Eine Nachlese zum Deutschen Evangelischen Kirchentag 2023
„We walk hand in hand“: Mit Spiritualität in den Widerstand
Die ethischen Verpflichtungen zu einer Kultur der Gewaltlosigkeit, Solidarität, Toleranz und Gleichberechtigung, wie sie 1993 die in Chicago verabschiedete Erklärung zum Weltethos in Erinnerung rief, haben auch dreißig Jahre später auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag (DEKT) in Nürnberg nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. Und sie lassen in einer Welt, die nach dem Ende der bipolaren Ordnung des Kalten Krieges seit nunmehr über drei Jahrzehnten unentwegt von Krisen und Kriegen heimgesucht wird, die Frage nach der Rolle und den Ressourcen von Religionen und Weltanschauungen als Brandbeschleuniger oder Friedensstifter virulent werden. Es war daher nur selbstverständlich, dass sich auch die auf dem DEKT veranstalteten interreligiösen Foren diesem wichtigen Thema widmen. Was die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen dies erfolgte, miteinander verbindet, ist die Zentralität von Spiritualität als ein die Angehörigen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen bestimmendes sowie ihre interreligiöse Kommunikation fundierendes Moment. Exemplarisch aufgezeigt werden soll dies in einem schlaglichtartigen Blick auf ausgewählte Veranstaltungen des „Zentrums Christen und Muslime“, die allesamt mehr oder weniger eine Antwort auf die Frage zu geben versuchten, in welchem Maße die Religionen die seit dem zweiten Weltkrieg zumindest in der westlichen Hemisphäre bestehende, zuletzt aber schwer in Mitleidenschaft gezogene Friedensordnung stärken bzw. zu deren Wiederherstellung mit beitragen können. Um die dabei vorgetragenen Gedanken für sich sprechen zu lassen, soll hier auf eine Nennung der beteiligten Akteure selbst, sofern nicht unbedingt erforderlich, verzichtet werden.
Friedenspotenziale und Gewaltprävention
Auf einem musikalisch mit der (auf dem Horn vorgetragenen) Melodie zu „We shall overcome“ eingeleiteten Workshop zu „Krieg und Frieden. Religionen als Risiko oder Ressource?“ unterstrich ein Nürnberger Rabbiner die Notwendigkeit, grundlegend zwischen den Religionen selbst und dem, was Menschen daraus machen, zu unterscheiden und religiösen Spannungen mit einem gemeinsamen „Shalom-Bestreben“ zu begegnen. Es gelte, Schritt für Schritt „Inseln der Menschlichkeit“ zu schaffen, diese zusammenzuführen und so die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Dazu bedürfe es allerdings, so die Präsidentin von „Religionen für den Frieden Deutschland“, der Anstrengung, das bislang viel zu wenig geförderte Friedenspotential der Religionen theologisch zu heben, die religiös fundierten Friedensauffassungen zusammenzuführen und daraus etwas Größeres entstehen zu lassen: ein „Gefühl von Verbundensein, von connectedness“, das Angehörige unterschiedlicher Religionen auf einer spirituellen Ebene miteinander verbindet und das ihnen hilft, überkommenen Vorurteilen und Feindbildern entgegenzutreten. Eine grundständige, akademisch ausgerichtete Ausbildung zur interreligiösen Mediation müsse den Schatz von Bildern und Vorstellungen zum Frieden heben, der den Religionen zu eigen ist, einen Perspektivenwechsel hin zu Religion als Ressource vollziehen und „das Friedenspotential der Religionen als gemeinsames Potential“ stark machen. Die Weltkonferenz von „Religions for Peace“ 2019 habe ein gemeinsames Ziel und Interesse, aber auch die Einsicht spürbar werden lassen, dass sich die „globale Megakrise“, mit der sich die Welt konfrontiert sieht (Kriege, Klima- und Energiekrise, Polarisierung usw.), nur gemeinsam in den Griff bekommen lässt.
Was den Islam betrifft, so eine muslimische Religionspädagogin, hätten allerdings fundamentalistische Lesarten der islamischen Tradition das „große Friedenspotential“ dieser Religion in der öffentlichen Wahrnehmung aus dem Blick geraten lassen. Es bedürfe daher umso mehr eines „neuen Zugangs zum Koran aus dem Hier und Heute“, in dem sich die Muslime dazu herausgefordert sehen, die von der Gesellschaft wie von der Tradition vorgegebenen Themen „nochmals ganz neu durchzubuchstabieren“. Während indessen der Islam in der Verteidigung des Glaubens Gewaltanwendung nicht kategorisch ausschließen möchte, erlaube der Buddhismus, wie die Vertreterin der Deutschen Buddhistischen Union erklärte, nur gewaltpräventives Handeln. Dies folge aus zwei zentralen Prinzipien der Lehre des Buddha, den Prinzipien derGewaltlosigkeit (ahimsa) und des „Entstehens in Abhängigkeit“ (pratityasamutpada). Wo sich buddhistische Mönche an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligten, träten sie, unter Inkaufnahme des damit verbundenen schlechten Karmas, explizit von ihrem ahimsa-Gelübde zurück. Zum „ganzheitlichen“ Ansatz des Buddhismus gehöre zudem die Einsicht, dass sich Konflikte „in Abhängigkeit“, also prozessual entwickeln, eine jeweilige Vorgeschichte haben und somit nie nur die Schuld eines Einzigen sind. Es sei wichtig, in der jeweiligen Vorgeschichte den eigenen Anteil an der Zuspitzung des Konflikts zu erkennen, zu „handeln, bevor es knallt“, und dabei immer die Vision vom Frieden aufrechtzuerhalten. Die Expertise deutscher Buddhisten in Antiaggressionstrainings werde nun vermehrt auch in der säkularen Präventionsarbeit (Haftanstalten usw.) angefragt, die mit Achtsamkeitsschulungen Menschen dabei unterstützt, Distanz zu traumatischen Ereignissen und konfliktträchtigen Themen zu gewinnen.
