Eine Nachlese zum Zentrum Weltanschauung
In dem von der württembergischen und der badischen Landeskirche gemeinsam mit der EZW verantworteten Zentrum Weltanschauung auf dem 35. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart (3. – 7. Juni 2015) boten 28 Referierende Einblicke in aktuelle Themen der Weltanschauungsarbeit und der religiösen Gegenwartskultur. Die Gelegenheit, zu diesen Themen „klug“ oder wenigstens etwas klüger zu werden, nahmen insgesamt über 1500 Besucher und Besucherinnen wahr.
Dämonen austreiben wie Jesus?
Gleich zu Beginn, am Donnerstagvormittag, ging es um ein schwieriges Thema: Wie können wir klug werden im Umgang mit dem Bösen? In ihrer Einführung begründete die Weltanschauungsbeauftragte der gastgebenden württembergischen Landeskirche, Annette Kick, warum das Thema Exorzismus gerade auch in Württemberg aktuell ist. Sie könne die Beobachtung des Journalisten Marcus Wegner bestätigen: Exorzismus komme demnach auch in Deutschland erstaunlich häufig vor, vor allem im Süden; er sei inzwischen mehrheitlich ein „evangelisches“ Phänomen, und zwar vor allem in pfingstlich-charismatischen Freikirchen („Befreiungsdienst“), zuweilen aber auch in landeskirchlichen Kreisen. Dort berufe man sich, meist zu Unrecht, auf den pietistischen Pfarrer Joh. Christoph Blumhardt und seinen Gebetskampf gegen dämonische Mächte. Dies habe u. a. auch ein landeskirchlicher Pfarrer vor etwa 50 Jahren getan: In der von ihm gegründeten „Bruderschaft“ ließ er sich zu einem Dämonenkampf hinreißen, der zu einem sexuellen und geistlichen Missbrauch unvorstellbaren Ausmaßes führte. Die Kirchenleitung habe damals zwar disziplinarisch reagiert, eine seelsorgerliche und theologische Aufarbeitung der Tragödie habe es jedoch so gut wie gar nicht gegeben. Spätestens die „Renaissance“ der „umstrittenen Praxis“ des Exorzismus1 sei ein Anlass, sich mit der brisanten Frage des theologisch und seelsorgerlich angemessenen Umgangs mit dem Bösen auseinanderzusetzen.
Hierzu zeigte , Martin Hailer, Systematischer Theologe an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, wichtige biblisch-theologische Grundlinien auf: Anhand alltäglicher Beispiele wie Liebe, Kriegsbegeisterung, Geldgier (Mammon) etc. verdeutlichte er, dass gute und böse Mächte auch heute von Menschen Besitz ergreifen. In biblischen Zeiten habe man ganz selbstverständlich mit solchen Mächten gerechnet. Im Vergleich zur Umwelt habe Jesus und haben die biblischen Schriftsteller den widergöttlichen Mächten besonders wenig Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie sie als letztlich schon entmachtet betrachteten. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sei Gottes Sache, nicht die der Menschen. Auch der Teufel werde nicht als Person beschrieben, sondern nur in seiner Funktion als Durcheinanderwerfer und Verführer. Christen zeichneten sich nicht dadurch aus, dass sie an Dämonen und den Teufel glauben, sondern im Gegenteil: Sie vertrauen darauf, dass keine Macht sie von der Liebe Gottes scheiden kann (Röm 8,31ff).
Als Leiter der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik an der christlichen Klinik Hohe Mark (Oberursel) sprach Martin Grabe von der schwierigen Lage, in denen sich Patienten und Patientinnen befinden, die sich dämonisch belastet fühlen. Sein Statement wird im Anschluss an diesen Beitrag dokumentiert.
Der Beauftragte für neue religiöse und geistige Strömungen der bayerischen Landeskirche Haringke Fugmann wies darauf hin, dass es auch im evangelischen Glauben Möglichkeiten der seelsorgerlichen und liturgischen Begleitung von Menschen gebe, die sich von bösen Mächten umzingelt sähen. Eine „direkte Kontaktaufnahme“ mit dem Bösen sei dabei zwar aus lutherischer Sicht nicht vertretbar, aber im Zusammenspiel mit seelsorgerlichen Gesprächen seien durchaus liturgische Formen vorhanden, die hilfreich sein könnten. Fugmann nannte als Beispiele unter anderem die Lossprechung von den Sünden in der Einzelbeichte, das Hausabendmahl, Klage- und Bittgebete, den Segen sowie das Kreuzzeichen.
