Michael Raisch

Eine Kirche mit heidnischem Ursprung?

Die Ulrichskapelle in Standorf

Im fränkischen Teil Württembergs, malerisch auf einer Anhöhe über dem Ort Standorf bei Creglingen, steht die Ulrichskapelle. Der spätromanische Oktogonbau mit seinem achteckigen Grundriss wird 1429 zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Die äußeren Merkmale des ehrwürdigen Gebäudes lassen jedoch auf einen Bau im 13. Jahrhundert schließen. Die Kirche gehört der evangelischen Gemeinde Standorf/Oberndorf im Dekanat Weikersheim und Landkreis Tauberbischofsheim. Bis heute finden in ihr die Sonntagsgottesdienste der Gemeinde statt. Allerdings ranken sich um die alte Kapelle auch zahlreiche Geschichtslegenden, esoterische Spekulationen und neuheidnische Fantasien. Eine karge Quelle, die unterhalb der Kapelle am Hang entspringt, soll angeblich Heilkräfte haben. Am Beispiel von Ulrichskapelle und Ulrichsquelle lässt sich aufzeigen, wie eine christliche Kirche von Esoterik und Neuheidentum seit dem 19. Jahrhundert bis heute umgedeutet und in ein eigenes Denkmal oder einen eigenen Kraftort verwandelt wird. Waren es im 19. Jahrhundert okkultwissenschaftliche Bücher und rassistische Hetzschriften, kommuniziert das esoterische und neuheidnische Milieu heute vor allem im Internet.


Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert erlebte die Idee des „edlen Germanen“, die sich seit Auffindung der Germania des Tacitus im 15. Jahrhundert verbreitete, einen Höhepunkt. In Verbindung mit ihr stand die Suche Jacob Grimms nach einem Deutschen Heidentum, das vom Christentum überformt in Sagen, Märchen und anderem zu finden wäre. Das altertumskundliche Datierungsgefüge war damals durch Naturwissenschaft und Evolutionstheorie ins Wanken geraten. So bot es sich an, eine deutsche Frühgeschichte neu zu formulieren, die den nationalen Erwartungen der Zeit Rechnung trug. Dazu diente eine Rassenlehre, nach der die weiße Rasse an der Spitze der Hierarchie der Rassen stand. Ihre überlegene Kultur breitete sich angeblich von Norden in den Süden aus. In dieser Tradition stehen auch die deutsche Geomantie und manche ihrer Theoretiker bis heute. Ihre Vorstellung von einem ursprünglichen, die Zeiten – wenn auch in überformter Weise – überdauernden Heidentum mit seiner überlegenen Kultur und Religion soll anhand der Rolle der Ulrichskapelle in diesem Denken beispielhaft erläutert werden.

Entwicklung

Schon Karl Schumacher1 deutete, auf Anregung Erich Jungs, im Jahr 1925 Ulrichskapelle und Ulrichsbrunnen als eine heidnische Kultstätte. Doch erst der Rassist und Antisemit Erich Jung selbst verhalf mit seinem Werk dem nur regionalen Interesse an diesem Thema zum Sprung über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus.2 Erich Jung, dessen Schriften im Kontext seiner publizistischen und verleumderischen Tätigkeit im völkischen Lager verstanden werden müssen, ging davon aus, Reste eines vom Christentum verdrängten Heidentums an Kirchen finden zu können. In seinem Buch „Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit“ (erschienen 1922 und 1939 im J. F. Lehmann Verlag, der führend in der Literatur über die Rassentheorie war)3 ging Jung, unter Rückgriff auf Schumacher, davon aus, dass die Ulrichskapelle eine heidnische Kultstätte sei und durch einen Wallfahrtsweg mit den umliegenden „altgermanischen Kultstätten“ verbunden gewesen wäre. Auch der Ulrichsbrunnen neben der Kapelle sei einst viel verehrt worden. Als Beleg nennt er nur Sagen. Das genannte Buch Jungs wurde nach 1933 oft als Quelle hervorgehoben. Nach etwa fünf Jahren war es vergriffen.