Solidarisches Handeln in Kriegs- und Krisenzeiten
Die mit einem Video eingespielte muslimische Generalsekretärin von „Religions for Peace“ ließ mit der auf der Vollversammlung des ÖRK ausgesprochenen Einladung an die Christen aufhorchen, sich angesichts der Inklusivität der Liebe Christi nicht nur der Überwindung innerchristlicher Spannungen, sondern – in dezidiert multireligiöser Perspektive – auch derjenigen zwischen den verschiedenen Glaubensgemeinschaften und -institutionen zu widmen. Der ÖRK könne so – gerade jetzt in Kriegs- und Krisenzeiten und in Abgrenzung zu exklusivierenden und polarisierenden Tendenzen – ein Zeugnis dafür geben, was „actions in solidarity regardless of faith differences“ zu bewirken vermögen. Um diesem Zeugnis bereits symbolisch Ausdruck zu geben, fassten sich alle Teilnehmenden im Saal an den Händen und sangen, begleitet von den Klängen des Horns, „We walk hand in hand“. Damit kamen sie auch dem zur Eröffnung des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentages vom Bundespräsidenten geäußerten Wunsch nach, „dass einer des anderen Last tragen muss, dass wir den Ausgleich und die Solidarität brauchen“ und dass gerade dann, wenn „die gelebte Solidarität bröckelt“, die „Gesellschaft wieder zusammenkommen“, ja, angesichts des Epochenbruchs „neu denken“ und „neu handeln“ muss: Als „die größte Herausforderung, vor der wir stehen“, erweise es sich dabei, „die Schöpfung zu bewahren“ und „die Folgen des Klimawandels abzumildern, um unseren Kindern und Enkeln einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen“ (epd-Dokumentation 27/2023, 11).
Engagement und Mystik
Worin aber liegen die Ressourcen dafür, diesen immensen Herausforderungen in Solidarität mit allen Mitmenschen zu begegnen? Ein ebenfalls vom „Zentrum Christen und Muslime“ veranstaltetes Podium sah die Antwort darauf in der „friedensfördernden Kraft christlicher und islamischer Mystik“ (so auch der Titel der Veranstaltung). Mit dieser Kraft im Rücken ließen sich, so die das Podium moderierende evangelische Pfarrerin, „Konzepte und Rituale der Stärkung“ entwickeln, die den „Brückenschlag zwischen Engagement und Mystik“ konkret und das „spirituelle Moment“ einer gemeinsamen „Regenerationskultur“ sichtbar werden lassen. Ein Bruder aus der Communauté de Taizé verwies auf die Notwendigkeit eines „neuen Bewusstseins für die Wahrnehmung von Spiritualität“, um „die Vision von dieser Welt zu verändern“ und „von einer Kultur des Ichs zu einer Kultur des Wir zu schreiten“. Dafür müsse bereits in der Schule den Kindern der Gebrauch besitzanzeigender Fürwörter im Plural („unser Land, unsere Stadt“) anstatt im Singular nahegebracht werden. Ein Lehrmeister des sufischen Alawiyya-Darqawiyya-Shadhiliyya-Ordens machte mit Verweis auf die islamische Kalligraphie auf das „Prinzip der Einheit“ aufmerksam, auf das alle Menschen („aus einer einzigen Zelle gebildet“) zurückgehen. Wie ein jeder Buchstabe des arabischen Alphabets mit einem winzigen Punkt beginnt und sich zu einem Strich ausweitet, gingen auch alle Geschöpfe und alle Sprachen auf einen einzigen Punkt zurück: auf jene göttliche Präsenz, die uns im Ein- und Ausatmen erkennen lasse, dass wir „im göttlichen Prinzip alle eins“ und zugleich „Gottes“ sind. Eine Vertreterin des Sufi-Zentrums Rabbaniyya, selbst Gründungsmitglied von „GreenFaith“, erinnerte an das miteinander verbindende menschliche Bedürfnis nach „Licht und Wärme“ und zugleich an das vom islamischen Mystiker Rūmī besungene „schöpferische Licht“, das alle glaubenden Menschen anziehe und, wie in „GreenFaith“, an einem gemeinsamen Ziel, dem Erhalt dieser Welt, arbeiten lasse: „Wenn wir gemeinsam beten, lauter beten, wird Allah auch besser hören!“
Spiritualität und Politik