Jürgen Lohmayer, Referent für Weltanschauungsfragen und Ansprechpartner für Fragen zum Exorzismus im Bistum Würzburg, erläuterte die römisch-katholischen Haltungen zum Exorzismus. Er betonte, dass es zwischen der Herangehensweise der deutschen Bischofskonferenz und dem Umgang mit dem Thema in anderen Ländern große Unterschiede gebe. In Deutschland sei seit dem tragischen Fall von Anneliese Michel in den 1970er Jahren größte Zurückhaltung gegenüber Exorzismen verbreitet. Von einer Expertenkommission seien weitreichende Reformvorschläge zur Liturgie des sog. Großen Exorzismus erarbeitet worden, die allerdings nur zum Teil in die Neufassung durch Rom im Jahr 1998 Eingang gefunden hätten.
Ich bin mein eigener Priester
Dem Phänomen von „Religion als Selbstermächtigung“ auf die Spur zu kommen, war Anliegen der Veranstaltung am Donnerstagnachmittag, der es darum ging, Möglichkeiten und Grenzen (post-)moderner Spiritualität in den Blick zu nehmen.
Der Soziologe Hubert Knoblauch aus Berlin nannte in seinem Vortrag Merkmale von „populärer Religion“ wie Authentizität, Betonung von Transzendenzerfahrungen, Ganzheitlichkeit und Körperbezug und charakterisierte sie als Form von Spiritualität, in der das Selbst zum Mittelpunkt von Religion und spiritueller Suche werde. Diese Aspekte populärer Religion bestätigte die Münchener Autorin Sabrina Fox aus ihrer praktischen Erfahrung im Bereich der Esoterik. Sie beschrieb als Motive von spirituell Suchenden zum einen das Bedürfnis nach Trost und zum anderen ein Streben nach innerer Entwicklung und wies auf die Anfälligkeit von Menschen in Krisensituationen für unseriöse Angebote hin.
Der Journalist Bernd Kramer, Autor des Buches „Erleuchtung gefällig? Ein esoterischer Selbstversuch“, schilderte seine Erlebnisse auf dem Markt der esoterischen Gesundheits- und Lebenshilfeangebote: Die meisten Anbieter, denen er begegnet sei, seien nach seiner Wahrnehmung selbst von der Wirksamkeit ihrer Methoden und Mittel überzeugt. Sie alle nehmen einen Rückbezug auf eigene, nach außen manchmal nicht vermittelbare Erfahrungen als Basis ihrer Angebote.
Aus theologischer Perspektive argumentierte Kai Funkschmidt, EZW-Referent, und betonte den Gottesbezug des Christentums und seine Struktur als Glaubensgemeinschaft als Korrektiv gegen ein übersteigertes Kreisen um das eigene Selbst.
Die Workshops nahmen das Oberthema auf und konkretisierten es anhand von folgenden Themen: „Engelfaszination“, „Erfolgsprogramme“, „Esoterik und Kirche“ sowie „Hexe sein – ein verzauberter Lebensweg“. In Gesprächen nach dem Vortrag und im Workshop zum Thema „Esoterik und Kirche“ wurde deutlich, dass sich esoterische Wirklichkeitsdeutungen und Engelinterpretationen in einem Segment der evangelischen Kirche großer Beliebtheit erfreuen und dass dieser esoterik-affine Teil der Kirche zum Teil vollständig selbstimmunisiert ist gegen Perspektiven aus der religionssoziologischen Forschung oder gar der Theologie und durchaus auch aggressiv auftreten kann.
Kirchentag plays
Einen auf dem gesamten Kirchentag einzigartigen thematischen Akzent setzte die Veranstaltung zum Thema Religion und Computerspiele, an der über 300 Personen teilnahmen. Weit über die Hälfte gehörte zu den unter 25-Jährigen. Die Religionswissenschaftler Tobias Knoll und Simone Heidbrink (Universität Heidelberg) führten ins Thema ein und präsentierten u. a. die Grafiken verschiedener Computerspiele, in denen die Spieler sich mit religiösen Themen beschäftigen, indem sie beispielsweise die Rolle von Göttern übernehmen. In der Podiumsdiskussion zwischen der Schwäbisch Gmünder Soziologin Elke Hemminger, dem Münchener Social-Media-Manager Rudolf Inderst, dem Bochumer Theologen Michael Waltemathe und dem Stuttgarter Medienpädagogen Benjamin Götz ergaben sich einige frische Perspektiven auf das Thema.
Einigkeit herrschte darüber, dass die weltweite Gaming-Community durchaus religiöse Themen im Spiel bearbeitet und zu diesen Themen auch Diskurse führt. Ein Spiel, in dem an einer Stelle eine verpflichtende Taufe eingebaut war, ohne die man nicht fortfahren konnte, löste zum Beispiel rege Diskussionen zur Religionsfreiheit aus. Dennoch seien die religiösen Realitäten der Spielewelten eben „Abbildungen“ des Lebens außerhalb des Spiels, wenn auch in kreativ verarbeiteter Form. Unter Pädagogen und in der Elterngeneration werde dieser Verarbeitungsprozess bisher noch zu wenig wahrgenommen.
