Reinhard Hempelmann

Einführung zum „Panorama der neuen Religiosität“

Ende September 2005 ist die zweite vollständig überarbeitete Neuauflage des großen Überblickswerkes der EZW „Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ erschienen, an dem neben den Referenten der EZW zahlreiche kooperierende Autoren mitgewirkt haben. Wir nehmen dies zum Anlass, um unseren Lesern anhand der im Folgenden dokumentierten Einführung in das Buch (14-22) einen Eindruck von dem zu verschaffen, was es an inhaltlicher Vielfalt und Information bereit hält.


Im „Panorama der neuen Religiosität“ wird der Blick in die Weite heutiger Religionskultur gerichtet und die Vielgestaltigkeit religiöser Erscheinungen in säkularisierten westeuropäischen Gesellschaften in Blick genommen. Das Buch befasst sich u. a. mit religiösen Themen in Werbung, Sport, Kino, Kunst etc., mit weltanschaulichen Strömungen wie Anthroposophie und Astrologie, mit säkular-religiösen Mischformen, die im Umfeld der Gebrauchsesoterik und der Psychoszene vorkommen, mit biblizistisch und pfingstlich-charismatisch ausgerichteten christlichen Bewegungen und mit Religionsgemeinschaften (Jehovas Zeugen, Mormonen etc.), die sich selbst im dezidierten Gegenüber zu den historischen Kirchen verstehen.

Zielsetzung des „Panoramas“ ist es,

• einen repräsentativen Überblick über religiös-weltanschauliche Strömungen, Szenen und Gruppen zu geben;

• Wandlungsprozesse der religiösen Landschaft wahrzunehmen und das Augenmerk auf diejenigen Phänomene zu richten, die gegenwärtig besondere Anziehungskraft und Resonanz erlangen;

• religiöse Themen und Sehnsüchte aufzuspüren, die das Leben der Menschen in einem säkular geprägten Umfeld bestimmen;

• nach Ausdrucksformen und Entstehungsbedingungen des neu erwachten religiösen und spirituellen Interesses zu fragen;

• Unterscheidungs- und Beurteilungskriterien ins Spiel zu bringen, die zum Umgang mit religiöser und kultureller Vielfalt befähigen.

Beobachten, beschreiben, verstehen, deuten und aus der Perspektive eines christlichen Wirklichkeitsverständnisses Stellung beziehen: Dies sind grundlegende Schritte, die in den Darlegungen zum Panorama der neuen Religiosität zum Tragen kommen. Vorausgesetzt wird dabei, dass auch das Beobachten und Beschreiben unvermeidlich perspektivisch bestimmt und bezogen ist auf die unentrinnbare Sprachlichkeit und Geschichtlichkeit des Denkens und die sozialen, kulturellen und religiösen Kontexte, in denen es sich ereignet. Das Buch möchte zu einer sachgemäßen Beschreibung und Auseinandersetzung mit neuer Religiosität und zur christlichen Orientierung im religiösen Pluralismus beitragen. Die Deutung von Einzelphänomenen und Einzelgruppen empfängt dabei wichtige Impulse durch die Wahrnehmung der die Gesamtsituation bestimmenden religiös-weltanschaulichen Strömungen und umgekehrt.