Einem in der Kunst- und Kulturarbeit tätigen evangelischen Pfarrer zufolge steht solcher Gemeinsamkeit der Umstand entgegen, dass wir „noch nicht aus der alten Gesellschaft raus“, „mit 1968 noch nicht fertig“ sind und „die neue Gesellschaft noch nicht realisiert“ haben: Weil „die politischen und die spirituellen Gruppen noch separiert agieren“, sei es angezeigt, in einem „offenen Handeln“ eine gesellschaftliche Ordnung zu entwerfen, in der „wir beide Linien zu spielen lernen: Spiritualität und Politik“. Die Moderatorin nahm diesen Impuls auf und lud das Podium mitsamt Plenum dazu ein, sich gemeinsam auf den Weg zu machen und, bewegt von Kooperation und Wir-Gefühl, „mit der Spiritualität in den Widerstand“ zu gehen. Die Aufforderung „zur Mitarbeit an einer gerechten Zukunft“ hatte bereits die im Eröffnungsgottesdienst gehaltene Predigt „Es ist höchste Zeit“ ausgesprochen und „alle Generationen, Mütter, Väter, Großmütter, Großväter und alle, die für ihre Kinder sorgen“, dazu eingeladen „mitzukämpfen“: „Für unsere Kinder! Sie sollen leben, gut leben, reine Luft atmen, klares Wasser trinken, sich an Schmetterlingen freuen“; werde doch Gerechtigkeit daran gemessen, „ob alle Menschen, auch die Schwächsten, in Würde leben können – und zwar überall auf der Welt!“ (epd-Dokumentation 27/2023, 5). Davon, dass es „ohne Gerechtigkeit“ auch „keine Liebe“ geben könne, war auch der im Schlussgottesdienst auftretende Pastor überzeugt, der in Anknüpfung an das Kirchentagsmotto „Jetzt ist die Zeit!“ (angelehnt an Mk 1,15) „zu mutigen Entscheidungen, die wirklich Veränderung bewirken“, aufrief und die Zeit dazu gekommen sah zu sagen: „Gott ist queer, wir lassen niemanden sterben, wir schicken ein Schiff, wir empfangen Menschen in sicheren Häfen. Safe spaces for all“ (ebd., 13f.).
Hidjab und Regenbogen
Dass Gott queer ist und solidarisches Handeln ermöglicht, darüber bestand auch in einer der größten Veranstaltungen des „Zentrums Christen und Muslime“ Konsens, in einer im großen Saal des Messezentrums stattfindenden Podiumsdiskussion zu „Hidjab und Regenbogen. Warum Gender und sexuelle Vielfalt uns alle angehen“. Man war sich dort auch darin einig, dass mittlerweile im christlichen Raum die Positionierung zur Frage sexueller Vielfalt jeweils identitätsstiftende Bedeutung (identity marker) gewonnen habe. Waren es früher vorwiegend theologische Themen, die das Potential zur Polarisierung hatten, seien es heute die sich als „die neue Theologie“ erweisenden (sexual-)ethischen Fragen. Gleichwohl lasse sich jenseits der zutiefst unterschiedlichen Positionen, welche die christlichen Kirchen und Gemeinschaften dazu einnehmen, eine gemeinsame, sich unabhängig von der Lehrmeinung durchziehende Grundüberzeugung ablesen: die von der Mündigkeit und der Selbstbestimmung des Einzelnen. Aus islamischer Sicht dürfe dabei, so ein muslimischer Theologe, bei aller traditionellen Konzentration auf den Koran nicht vergessen werden, dass alle allein das Verhältnis zu Gott oder den eigenen Schaden betreffenden menschlichen Sünden „allein dem Urteil Gottes, nicht aber dem der Menschen obliegen“. Denn nach einem „Prinzip des Koran“, der keinen entlastenden Mittler kenne, sei eben „ein jeder Mensch für seine Handlungen selbst verantwortlich“. Zudem werde die Thematik Homosexualität im Koran nicht explizit angesprochen, so dass sich dazu auch kein religiöses Rechtsurteil erheben lasse. Schließlich liefere, „der wichtigste Punkt“, die islamische Mystik eine „große theoretische Basis für eine Theologie, in der das Geschlecht keine Rolle spielt“: Dem muslimischen Mystiker Ibn ʿArabī zufolge seien das Frau-, Mann- oder Dazwischen-Sein „keine substantielle Wirklichkeit, keine Grundlage der Menschheit“, sondern „nur Akzidenzien“.
