“ (Übersetzung aus dem Schwäbischen). Dass die rechtschaffenen Schwaben damit nicht auf der Seite frommer Sprachregler standen, die genau wissen, dass der Gott der Muslime ein anderer ist als der Gott der Christen, sei ihnen egal gewesen. Aber dass Zehras Freund und späterer Mann aus dem sieben Kilometer entfernten Sielmingen kam, machte der Pflegemutter Mühe. „Mädchen, ein Sielminger? Hast du keinen aus Plattenhardt gefunden?“ (Übersetzung aus dem Schwäbischen). So isch‘s ebbe au widder.
Man kann diesem Buch nur eine weite Verbreitung wünschen.
Hansjörg Hemminger, Baiersbronn
Anmerkungen
- Der weltliche Führer der Jesiden, Mir Tahsin Said Ali Beg, der an der Entscheidung großen Anteil hatte, starb im Januar 2019 mit 86 Jahren in Hannover (vgl. MD 3/2019, 108f).