Ausprägungen neuer Religiosität

Religiosität gehört zur Natur des Menschen. Religion gibt es konkret nur in den Religionen. In der Religion wird Religiosität in Anspruch genommen und in intersubjektiven Lebensvollzügen geschichtlich-kulturell gestaltet.1 Beides ist insofern zu unterscheiden und nicht gleichzusetzen. Religiosität besteht „im Zusammenspiel von radikaler Negativitätserfahrung und Transzendenzverwiesenheit“.2 Religionen „gehen zurück auf Epiphanien eines Gottes oder einer göttlichen Macht“.3 Hinter der Chiffre „neue Religiosität“ verbirgt sich hier allerdings nicht eine abstrahierende Reflexion auf anthropologische Grundgegebenheiten. Vielmehr geht es um ein konkretes Phänomen unserer religiösen und kulturellen Situation, das – reichlich unbestimmt – als „Wiederkehr der Religion“, „Respiritualisierung“ oder als „religionsproduktive Tendenz“ der so genannten zweiten Moderne bzw. der Postmoderne bezeichnet wird. Säkularisierungstheoretiker gingen davon aus, dass Religion unausweichlich im Absterben begriffen sei und wir einem religionslosen Zeitalter entgegengingen. Sie meinten, Säkularisierung bedeute Entkirchlichung und Entchristlichung. Dass diese Gleichung so nicht zutrifft und zumindest ergänzungsbedürftig ist, kann heute vielfältig beobachtet werden, auch im kontinentalen Europa. Seit den 70er-Jahren spricht man vom Aufkommen neuer religiöser Bewegungen oder der Suche nach einer „neuen Religiosität“. Säkularisierung ist offensichtlich nicht unausweichliche Folge von Modernisierung, wohl aber führen beschleunigte Modernisierungsprozesse zur Aufhebung religiöser Monopole und forcieren religiöse Pluralisierungsprozesse. Das neue Interesse an Religion4 richtet sich gleichermaßen auf traditionelle Religionen wie auf neue Ausdrucksgestalten von Religiosität. Auch die klassischen Sondergemeinschaften und esoterischen Systeme profitieren davon. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist unsere Situation durch fortschreitende Säkularisierung bei gleichzeitiger Revitalisierung von Religiosität und Religion geprägt.5 Nicht Säkularisierung allein, sondern die Entwicklung in Richtung eines religiösen Pluralismus ist der charakteristische Vorgang. Neue Religiosität ist Teil des heutigen religiösen Pluralismus. Sie wird nachfolgend beschrieben:

• in Tendenzen der Sakralisierung des Profanen (vgl. I.),

• in den Versprechen der Psychoszene (vgl. II.),

• in der postmodernen Bastelreligiosität esoterischer Strömungen (vgl. III.),

• in der Ausbreitung ostasiatischer Spiritualität im Westen (vgl. IV.),

• in biblizistischen und enthusiastischen Ausdrucksformen christlicher Frömmigkeit (vgl. V.),

• in christlichen Sondergemeinschaften und Neuoffenbarungsgruppen (vgl. VI.).

Die Begrifflichkeit „neu“, die ein „Schlüsselwort der kulturellen Selbstdeutungen der Gegenwart“6 ist, deutet auf modernitätskonforme Ansprüche, die auch dann vorliegen können, wenn die zentrale Botschaft einer religiösen Bewegung rückwärts gewandt die Wiederherstellung einer wahren Gemeinschaft und Aufrichtung einer vergessenen, ursprünglichen Wahrheit im Blick hat. Zugleich gehört zum Bedeutungsgehalt des „Neuen“ der Protest gegen das „Alte“. In den vielfältigen Ausdrucksgestalten neuer Religiosität liegt eine explizite oder implizite Abwehr und Kritik gegenüber institutionalisierten und etablierten religiösen Traditionen. Die auf Dogmen aufgebaute Religion, repräsentiert durch Kirchen und Konfessionen, gilt als überholt. Sie soll durch eine neue Spiritualität ersetzt werden, die ihre Grundlagen aus mystischem Erfahrungswissen, fernöstlicher Religiosität, neuen Offenbarungen und besonderen Geisterfahrungen bezieht.