Queere Allianzen und Barmherzigkeit
Für die evangelische Kirche verwies eine Professorin für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie zunächst auf die Differenz von Körperlichkeit und sexueller Vielfalt, dann aber auch auf die Geschichte kolonialer Mission, zweier Weltkriege und der Shoa, die als eine singuläre Schuld- und Gewaltgeschichte die christlichen Kirchen in Deutschland in eine besondere Verantwortung stelle. Gegen aus dem 19. Jahrhundert auf die Bibel projizierte Konzepte („Homosexualität“ u. a.) gelte es, die Zeitbedingtheit biblischer Aussagen in den Blick zu nehmen, befreiungstheologisch vorzugehen und dabei zu fragen, wie sich „menschengemachte Unterdrückungen überwinden, Befreiung schaffen und wieder Leben, nefesh, Atem ins Haus hineinbringen“ lässt. Gelingen könne dies nur mit der Idee des sogenannten „dritten Raumes“: eines Raumes, in dem gesellschaftliche und theologische Fragen neu ausgehandelt werden, alle Beteiligten „sich berühren und zugleich verändern lassen“ und „postmigrantische Identitäten“ gewinnen. Hoffnung auf eine Zukunft, in der Menschen jenseits von binären Kategorien schlicht als Menschen gesehen werden, erwachse daraus, dass es quer zu den Religionen Allianzen gebe und sich unterdessen – als „Gegenpol“ zu den überkommenen Vorstellungen von Geschlechtlichkeit – eine „regenbogenqueere Community weltweit durch alle Religionen“ formiere. Biblische Erzählungen über gleichgeschlechtliche Anziehung und innige Freundschaft, zum Beispiel zwischen David und Jonathan oder Naomi und Ruth, bezeugten, dass sich die Bibel queer lesen lasse, dass Gott selbst queer sei und überhaupt alle unsere Vorstellungen transzendiere.
Ein Projektleiter der Anlaufstelle „Islam und Diversity“ an der 2017 von liberalen Muslimen gegründeten Ibn-Rušd-Moschee in Berlin hob hervor, dass selbige daher auch keine Geschlechtertrennung kenne und, ausgehend vom koranischen Auftrag, „die Barmherzigkeit und Güte Allahs“ zu vermitteln, auch LGBTQ-Muslime aktiv mit in die Gemeinde einbeziehe. Entgegen der in traditionellen Gemeinden üblichen Praxis, das Individualinteresse dem Kollektivinteresse der Gemeinde unterzuordnen, setze die Berliner Moschee auf Toleranz. Auf die gelegentlich gegen die Gemeinde gerichteten Hassreden reagiere sie mit dem Slogan „Liebe ist halal (erlaubt), euer Hass ist haram (verwerflich)“. Und in der Interpretation des Koran unterscheide sie zwischen Aspekten, die dem historischen Wandel unterliegen, und einer ahistorischen, universal gültigen Kernbotschaft von der Barmherzigkeit und Liebe Gottes. Weil aber „die schwarze, mit dem Bild eines zornigen Gottes verbundene Angstpädagogik“, in der viele Muslime aufwüchsen, kein islamspezifisches, sondern ein alle Religionen betreffendes Problem sei, müsse man sich darum bemühen, gemeinsam „ein theologisches Gegengewicht“ zu setzen und der Barmherzigkeit Gottes eine stärkere Rolle in der Theologie zu geben. Im Koran begönnen ja ohnehin fast alle (113 von 114) Suren mit dem „barmherzigen Allerbarmer“.
Menschsein und die Kettenreaktion des Guten
Davon, dass Gott allbarmherzig ist und der Glaube an ihn Menschen helfen kann, alle ideologischen Gräben zwischen ihnen zu überwinden, waren auch die Veranstalter des „Zeltes der Religionen“ überzeugt. Sie hatten zu einem Dialogimpuls über das Thema Menschsein eingeladen, dessen Ziel es war, auf der Grundlage des Scriptural Reasoning, eines stärker assoziativ als reflektiv angelegten Zugangs zu den Heiligen Schriften der Religionen, „die spirituelle Erfahrung des Gemeinsamen“ zu ermöglichen und im lauten Lesen der Heiligen Texte deren „Resonanzen“ und Gemeinsamkeiten zu erspüren. Auf die Rezitation eines Gedichts des anatolischen Mystikers Bektaş Veli zum „Universum als Gestalt Gottes“ durch eine Alevitin folgte der Vortrag einer nahezu gleichlautenden, den Kosmos als wohlgeordnete Schöpfung preisenden Weisheit Baha’ullahs durch einen Vertreter der Bahá‘í-Religion. Im Anschluss daran erklang aus dem Mischna-Traktat Sanhedrin die auch im Koran begegnende Weisheit, dass „ein jeder, der ein Leben zerstört, so ist, als hätte er die ganze Welt zerstört“, aus dem Neuen Testament ein Abschnitt aus den Seligpreisungen und aus der islamischen Tradition ein Ausspruch Muhammads, dem zufolge „der beste unter den Menschen derjenige ist, der seinen Mitmenschen am glücklichsten macht“. Abgeschlossen wurden die Schriftrezitationen mit einem gemeinsamen Bekenntnis der Veranstalter, in einer in Ost und West eingeteilten, auf Unterwerfung zielenden Welt Menschen sein zu wollen, „die sprechen statt brechen“, die „die Welt heilen statt teilen“. Die verlesenen Texte hätten „Gemeinsamkeiten“ und „hinter den verschiedenen Körpern den einen Geist“ entdecken lassen, ja ein Gefühl des Befreitseins, das eine „Kettenreaktion des Guten“ ermögliche: Dazu gehöre auch, vom „Nebeneinander der Religionen zum Miteinander“ zu kommen und sich dabei von „missionierenden Evangelikalen“ nicht „auseinandersortieren“ zu lassen. Sei es „nicht irre“, so ein Teilnehmer, „im Angesicht von antimuslimischem Rassismus und Islamophobie noch die Grenzen zu betonen?“
Überdeutlich zeigte sich bei allen interreligiösen Podien und Gesprächsveranstaltungen des Zentrums das verbindende Bestreben, den gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen, Ähnliche Motive waren schon beim ersten Weltparlament der Religionen von 1893 leitend („to unite all religion against all irreligion“).