1936 veröffentlichte Heinrich Himmlers Verein „Das Ahnenerbe e.V.“ ein Werk von Oskar von Zaborsky-Wahlstätten mit dem Titel „Urväter-Erbe in deutscher Volkskunst“. Darin wird Jungs Buch von 1922 „vielfach im einzelnen angeführt“. Werner Stief4 schrieb – publiziert im „Ahnenerbe“ – in der Nachfolge Jungs über die Gestaltung einer Grabplatte, die sich im Chor der Ulrichskapelle befindet, dass sie ein germanisches Radkreuz abbilde, das die Kirche in ein lateinisches Kreuz umwandelte. Rudolf Kuhn5 verwandelte die Mittelstütze der Ulrichskapelle in das „höchste religiöse Symbol“ unserer „germanischen Vorfahren“, den Weltenbaum, die Weltesche Yggdrasil oder Irminsul. Die Ulrichsquelle wird, unter Verweis auf Meerfräuleinsagen, zum Ort eines vorchristlichen Quellkults gemacht.

Auf Kuhn baute wiederum Manfred Schneider mit seinem Aufsatz „Uralte Quellheiligtümer“ auf.6 Nach Schneider wäre, unter Verweis auf Sagen und Wünschelrutengänger, die Ulrichskapelle ein ehemaliges Quellheiligtum. Die Mittelsäule erinnere an die germanische Weltensäule Irminsul, zu der der Brunnen Urd gehört. An diese Quelle soll es eine Wallfahrt gegeben haben. Der ehemalige Leiter der neuheidnischen und rechtsextremen „Artgemeinschaft“, Wieland Hopfner7, behauptete, dass „Ullr“ die vorchristliche Bezeichnung für den Gott Thor wäre. Auch er betont den vorchristlichen Quellenkult, zu dem die Irminsul gehört. Für ihn ist die „einzig originale Irminsul“ in der Ulrichskapelle erhalten geblieben. Das Symbol Irminsul bedeutet für die Artgemeinschaft eine Absage an das christliche Kreuz und Freiheit vom „bluttriefenen“ und mörderischen Christentum sowie die „biologische“ Zusammengehörigkeit und Reinhaltung der „Nordmenschen“. Dagegen schrieb Oskar Heckmann8 in seiner Dissertation, dass die eichene Säule lediglich eine Stütze der Dachkonstruktion sei. Die Platte im Chor sei eine Grabplatte mit einem eingemeißelten Kreuzstab. Vorgeschichtliche Funde, so Heckmann, wurden in der unmittelbaren Nähe der Kirche nicht gemacht. Heckmann lehnt die Behauptung Jungs vom „heidnischen Opferplatz“ ab, da er die Sage von den „Wasserfräulein“ nicht als Beleg anerkennt. Auch äußert er Zweifel an der Kontinuität des „Volksbewusstseins“ um „alemannische oder fränkische Opferplätze“.

Geomantie und die Ulrichskapelle

Der in Himmlers Ahnenerbe mitarbeitende Wilhelm Teudt9 verband die „germanischen Heiligtümer“ durch magische Linien auf einer Landkarte.10

Josef Heinsch11, noch heute ein Klassiker der Geomantie, veröffentlichte Aufsätze in der okkulten und rassistischen Zeitschrift „Hagal“, die von Heinrich Himmler mit bescheidenen Zuschüssen versehen wurde. Zu den Grundsätzen Heinschs gehört, dass sich Messungen aus prähistorischer Zeit in Kirchen erhalten haben und dass der Meter die Maßeinheit der Steinzeit war.

Ein Beispiel für die Tradierung völkischer Geomantie ist Wieland Hopfner. Er verband die einzelnen Orte im Taubertal durch eine Linie und erhielt so angeblich alle wichtigen germanischen Heiligtümer. Laut eines Rundbriefs12 der Homepage „www.Geomantie.org“ ist die Ulrichskapelle den Quellheiligtümern zuzuordnen. Sie sei der letzte Beweis für die Errichtung einer Irminsul an einem heiligen Platz. Ein weiterer „Hinweis auf eine alte Kultstätte ist der bei Grabungen um die Kirche gefundene Steinkreis“. Nur der asphaltierte Weg um die Kirche weise noch darauf hin. Außerdem sei das Turiner Grabtuch in der Kapelle gewesen, die von etwa tausend Pilgern täglich besucht worden sei. Auf derselben Internetseite13 wird außerdem behauptet, dass an der Wurzel des Weltenbaum- oder Irminsulheiligtums der „Urdsbrunnen“ entsprungen sei. Das Ergebnis ist, „dass Oktogonbauten, vermutlich auch viele der Rundbauten, vermehrt auf Weltenbaumheiligtümern erbaut wurden“.