Das Profil des „Panoramas“

Das besondere Anliegen des „Panoramas“ ist die konzentrierte Zusammenschau verschiedener Segmente der Religionskultur. Zum Themenbereich „Religion in der Kultur“ existieren zahlreiche Einzeluntersuchungen, Beschreibungen und Auseinandersetzungen. Handbücher und Lexika informieren über religiöse Sondergemeinschaften und alternative Weltanschauungen. Sie geben Hinweise für notwendige kritische Auseinandersetzungen und vermitteln Orientierungsperspektiven für kirchliches und gemeindliches Handeln. Über die so genannte Psychoszene und ihre Angebote, über zahlreiche Einzelthemen wie Scientology, ebenso über esoterische Spiritualität sind in den letzten Jahren zahlreiche populäre und wissenschaftlich orientierte Bücher erschienen. Auch die pentekostale Spiritualität ist inzwischen im deutschsprachigen Kontext Gegenstand wichtiger Veröffentlichungen geworden. Das „Panorama neuer Religiosität“ behandelt diese unterschiedlichen Themen im Zusammenhang. Die Darlegungen sind jeweils auf das Wesentliche beschränkt. Wahrnehmung und Beschreibung der Phänomene neuer Religiosität haben Vorrang vor der Klärung ihrer Entstehungsgeschichte. Es finden sich in jedem Kapitel Hinweise zur vertiefenden Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit den entsprechenden Gruppen, Strömungen und Themenbereichen:

• durch die in den Textfluss eingefügten Literaturverzeichnisse, die auch wichtige Internetadressen (Selbstdarstellungen von Organisationen wie auch kritische Außenperspektiven) enthalten;

• ebenso durch die Anmerkungen, die gebündelt am Ende des Buches zu finden

sind.

Die Darstellungsprinzipien sind in den Kapiteln parallel angeordnet. Ein einführender Teil 1 beschreibt Voraussetzungen und Rahmenbedingungen religiöser Sinnsuche in den jeweiligen Segmenten der Religionskultur. Teil 3 greift theologisch-apologetische Fragestellungen auf und weist auf Themen hin, die im kritischen Dialog mit neuer Religiosität von Bedeutung sind. Diese Teile sind von jetzigen und früheren Mitarbeitern der EZW geschrieben worden. An den darstellenden Passagen (Teil 2) haben eine Reihe externer Koautoren mitgearbeitet. Zahlreiche kapitelübergreifende Themen (Ekstase, Energie/Lebenskraft, Erleuchtung, Heilung, Karma, Ki, Vision etc.) verdeutlichen den inneren Zusammenhang der Kapitel. Das Register gibt Aufschluss über Themen, Namen und Bibelstellen, auf die Bezug genommen wird. Der Zugang zum Phänomen neuer Religiosität geschieht nicht lexikalisch, sondern orientiert sich an unterschiedlichen Themen- und Gegenstandsfeldern, die keineswegs einheitlich sind. Die Auswahl der Themen wurde durch die praktische Arbeit der EZW mitbestimmt. Zeitgeistkonformität, Attraktivität und Konfliktträchtigkeit einer religiös-weltanschaulichen Strömung oder Gruppe haben ihre Behandlung im „Panorama“ zusätzlich nahe gelegt. Die ersten drei Kapitel des Buches behandeln Religionsformen, die im engen Zusammenhang mit fortschreitenden Säkularisierungsprozessen stehen. Um säkulare Formen von Religiosität wahrzunehmen, ist es notwendig, zumindest in heuristischer Absicht, auf einen funktionalen Religionsbegriff zurückzugreifen. Es ist unübersehbar, dass „Funktionen, die einst hauptsächlich vom Christentum gebündelt wahrgenommen wurden, heute von Instanzen, Institutionen und Akteuren erfüllt werden, die sowohl von ihrem Selbstverständnis her als auch im alltäglichen Bewusstsein nicht als ‚religiös’ gelten“.7 Die vakante Stelle der Religion bleibt nicht leer. Zwar kann eine funktionale Betrachtungsweise die Innenperspektive konkreter Religionen nicht erreichen; denn diese ist aufgrund ihrer unbedingten Bindung unverträglich mit der Suche nach funktionalen Äquivalenten. Sie verweist aber auf die Unabweisbarkeit der Religionsthematik im Leben der Menschen. Religion wird zwar einerseits zunehmend in den Bereich des Privaten abgedrängt, andererseits wird unsere Lebenswelt immer religiöser. Die fundamentale theologische Kategorie der Verheißung (promissio) findet Äquivalente in zahllosen Versprechen und Tröstungen säkularer Religiosität, die dem Bedürfnis nach Sinn und einer umfassenden Daseinsdeutung nachkommen. Religiöse Sprache, wie sie in der Säkularität begegnet, fordert zur Entzifferung heraus. Religiöses muss entdeckt werden (vgl. I., Nüchtern).