In Nürnberg ließ sich nun eine zunehmende Individualisierung des Spiritualitätsbegriffs beobachten, die auch religionsdistanzierte Existenzbestimmungen mit einschließt und sich der bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts im außerkirchlichen Bereich vollziehenden Extension des ursprünglich christlich konnotierten Vorstellungskomplexes verdankt: „Spiritualität“ fungiert gewissermaßen als frei flottierender Signifikant, der hervorragend geeignet ist, in einer konfliktbeladenen Welt wie der gegenwärtigen etwas Verbindendes zu imaginieren und mit diesem Verbindenden zugleich den eigenen Widerstand gegen die Verhältnisse zu legitimieren. In welcher Form das geschieht und was der Begriff im gelebten Alltag für jeden Einzelnen konkret bedeutet, scheint vor diesem Hintergrund nur noch von zweitrangigem Interesse.
Rüdiger Braun, Berlin
Viel Papier … und wenig Neues: missionarische Flugschriften
Evangelische Kirchentage sind Feste des Glaubens und des Lebens. Zehntausende haben sich auch dieses Jahr wieder auf den Weg gemacht, um in Nürnberg Gottesdienste zu feiern, Vorträge zu hören, in Workshops über religiöse, ethische und politische Themen zu diskutieren, über neue Formen der Glaubenskommunikation nachzudenken und auf dem „Markt der Möglichkeiten“ die Vielfalt kirchlicher, gesellschaftlicher und politischer Angebote kennenzulernen.
Doch wie bei früheren Kirchentagen waren in Nürnberg auch jene zugegen, die ihre ganz eigene missionarisch-evangelistische Agenda verfolgen, die als Christen mit dem in der Ökumene geteilten Glauben fremdeln, aber auch Konfessionslose, die Religion gänzlich aus dem gesellschaftlich-politischen Leben herausdrängen wollen. Organisationen wie Einzelaktivisten verteilten in der Innenstadt wie am Messegelände Bücher, Broschüren und Flyer in erheblichem Umfang. So durfte der Autor dieses Beitrags mit einem gut gefüllten Koffer den Heimweg aus Nürnberg antreten und zurückgekehrt Unterschiedlichstes in aller Ruhe bestaunen. Der erste Eindruck: Bis auf wenige Ausnahmen wiesen die gesammelten Materialien keinen Bezug zu gegenwärtigen Themen und Herausforderungen auf; vieles wurde in gleicher Gestaltung schon bei früheren Kirchentagen, bisweilen schon während der 1990er Jahre verteilt.
Evangelistisch-missionarisch Engagierte
Größtenteils auf Privatinitiative dürfte die Verteilung einer Vielzahl von Flyern und Broschüren zurückgehen, die evangelistisch-missionarisch ausgerichtete Schriftenmissionen erstellt haben.
Das „Missionswerk Werner Heukelbach“ kann die Frage „Wer ist Jesus?“ klar und zweifelsfrei beantworten. Die Initiative „Verbreitung der Heiligen Schrift“ bietet an, die Frage „Christsein. Was bedeutet das eigentlich?“ durch die unentgeltliche Zusendung einer Bibel und weiteren Informationsmaterials beantworten zu lassen. Das weltweite Literaturprojekt „Giving Light to Our World“ (G.L.O.W.) tat kund, die biblische Botschaft wahrheitstreu und einfach zu teilen. In einem der G.L.O.W.-Flyer mit dem Titel „Das Ende der Welt?“ wird festgestellt, dass es im Blick auf Prophezeiungen „noch nie ein verlässlicheres Buch als die Bibel“ gegeben habe.
Als eine der wenigen Initiativen greift die „Lukas-Schriftenmission“ mit dem Flyer „Ich war homosexuell, dann transsexuell … und jetzt?“ aktuelle gesellschaftspolitische und innerkirchliche Debatten auf. In einer als „authentisches Zeugnis“ von einer Betroffenen verfassten Lebensbeschreibung wird die Rückbesinnung auf die göttliche Schöpfungsordnung mit der Rückkehr in eine ursprünglich gottgewollte sexuelle Orientierung als beispielhafter Erlösungs- und Befreiungsweg charakterisiert.