Die konzentrierte Atmosphäre sowie die große Anzahl von Nachfragen und Kommentaren aus dem Publikum zeigten an, dass es zu diesem Thema der religiösen Gegenwartskultur gerade auch unter kirchlich sozialisierten Jugendlichen Interesse und Gesprächsbedarf gibt. An der Gaming-Mitmachstation, bei der verschiedene Computerspiele ausprobiert werden konnten, ergaben sich intensive Gespräche zum Thema. Eine Konfirmandengruppe aus Berlin brachte sogar ihre eigene virtuell nachgebaute Kirche zur Ansicht mit.
Religionsfreiheit contra Kindeswohl!?
Unter dem Untertitel „Rechtliche, psychologische und praktische Fragen“ war am Freitagvormittag zu einer Weiterbildungsveranstaltung zum Spannungsfeld elterliche Religionsfreiheit und Kindeswohl eingeladen. In einem experimentellen Format, das der Bildungsmesse „didacta“ nachempfunden war, konnten sich die Besucher zu drei Unterthemen gezielt von Experten informieren lassen. Das Format der drei Stationen bot viel Gelegenheit zu Rückfragen und Diskussionen und wurde sehr gut angenommen.
Die Formen, die Kindeswohlgefährdungen in religiösen oder weltanschaulichen Gruppen annehmen können, erläuterte Sabine Riede vom Sekten-Info NRW. Sie unterstrich dabei, dass nicht nur die in den betroffenen Gemeinschaften auftretenden Problematiken sehr verschieden seien – von systematischer Vernachlässigung über die Ausübung von psychischem Druck bis hin zu körperlicher Züchtigung – sondern auch, dass innerhalb der Gemeinschaften die einzelnen Familien individuell zu betrachten seien. Generell ziehe man eine Inobhutnahme von Kindern aus Familien erst als letztes Mittel bei schweren Gefährdungen des Kindeswohls in Betracht.
Anja Gollan, die als Rechtsanwältin für die rechtliche Beratung beim Sekten-Info NRW zuständig ist, informierte an ihrer Station über grundlegende juristische Vorgaben und wichtige Gerichtsentscheide zum Thema Kindeswohl. Sie stellte heraus, dass es bei allen Entscheidungen zu Konflikten zwischen elterlicher Religionsfreiheit und dem Wohl von Kindern um ein sorgfältiges Abwägen von wichtigen Grundrechten gehe.
Um die positiven Wirkungen, die eine religiöse Kindererziehung für das Kindeswohl haben kann, ging es an der Station der Theologin und Religionspädagogin Anke Edelbrock. Sie argumentierte engagiert dafür, religiöse Fragen von Kindern ernst zu nehmen und sie nicht damit „im Regen stehen zu lassen“. Wer im Elternhaus religiös geprägt worden oder in Kindergarten und Schule mit gelebter Religion in Kontakt gekommen sei, könne sich später immer noch umorientieren, habe aber auf drängende Fragen Antworten erhalten.
Ich bin nicht religiös, ich bin normal
Auf sehr großes Interesse stieß das Thema „Konfessionslosigkeit, Atheismus und die Gottesfrage“ am Freitagnachmittag, vor allem bei kirchlich engagierten Menschen, die Interesse an einem differenzierten Bild von Konfessionslosigkeit und Atheismus hatten. Diesem Interesse konnte durch den Vortrag des Hochschulpfarrers Andreas Fincke aus Erfurt und die Beiträge von Dorothee Land vom Gemeindekolleg der VELKD in Neudietendorf entsprochen werden.
Mehrfach wurde vonseiten des Publikums erwähnt, wie stark die Giordano-Bruno-Stiftung bzw. der „neue Atheismus“ die Wahrnehmung über die Medien prägt und wie wenig diese Wahrnehmung dem entspricht, was im Osten Deutschlands mit dem Begriff „Gewohnheitsatheismus“ bezeichnet wird. Auch die Vorstandsvorsitzende der Humanisten Baden-Württemberg, Gabriele Will, unterschied ihre eigene freidenkerische bzw. freireligiöse Position vom „neuen Atheismus“. Die Humanisten Baden-Württemberg setzten sich zwar für eine völlige Trennung von Kirche bzw. Weltanschauung und Staat ein, seien aber „realistisch genug“, um sich derzeit in das bestehende System einzufügen, was sich beispielsweise am Status ihres Vereins als Körperschaft des öffentlichen Rechts zeige. Der Stuttgarter Religionswissenschaftler Michael Blume vertrat die These, dass Religiosität „evolutionär erfolgreich“ sei und messbare Auswirkungen auf demografische Entwicklungen habe: Sie führe zwar nicht automatisch zu größerer Kinderzahl, eröffne aber ein kooperatives und damit auch reproduktives Potenzial, das sich bei nichtreligiösen Menschen weniger stark zeigen lasse. Religiosität sei überdies nicht mehr oder weniger Nebenprodukt der Evolution als Sprachfähigkeit oder Musikalität.