Zugleich wirkt sich der moderne Konsumismus und Eklektizismus auch in religiöser Hinsicht aus. Religiös-säkulare Mischphänomene werden marktförmig angeboten und teilweise hemmungslos kommerzialisiert. Religiöses wird säkular „verpackt“, beispielsweise als Entspannungstechnik oder Therapieangebot, oder Nichtreligiöses umgibt sich aus strategischen Gründen mit dem Schein des Religiösen (vgl. II., Utsch). Esoterische Systeme und Praktiken artikulieren sich innerhalb des abendländischen Kulturraums oftmals „antimodernistisch“ und greifen bewusst auf vormoderne und archaische Traditionen zurück, bleiben freilich in ihrem Protest an die Determinanten der Moderne gebunden oder artikulieren sich als charakteristischer Ausdruck postmodernen Lebensgefühls (vgl. III., Ruppert).

Die folgenden drei Kapitel skizzieren eher feste Gruppenbildungen und Strömungen, meist solche, die jenseits des jeweiligen Hauptstroms der klassischen religiösen Gemeinschaftsbildungen liegen. Der Bezug auf das Umfeld von Säkularisierungsprozessen ist auch hier unverkennbar. Östliche Religiosität versteht sich als therapeutisches Angebot für den säkularisierten, spirituell verarmten Menschen westlicher Gesellschaften (vgl. IV., Dehn). Religiöse Sondergemeinschaften (Neuapostolische Kirche, Jehovas Zeugen etc.), sofern sie im Umfeld des Protestantismus entstanden sind, kritisieren dessen modernitätsverträgliche Auslegungen des Christlichen, insbesondere auf dem Felde der Eschatologie (vgl. VI., Fincke). Neuoffenbarungsgruppen lösen sich aus dem Umfeld ihrer „Herkunftsreligion“ und suchen religiöse Autorität durch Berufung auf unmittelbare Kundgaben des Göttlichen neu aufzurichten (vgl. VI., Pöhlmann). Sie sind im Anschluss an den amerikanischen Soziologen Rodney Stark gesprochen keine „neue(n) Organisationen (bzw. Organisationsformen) eines alten Glaubens“ (sect movements), sondern unterstützen Entwicklungen, die in Richtung neuer Religionsbildungen verlaufen (cult movements).8 Pfingstler, Charismatiker, Evangelikale und christliche Fundamentalisten begreifen sich im Kontext eines dezidiert christlichen Selbstverständnisses und protestieren gegen die Bündnisse, die Kirche und Theologie mit der säkularen Kultur geschlossen haben (vgl. V., Hempelmann).

Die breitere Auswahl des Gegenstandsfeldes unterstreicht die Notwendigkeit, in der Diskussion über neue Religiosität zu differenzierenden Perspektiven und Urteilen zu kommen. Neue Religiosität, wie sie im vorliegenden Buch beschrieben wird, ist ein komplexes Phänomen, das sich einer geschlossenen Beurteilung entzieht. Die verschiedenen Segmente heutiger Religionskultur bedürfen jeweils gesonderter Wahrnehmung.

Innerhalb der offenen und keineswegs eindeutigen Begrifflichkeit „neue Religiosität“ ist im Einzelnen zu differenzieren, z.B. in historischer Perspektive zwischen Religionen und Neureligionen, in phänomenologischer Hinsicht zwischen religiösen Gemeinschaften und religionsartigen Erscheinungen, in theologischer Hinsicht zwischen Strömungen und Gruppen, die für sich selbst Christlichkeit beanspruchen und solchen, die sich dezidiert ohne Bezugnahme auf die christliche Tradition verstehen. Terminologien enthalten in der Regel beurteilende Perspektiven. In den Einführungen zu den Einzelkapiteln werden verschiedene Terminologien und Typologien vorgestellt, skizziert und diskutiert (vgl. besonders Dehn, IV. u. Fincke, VI.).