Eine weitere Broschüre („Eine Schatztruhe vom Himmel“) richtet sich vor allem an arabisch- bzw. türkischsprachige Menschen und stellt synoptisch einige als zentral angesehene biblische Texte nebeneinander. Der Initiative „Waters of Life“ (Tübingen), die diese Broschüre herausgibt, geht es ausweislich ihrer Homepage mit Bibelzitaten vor allem in Sprachen aus dem vorder-, mittel- und fernasiatischen Raum darum, „Meditationen über biblische Texte in Form von Bibelstudienkursen und Büchern zu speziellen biblischen Themen“ zu präsentieren.1
Konzentrieren sich die bisher genannten Organisationen ausschließlich auf die Schriftenmission, steht hinter dem verteilten Leporello „Was ist der Sinn deines Lebens?“ das kleine Fürther Missionswerk „Gerettet um zu retten“. Es bietet neben der Schriftenverbreitung und regelmäßigen evangelistischen Aktivitäten auch die Möglichkeit an, sich einer Wohngemeinschaft anzuschließen und sich bei kooperierenden, namentlich nicht genannten Missionswerken zum Missionar ausbilden zu lassen. Missionseinsätze könnten dann nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auch im Mittleren Osten erfolgen. Zum Einsatz im letztgenannten Gebiet sollten sich allerdings „nur […] Erfahrene und Unerschrockene“ berufen fühlen.2
Eher dem traditionellen landeskirchlichen Spektrum ist zum einen die Verteilung des Büchleins Jesus unser Schicksal aus der Feder des Predigers und Mitglieds der Bekennenden Kirche Wilhelm Busch (1897–1966) zuzuordnen. In diesem Spektrum ist zum anderen auch die Weitergabe des Kleinen Katechismus samt den Erklärungen von Martin Luther zu verorten, erstmals zum Lutherjubiläum 1983 in einem Hamburger Selbstverlag erschienen.
Etwas aus der Reihe fällt ein kleiner Briefumschlag, dem neben dem evangelistischen Büchlein Ist Gott tot? (2009 von Soulbooks veröffentlicht) ein Interview des Deutschlandfunks aus dem Jahr 2019 beigefügt war. Darin erhob der Journalist Thomas Klatt den Vorwurf, die Protestanten hätten sich bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in den evangelischen Kirchen „neun Jahre lang im medialen Windschatten der katholischen Skandale ausgeruht.“3 Auch bei längerem Nachdenken hat sich dem Autor nicht erschlossen, warum Büchlein und Interview in einem Umschlag verteilt wurden.
„Zwölf Stämme“ auf Kurztrip nach Nürnberg
Auch Anhänger:innen der 1972 in Tennessee gegründeten Glaubensgemeinschaft „Zwölf Stämme“4 war der Weg aus Tschechien nach Nürnberg nicht zu weit. Auf dem Weg zum Haupteingang des Nürnberger Messegeländes wurden den Kirchentagsteilnehmer:innen farbenfrohe Flyer in die Hand gedrückt. Bunte Bilder einer idyllisch, fröhlich tanzend und einträchtig zusammenlebenden urchristlichen Gemeinschaft sollen neugierig machen auf ein erfülltes und christliches Leben, in dem alle Mitglieder wie in einem Bienenstock arbeitsam und auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sind („a life like a beehive“).
Zwischen 2013 und 2016 hatte es drastische staatliche Maßnahmen gegen Mitglieder dieser Gemeinschaft gegeben. Neben der Schließung einer von den „Zwölf Stämmen“ eingerichteten Privatschule wurden viele Kinder der Gemeinschaft durch staatliche Stellen in Obhut genommen; zudem wurden mehrere Mitglieder wegen gefährlicher Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen zu Haftstrafen verurteilt. Die Rechtmäßigkeit der staatlichen und juristischen Maßnahmen gegen die Gemeinschaft und einzelne Mitglieder wurde in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes von 2018 bestätigt. Bereits 2016 entzog sich die Gemeinschaft der Kontrolle deutscher Behörden und weiterer Strafverfolgung und siedelte nach Tschechien um, wo die körperliche Bestrafung von Kindern nicht grundsätzlich untersagt ist. Dort leben die Mitglieder der Gemeinschaft seither an zwei Orten (Skalná und Žehrovice) in Haus- und Hofgemeinschaften. Angesichts der in Deutschland gerichtlich festgestellten körperlichen Züchtigung auch von Kleinkindern wirkt die auf einem in Nürnberg verteilten Flyer ausgesprochene Einladung doch recht zynisch: „Wir schreiben dieses Flugblatt mit dem Wunsch, dass all jene, die mit dem Leben unzufrieden sind, einen Ort der Zuflucht haben – also alle, die leiden und allein sind und sich nach etwas Wahrhaftigem sehnen“ (Übersetzung J. P.).
Wenig erstaunliche Entdeckungen am Rande des Adventismus
Mit großem Engagement wurden an Veranstaltungsorten und in der Nürnberger Innenstadt adventistische Schriften und Flugblätter verteilt. Dies geschah allerdings weder im Auftrag noch im Einvernehmen mit der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland, die seit 1993 als Gastmitglied der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen angehört und mit einem eigenen Stand auf dem „Markt der Möglichkeiten“ vertreten war und sich auch beim „Abend der Begegnung“ am Kirchentag beteiligte.