Der evangelische Heimatforscher Kurt Wagner14 sammelte die Legenden um die Ulrichskapelle mit großem Fleiß, aber ohne eine kritische Sichtung. Nach ihm soll die Mittelsäule ein „keltisches Sonnenrad“ aufweisen. Unter ihr kreuzen sich angeblich drei Wasseradern, die als Ulrichsquelle zutage treten. Eine Wasserader führe vom Altar zur Säule, „eine Zweite kommt aus südlicher Richtung, dort soll einst eine keltische Fliehburg gewesen sein“. Da auf einen Kreuzungspunkt immer ein wichtiger Gegenstand gesetzt worden sei, stehe die Säule von Anfang an da. Das Wasser der Ulrichsquelle sei, so schreibt Wagner unter Berufung auf Radiästheten, besonders gut, denn im rechtsdrehenden Wasser könnten sich keine Bakterien halten.

Wagner behauptet, er hätte einen keltischen Steinkreis freigelegt. Laut Wagner suchten sich die Kelten Plätze mit besonders starker Strahlung, meist in der Nähe von Quellen, um dort zu siedeln, nachdem sie den Platz mit einem Steinkreis markiert hätten. Druiden sollen dort ihre Versammlungen abgehalten haben. Später seien aus diesen „Plätzen mit starken Kraftfeldern“ christliche Wallfahrtsorte geworden, die im Fall von Standorf bis zu tausend Besucher täglich hatten. In der sich im Altarraum befindenden Grabplatte will Wagner auf Anregung eines Geomanten ein Bauhüttenmaß für die Kapelle entschlüsselt haben. Des Weiteren sei die Kapelle eine „Nachbildung der Grabeskirche in Jerusalem“, und in ihr sei das Turiner Grabtuch aufbewahrt worden, eine der umstrittensten Reliquien der katholischen Kirche. Die Gedanken Jungs und seiner Nachfolger scheinen Wagner stark beeinflusst zu haben. Er greift immer wieder auf die Geomantie zurück, möglicherweise auch auf Josef Heinsch und dessen Meter. Die Geomanten verbreiten umgekehrt Wagners Thesen.

Schlussfolgerungen

Es finden sich neben denen der „Artgemeinschaft“ und „Geomantie.org“ weitere Internetseiten, die über das heidnische Heiligtum, Irminsul und die Wallfahrt informieren – oder besser desinformieren. Eine Regina berichtet im „Paganforum.de“ über die Thesen Wagners.15 Auf „Tagebuch-Oase.de“ berichtet ein Andreas999 über die Heilenergien der Ulrichsquelle.16 Die Fränkischen Nachrichten17 stellen mehrere entsprechende Artikel ins Netz. Neben verschiedenen Berichten18 finden sich derartige Ideen aber auch auf der Seite der Stadt Creglingen.19

Viele dieser Ideen stehen in einer unheilvollen Tradition deutscher Wissenschaft und Geistesgeschichte. In dieser Tradition wird das Auffinden eines Brunnens am Wallfahrtsort zur Notwendigkeit; eine Wallfahrt freilich, die auf ein heidnisch-germanisches Heiligtum zurückgeht. Dass eine solche Kontinuität von germanisch-heidnischen Kulten bis ins hohe Mittelalter aus wissenschaftlicher Sicht so gut wie ausgeschlossen ist, beeindruckt die esoterischen und neuheidnischen Gläubigen nicht.