Geschichtlich gesehen hat das Aufkommen neuer Religiosität, wie sie insbesondere in den ersten Buchkapiteln beschrieben wird, seinen Grund in den Krisenphänomenen, die mit der wissenschaftlich-technischen Zivilisation zusammenhängen. Zwar hat die moderne, naturwissenschaftlich und rational orientierte Weltauffassung einer mythologisch-religiösen Weltbetrachtung den Kampf angesagt, diese jedoch nicht überwinden können und zu einer religionsgeschichtlich überholten Alternative machen können. Im Gegenteil: Was im Zuge neuzeitlicher Aufklärung rationaler Kritik unterzogen und teilweise als Aberglaube bezeichnet wurde, hat eine neue Renaissance erfahren. Technische und magische Lebensbewältigung werden dabei häufig nicht als konträr und unvereinbar angesehen und erlebt, sondern als ergänzend. Man kann also – in Abwandlung eines Diktums Rudolf Bultmanns gesprochen – durchaus „elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen“9 und gleichzeitig an die Wirksamkeit magischer Techniken glauben und ein okkultes, vormodernes Weltbild mit Emphase vertreten.10 Im Kontext einer reflexiv gewordenen Moderne oder Postmoderne gilt der Sachverhalt, „dass die Entzauberung der Welt auch zu einer radikalen Entzauberung der Idee der Entzauberung selbst geführt hat; oder anders gesagt, dass die Entmythologisierung sich am Ende gegen sich selbst gewendet hat, indem sie auch das Ideal der Liquidierung der Mythen selbst als Mythos erkannte“11. Die Herrschaft der instrumentellen Vernunft mit ihrer Verdinglichungssucht provoziert den romantischen Gegenschlag, nach der Rationalitätsdominanz die neue Sehnsucht nach erlebbarer Transzendenz. Das, was vorher quasi in einer Subkultur präsent war, tritt jetzt mehr und mehr in den Mainstream der Kultur ein. Neue Religiosität kann begriffen werden als ein Protestphänomen gegen das geheimnislose Wirklichkeitsverständnis der Aufklärung.

Themen und Organisationsformen

Mit gängigen Methoden religionswissenschaftlicher Forschung lassen sich zahlreiche Ausformungen neuer Religiosität nicht erfassen. Denn an zusammenhängenden religiösen Systemen, an verbindlich gestalteter Gemeinschaft und einer kontinuierlichen Glaubensvergewisserung durch symbolische Handlungen sind diese nicht interessiert. Charakteristisch ist vielmehr, dass einzelne religiöse Elemente und Rituale aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen „entwendet“ und in lebenspraktischer Hinsicht zeitweilig aufgegriffen und ausprobiert werden. Im Kontext neuer Religiosität begegnet Religion in vielfältigen „Zerstreuungen“.12 Dabei wird vieles miteinander verbunden und vermischt: japanische und chinesische Heilungspraktiken, buddhistische Meditation, schamanistische Ekstasetechniken, mit religiösen Versprechen aufgeladene alternative Therapieangebote ... Zentrale Stichworte, die die Richtung der Suchbewegungen anzeigen, sind: außergewöhnliche Ergriffenheitserfahrungen, Kommunikation mit dem Göttlichen, Selbstfindung, Körpererfahrung, Bewusstseinserweiterung, Erleuchtung, Berührtwerden mit göttlicher Kraft und mit heilenden Energieströmen. Sie finden sich bezeichnenderweise in verschiedensten thematischen Zusammenhängen und können mit Hilfe des Sachregisters in ihrer die einzelnen Kapitel überschreitenden Struktur ermittelt werden.