Hinter den Verteilaktionen standen meist adventistische Splittergruppen, die den vor drei Dekaden vollzogenen Weg der ökumenischen Öffnung der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten grundsätzlich ablehnen. Dazu gehören das „Adventistische Missionswerk Elia e. V.“ (vermutlich identisch mit dem „Missionshaus Hahnenhof“), die „Missionsgesellschaft zur Erhaltung und Förderung adventistischen Glaubensgutes e. V.“ (MEFAG), das „Missionswerk Historischer Adventisten e. V.“ (MHA) und der der MHA verbundene Verlag Gihon-Publishing. Diese Werke und Gesellschaften verteilen teils schon seit Jahrzehnten inhaltlich und gestalterisch unveränderte Flugblätter. Sie geben zugleich unentgeltlich unter erheblichem finanziellen Aufwand Schriften aus seriösen adventistischen Verlagen (Advent-Verlag und Top-Life-Verlag, Schweiz und Österreich) ab. Neben Broschüren lagen insbesondere zwei Grundlagenwerke von Ellen G. White, der Mitbegründerin der Siebenten-Tags-Adventisten, in hoher Anzahl zur Mitnahme aus: Vom Schatten zum Licht (besser bekannt als Der große Kampf) und Der Sieg der Liebe.
Ebenfalls aus dem adventistischen Umfeld wurden Werbeschriften sogenannter „selbstunterhaltender Missionswerke“ verteilt, die sich der Privatinitiative einzelner Adventisten verdanken. Hier sind vor allem „Memento Medien e. V.“, „Windor Medien e. V.“ und „Amazing Discoveries“ zu nennen. „Amazing Discoveries“ eng verbunden ist Walter Veith, dem 2012 von der deutschen Kirchenleitung der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten aufgrund erheblicher theologischer Differenzen und verschwörungsideologischer Vorstellungen untersagt wurde, im Namen der Freikirche bzw. in deren Räumen aufzutreten. „Amazing Discoveries“ und der dieser Vereinigung assoziierte Internetkanal „dasWort.tv“ bewarb während des Kirchentags mit kleinen Karten Vorträge des US-amerikanischen Mediziners Peter McCullough. Medienberichten zufolge hat McCullough seit Beginn der Corona-Pandemie 2020 Fehlinformationen zum Virus, zu Medikationen und zu Impffolgewirkungen sowie verschwörungsideologische Vorstellungen hinsichtlich vermeintlicher Ursachen der Pandemie verbreitet.5
Die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland wird wohl auch weiterhin damit leben müssen, dass Einzelne oder auch Splittergruppen die öffentliche Wahrnehmung des Adventismus in einer Weise beeinflussen, die der jahrzehntelangen ökumenischen Öffnung nicht Rechnung trägt.
Unermüdliche Atheisten
Aber auch eine Initiative aus dem Spektrum des Verbandsatheismus machte dem Kirchentag ihre Aufwartung. Die Aktionsgruppe „11. Gebot“ der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) präsentierte sich (nach juristischen Auseinandersetzungen um den Standort) während des gesamten Kirchentags in der Nürnberger Altstadt mit überlebensgroßen Plastiken von Mose und einem nackten Martin Luther.
Mit der Mose-Figur, die eine Tafel mit einem „11. Gebot: Du sollst deinen Kirchentag selbst bezahlen!“ in der Hand hielt, wurde gegen die finanzielle Unterstützung des Kirchentags durch Kommune, Land und Bund protestiert. Und mit der Luther-Figur und einem beigefügten Zitat Karl Jaspers („Luthers Ratschläge gegen die Juden … hat Hitler genau ausgeführt“) wurde eine Traditionslinie von judenfeindlichen Äußerungen des Reformators zur nationalsozialistischen Judenverfolgung gezogen, um „auf die dunklen Seiten des Protestantismus aufmerksam [zu] machen, die im Kirchentagsprogramm weitgehend ausgeblendet werden“. Diesem Ansinnen diente auch die ausliegende Broschüre der gbs „Martin Luther: Volksheld Antisemit Hassprediger“. Sicherlich ist es sinnvoll, auch und gerade in Nürnberg als der Stadt der Reichsparteitage und des „Stürmer“-Herausgebers und Gauleiters Julius Streicher an die Shoa und an die zwiespältige Rolle der evangelischen Kirche im Dritten Reich zu erinnern. Beides hat im Rahmen des Nürnberger Kirchentages seinen Platz gehabt. Auch der Antisemitismus Luthers kann in diesem Zusammenhang thematisiert werden – eine umfängliche kritische Auseinandersetzung der universitären Theologie und der Kirchen mit den einschlägigen Luther-Schriften hat ja zuletzt im Kontext des Reformationsjubiläums von 2017 stattgefunden. Überdies hat die Theologie in den letzten Jahrzehnten eine tiefgreifende Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum vorgenommen. Es erstaunt dann doch, dass die gbs diese umfängliche kritische Auseinandersetzung auf sowohl historischer als auch theologischer Ebene offenbar nicht zur Kenntnis zu nehmen bereit ist und anstelle einer differenzierten Debatte weiterhin auf einfache Parolen und wirkungsvolle polemische Effekte setzt.