Ihnen muss aufklärend und ideologiekritisch entgegengetreten werden. Die Ulrichskapelle war auch nie ein Wallfahrtsort. Die Steinplatte im Altarraum ist als Grabplatte zu deuten. Ebenso gibt es für einen Aufenthalt des Turiner Grabtuchs keinen Nachweis. Möglicherweise gibt es ein Interesse an der Tradierung nicht nur dieser Geschichtslegenden, sondern auch der esoterischen und neuheidnischen Ideen. Dünninger wies schon 1982 auf die touristische Attraktion für am Heidentum Interessierte bzw. für „Deutschtümler“ hin. In der Tat scheint Standorf für Neuheiden und Esoteriker inzwischen so etwas wie ein heiliger Ort zu sein. Nachdem es nie Wallfahrten dorthin gab, etabliert sich am Anfang des 21. Jahrhunderts also erstmals eine Wallfahrt, aber nicht zur christlichen Gebets- und Gottesdienststätte, sondern zu einem neuheidnischen Heiligtum. Daher wäre es unbedingt Aufgabe der Kirchengemeinde und der evangelischen Kirche insgesamt, dem durch Aufklärung entgegenzutreten.


Michael Raisch, Rothenburg o.d.T.


Nachtrag der Redaktion

Die Kirchengemeinde Standorf/Oberndorf hat inzwischen auf die esoterisch-neuheidnischen Aktivitäten reagiert und mit Beschluss vom 24.9.07 alle bisherigen Veröffentlichungen zurückgezogen. Sie wird sich an der Erstellung und Verteilung kritischer, aufklärender Informationen beteiligen.


Anmerkungen

1 Karl Schumacher, Siedlungs- und Kulturgeschichte der Rheinlande von der Urzeit bis ins Mittelalter, 1925.

2 Hans Dünninger, Romantik für Deutschtümler im Taubergau. Kulturkritische Aufklärung über Heilige und Dämonen oder lehrreiche Fragmente eines nachgelassenen Vortrags aus dem Jahre 1982, in: Bayerische Blätter für Volkskunde, hg. v. Wolfgang Brückner, Jg. 20, 1993.

3 Erich Jung, Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit, München 1922 und 1939.

4 Werner Stief, Heidnische Sinnbilder an christlichen Kirchen und auf Werken der Volkskunst. Deutsches Ahnenerbe, Leipzig 1938.

5 Rudolf Kuhn, St. Achatius zu Grünsfeldhausen, Würzburg 1964.

6 Manfred Schneider, In Kreuzwertheim durch das Jahr, Kreuzwertheim 1996.

7 http://asatru.de/nordzeit/index.php?option=com_content&task=view&id=215&Itemid=12

8 Oskar Heckmann, Romanische Achteckanlagen im Gebiet der mittleren Tauber, in: Freiburger Diözesan-Archiv, Bd. 68, Freiburg 1943.

9 Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS. 1935-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reichs, Stuttgart, 1974.

10 Ulrich Magin, Geheimwissenschaft Geomantie. Der Glaube an die magischen Kräfte der Erde, München 1996.

11 Nicholas Goodrick-Clarke, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Wiesbaden 2004.

12 www.geomantie.org/archiv/1999_04/pdf/04-1999-V_irminsul_.pdf

13 www.geomantie.org/archiv/2000_02/seite4.htm

14 Kurt Wagner, Die Ulrichskapelle in Standorf, Standorf o. J.

15 www.paganforum.de/kultstaetten-und-kraftorte/6831-nuernberg-wuerzburg.html

16 www.tagebuch-oase.de/entry.php?u=andreas999&e_id=847.

17 www.fnweb.de/archiv/2002/m12/28/me/rundschau/20021228_m050910003_35802.html; www.web.de/archiv/2003/m10/09/me/rundschau/20031009_F0B0821001_28103.htmlwww.fnweb.de/archiv/2002/m06/21/me/bad_mergentheim/20020621_1190954000_17102.html .

18 http://bzn.llns.de/?pageid=00011&mod=R&id=281www.schwaben-kultur.de/pdfs/2004-5.pdf; www.creglingen.de/downloads/ferienprogramm 2006.pdf

19 www.creglingen.de/uebuns/content/uebuns_con04c.htmlwww.weil-haltingen.de/sw/sw.shtml?lkr=tbb&ort=Creglingen.