Es ist ein esoterisch und synkretistisch geprägter Religionstyp, der gegenwärtig auf besondere Resonanz stößt. Auf philosophischer Ebene artikuliert er sich u. a. als Kritik am Subjektbegriff, plädiert für radikale Vielfalt und votiert für die Nichtdarstellbarkeit des Absoluten. Religionen und Weltanschauungen werden eklektisch aufgegriffen und als Sprachspiele und Dialektvarianten aufgefasst, in denen sich die gleiche mystische Erfahrung verschlüsselt artikuliert. Die Sozialgestalt, die zahlreiche Ausformungen neuer Religiosität bestimmt, zeigt sich weniger in festen Gruppenbildungen, sondern in Szenen und Netzwerken, die nur lockere Verbundenheit ermöglichen (vgl. Utsch, II. u. Ruppert, III.). Ein punktuelles Zusammenkommen, ein Kommen und Gehen ist kennzeichnend. Neue Religiosität hat teil an dem, was in der Soziologensprache „akzelerierende Verszenung und Eventisierung“ der Gesellschaft heißt.

Charakteristische Merkmale der Sozialform „Szene“ sind Partikularität, zeitliche Begrenzung, offene Zugehörigkeitsbedingungen, beschränkte Wahrheitsansprüche ... So spricht man von Psychoszene, Esoterik- und Okkult-Szene, Ufo-Szene, Meditations-Szene etc. Zur Szene gehören Events. „Events werden als einzigartige Erlebnisse geplant und so – jedenfalls in der Regel – auch erlebt.“13

Neben der Wahrnehmung der fortschreitenden Verszenung des Religiösen gehen die Darlegungen aber auch auf feste Gruppenstrukturen ein (vgl. Dehn, IV., Hempelmann, V., Fincke/Pöhlmann, VI.). Zwischen beiden bestehen Zusammenhänge. Das Gemeinschaftsangebot von Szenen und Events einerseits und festen Gruppenstrukturen andererseits bezieht sich auf unterschiedliche Bedürfnisse. Religiöse Identitätssuche erfolgt in pluralistischen Gesellschaftskulturen nicht einlinig, sondern verläuft in mindestens zwei gegenläufigen Mustern:

• als Anpassung an Individualisierungsprozesse in Formen spiritueller Selbststeigerung mit einem konsumorientierten, wenig organisierten und synkretistisch geprägten Religionsvollzug (Typ 1),

• als Protest gegen die moderne Individualisierung, als Ich-Aufgabe und Ich-Verzicht, u. a. in vereinnahmenden religiösen Extremgruppen, die radikale Hingabe an religiöse Führergestalten und genormtes Verhalten von ihren Mitgliedern erwarten (Typ 2).

Diese gegenläufigen Muster kommen in den Darlegungen immer wieder zur Sprache, z. B. in der Unterscheidung zwischen dem „Streben nach Strenge und Struktur“ einerseits und „Weite und Freiheit“ andererseits (Dehn, IV.). Moderne Gesellschaften forcieren bei unterschiedlichen Menschen verschiedene Bedürfnisse. Einzelne neue religiöse Bewegungen (z. B. Rajneesh-Bewegung in ihren vielfältigen Weiterentwicklungen) und esoterische Bastelreligiosität entsprechen dem Typ 1 und gehen auf die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung ein. Neureligionen (z.B. Vereinigungskirche), christliche Sondergemeinschaften (vgl. Fincke, VI.) und fundamentalistische Strömungen entsprechen dem Typ 2. Sie gehen auf die Sehnsucht nach starker Autorität, verbindlicher Gemeinschaft und Entscheidungsabnahme ein. Der eine Typ ist liberalistisch, monistisch-entgrenzend geprägt, der andere dogmatisierend, legalistisch, dualistisch-abgrenzend. Übergänge von dem einen Typ zum anderen sind möglich.