In diesem Zusammenhang darf im Übrigen darauf hingewiesen werden, dass gerade die gbs sich bisher nicht zu einer angemessenen Auseinandersetzung mit den judenfeindlichen Aussagen ihres Namensgebers Giordano Bruno durchgerungen hat. Eine im Jahr 2012 abgegebene Stellungnahme wirkt eher wie ein Versuch, Giordano Bruno von Antisemitismusvorwürfen freizusprechen als sich mit dessen Äußerungen kritisch zu befassen.6
Der gbs als Mitglied des Förderkreises eng verbunden ist die „Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters e. V.“, die nicht nur mit einem Kirchentagsstand auf dem „Markt der Möglichkeiten“ vertreten war, sondern sogar einen Vertreter in die Markthallenleitung entsenden konnte. Seitens dieses Vereins, der sich als „Religionssatire“ versteht und sich der Veralberung von Religionen und Religionsgemeinschaften verschrieben hat, wurden für den Kirchentag „Enttaufungen“ und die „Verwandlung von Wasser in Bier“ angekündigt7 und am Stand dann auch vollzogen.8 Es ist – gelinde gesagt – erstaunlich, dass einem Verein, der die von der gbs vertretenen atheistisch-humanistischen „10 Angebote des evolutionären Humanismus“ weitgehend teilt,9 eine solche Bühne angeboten wurde.
Viel zu viel Papier und viel zu wenig Neues
Auch 2023 war der Evangelische Kirchentag wieder ein Magnet für eine Vielzahl von kleinen und kleinsten Gruppierungen, Organisationen und solo-missionarisch Bewegten. So unterschiedlich die religiösen oder weltanschaulichen Hintergründe derer auch sind, die freigiebig und hartnäckig ihr Material an die Vorübergehenden weitergaben, so eint sie doch alle eine teils ausdrückliche, teils unterschwellig transportierte Überzeugung, ihre je eigene, partikulare Sicht der Welt und des Glaubens repräsentiere das Nonplusultra für alle Menschen. Im Widerspruch zu dieser Absolutheit stand auf den Straßen Nürnbergs die bunte Vielfalt von christlichen wie nichtchristlichen Einstellungen. So trugen die vielen abseits des offiziellen Kirchentagsprogramms anzutreffenden missionarisch Bewegten – auf paradoxe und die eigenen Absichten konterkarierende Weise – dazu bei, die Pluralität von Glaubens- und Lebenshaltungen noch stärker sichtbar werden zu lassen. Bedauerlich nur – und nicht nur aus ökologischer Sicht – die ungeheure Papierverschwendung. Denn die ungezählten Druckerzeugnisse wurden in Nürnberg massenweise im nächsten Abfall- oder bestenfalls im Papiermülleimer ihrer finalen Bestimmung zugeführt.
Jörg Pegelow, Hamburg
Anmerkungen
- Siehe https://www.waters-of-life.net/index.php (Übersetzung J. P.; letzter Abruf aller in diesem Beitrag genannten Internetverweise: 26.7.2023).
- Siehe unter „Einsätze und Evangelisation“ auf der Website der Initiative, www.gerettetumzuretten.de/Einsaetze-Evangelisation/.
- Interview von Christiane Florin mit Thomas Klatt: Sexueller Missbrauch in der Evangelischen Kirche: „Im Windschatten des katholischen Skandals ausgeruht“, Deutschlandfunk, 28.2.2019, https://www.deutschlandfunk.de/sexueller-missbrauch-in-der-evangelischen-kirche-im-100.html.
- Vgl. https://www.twelvetribes.org/.
- Rachel Sharp: Joe Rogan Podcast Hosts Doctor Known for Pushing Debunked Claims about Covid-19, Independent, 16.12.2021, https://www.independent.co.uk/news/world/americas/joe-rogan-covid-podcast-doctor-b1977603.html. „Amazing Discoveries“ und „dasWort.tv“ gehören dem deutschen Zweig des adventistischen Laienverbands „ASI – International Adventist-Laymen’s Services & Industries“ an, der als Dachorganisation der „selbstunterhaltenden Missionswerke“ anzusehen ist.
- Michael Schmidt-Salomon: Plädoyer für einen rationalen Diskurs, gbs, 2.10.2012, https://www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/plaedoyer-fuer-einen-rationalen-diskurs, als Reaktion auf die Zeitungsartikel Micha Brumliks: Ein würdiger Namensgeber, taz, 2.10.2012, https://taz.de/Kolumne-Gott-und-die-Welt/!5082793/, und Wofür steht Giordano Brunos Name?, taz, 21.11.2012, https://taz.de/Antibeschneidungskampagne/!5078987/. Vgl. auch das Interview mit Schmidt-Salomon: „Martin Luther war viel schlimmer“, taz, 14.1.2013, https://taz.de/Giordano-Brunos-Antisemitismus/!5075498/.
- Daniela Wakonigg: Kirchentag mit Moses und Spaghettimonster, Humanistischer Pressedienst, 7.6.2023, hpd.de/artikel/kirchentag-moses-und-spaghettimonster-21335.
- Sylke: Pastafari entern den evangelischen Kirchentag, Kirche des fliegenden Spaghettimonsters e. V., 22.6.2023, https://www.pastafari.eu/2023/06/das-wort-zum-freitag-evangelischer-kirchentag-2023-in-nuernberg/.
- Vgl. https://www.giordano-bruno-stiftung.de/leitbild/zehn-angebote und https://www.pastafari.eu/verein/10-angebote-des-evolutionaeren-humanismus/.