Neben kirchlich engagierten Besucherinnen und Besuchern waren viele Teilnehmende anwesend, die ein kirchen- bzw. religionskritisches Interesse hatten. Durch die Darstellung ihrer Perspektiven trugen sie erheblich zur Lebendigkeit und Fruchtbarkeit der Diskussion bei. Es wurde bei der Veranstaltung deutlich, dass es ein starkes innerkirchliches Interesse am Thema gibt. Mit Vertreterinnen und Vertretern des organisierten Freidenkertum (Humanistischer Verband usw.) und seinen Sympathisanten war gut ins Gespräch zu kommen, während sich die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gewohnheitsatheismus aus strukturellen Gründen zumindest auf einem Kirchentag kaum als Dialog führen lassen wird.
Sehnsuchtsort Buddhismus
Das Ziel der letzten Hauptveranstaltung am Samstag war es, den Buddhismus einmal unter dem Aspekt der „Projektionsfläche Religion“ in den Blick zu nehmen. Der Religionswissenschaftler Volker Zotz aus Luxemburg identifizierte vier Felder bzw. Themen, in denen der Buddhismus im Westen mit positiven Vorurteilen belegt werde, die dann seine Attraktivität erhöht hätten und die jeweils kritisch betrachtet werden müssten. Zunächst sei dies die Idee eines „ökumenischen“ Buddhismus gewesen, der für alle Buddhisten übergreifend gelte und ein einheitliches Weltbild darbiete. Wie bei anderen Religionen auch gebe es aber bei näherem Hinsehen keinen einheitlichen buddhistischen Kanon. Des Weiteren werde der Buddhismus im Westen häufig mit einer bewundernswerten Friedfertigkeit in Verbindung gebracht, die ihn als gewaltfreie Religion erscheinen lasse. Es habe aber schon in den frühen Zeiten Kriegermönche, Religionskriege und bis heute bedauerliche gewalttätige Übergriffe im Namen des Buddhismus gegeben. Drittens stehe der Buddhismus bis in die Gegenwart in dem Ruf, wissenschaftskonformer und fortschrittsfreundlicher zu sein als die klassischen Offenbarungsreligionen. Seine „Evidenz“ sei dabei häufig gegen einen bloßen Glauben ausgespielt worden, wobei übersehen werde, dass der Buddhismus in weiten Teilen Asiens viel „religiöser“ sei, als es seine westlichen Proponenten bisweilen behaupten, und durchaus auf Offenbarungen des Buddha beruhe. Und zu guter Letzt seien auf der Suche nach vorbildhaften Menschen Einzelne zu Identifikationsfiguren und Projektionsflächen der Sehnsucht nach Erleuchtung gemacht worden. Ein Beispiel sei der Dalai Lama.
Die Heidelberger Religionswissenschaftlerin Susanne Matsudo-Kiliani ergänzte diese Thesen aus ihrer Perspektive als Beauftragte der Deutschen Buddhistischen Union für den interreligiösen Dialog. Unter anderem stellte sie Ergebnisse der Befragung „Faszination Buddhismus – Beweggründe für die Hinwendung der Deutschen zum Buddhismus“ vor, die im Jahr 2014 innerhalb der DBU von Yukio Matsudo durchgeführt wurde. Besonders wichtig sei als Motiv nach Selbstaussage der deutschen Buddhisten aus verschiedenen Traditionen, dass der Buddhismus als Lebenshilfe erlebt und angenommen werde.
Insgesamt war an den Reaktionen des Publikums zu spüren, dass das Zentrum Weltanschauung als ein Forum zur fachlichen Information und engagierten Auseinandersetzung mit wichtigen Themen geschätzt wurde. Auf den Podien sei zwar nicht im konfrontativen Stil, aber sehr gewinnbringend diskutiert worden. Auch die Beteiligten freuen sich auf eine Neuauflage des Zentrums Weltanschauung beim Kirchentag in Berlin und Wittenberg 2017!
Svenja Hardecker, Stuttgart
Anmerkungen
- Reinhard Hempelmann (Hg.), Exorzismus. Zur Renaissance einer umstrittenen Praxis, EZW-Texte 236, Berlin 2015.