Annahme der pastoralen Herausforderung

Eine auftragsbewusste Kirche wird dem Dialog mit von neuer Religiosität begeisterten Menschen so wenig ausweichen wie dem Gespräch mit konfessionslosen, atheistischen oder postchristlichen Zeitgenossen. Die anhaltende Nachfrage nach spirituellen Erfahrungen deutet gleichermaßen auf elementare Bedürfnisse wie unübersehbare Defizite der modernen Kultur hin. Der weit gehende Ausfall einer gelebten christlichen Spiritualität unterstützt die Empfänglichkeit für religiöse Alternativen. „Auf dem langen Marsch in die Moderne hat gerade der Protestantismus, einschließlich seiner Geistlichkeit, viel an religiöser Praxis, religiöser Erfahrung und Kompetenz im Umgang mit religiösen Phänomenen verloren“.14

Abgrenzung allein stellt gegenüber neuer Religiosität keine ausreichende Reaktion dar. Noch weniger überzeugt freilich der Versuch, z. B. esoterischer Praxis, integrieren und „zurückholen“ zu wollen. Aktualitätssicherung durch die Aufnahme neureligiöser Angebote in kirchliche Bildungsprogramme setzt falsche Signale, ebenso die spirituelle Profilierung von Pfarrerinnen und Pfarrern als Anbieter von Reiki und astrologischer Lebensberatung. Der Sendungsauftrag der Kirchen verblasst, wenn er nichts anderes bedeutet, als sich ganz in den Dienst der Integration aller religiösen Bewegungen zu stellen, als ob deren Botschaft im Kern dieselbe wäre.

Hinter den verschiedenartigen Phänomenen neuer Religiosität stehen unterschiedlich zu bewertende Ausdrucksformen menschlicher Sehnsucht und Transzendenzsuche: das ständige Suchen ohne Ziel, die Überzeugung von einem heilen Selbst, das durch Meditation und Therapie gefunden werden kann, Vertrauen auf apersonale kosmische Kräfte, Sehnsucht nach dialogischer Gotteserfahrung und Suche nach Wahrheit, Sinn und Heil. Neue Religiosität ist insofern eine seelsorgerliche Herausforderung. Sie erinnert die Kirchen an die Notwendigkeit ihrer eigenen religiösen Profilierung und unterstreicht die Aufgabe, suchende Menschen zu begleiten, unterschiedliche Motive und Gesprächssituationen wahrzunehmen, die hinter den Suchbewegungen stehen, und eigene spirituelle Kompetenz zu vertiefen. Aus christlicher Sicht gehört die „spirituelle Unruhe des menschlichen Herzens“, seine Exzentrizität und Suche nach Selbsttranszendenz „zu den Spuren des Wirkens des Geistes in der Schöpfung“15. Auch wenn die Antworten neuer Religiosität christlich weithin nicht einholbar sind, sollte die Suche, die hinter ihr steht, dem kirchlichen Handeln zu selbstkritischer Prüfung Anlass geben. Zur Annahme der pastoralen Herausforderung gehört auch, sorgfältig der Frage nach Entstehungsbedingungen, speziell nach kulturbedingten Ursachen nachzugehen. Offen und selbstkritisch ist über Versäumnisse der Kirchen nachzudenken. Mystik, religiöse Erfahrung, Meditation, Spiritualität, Kontemplation, Glaubensheilung, das sind Themen neuer Religiosität, zu denen aus christlicher Perspektive etwas gesagt werden kann und muss.

Aufklärung im Dienste des Evangeliums

Die theologische Auseinandersetzung mit neuer Religiosität, wie sie im Teil 3 der jeweiligen Kapitel zum Ausdruck kommt, gewinnt ihre Kriterien aus einem christlichen Welt- und Daseinsverständnis. „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein.“ Dieser Satz Martin Luthers artikuliert ein elementares Unterscheidungskriterium reformatorischer Theologie, das eine zentrale Orientierungsperspektive enthält. Menschenverachtende Ideologien, Versektungsprozesse religiöser Gemeinschaften und die Verharmlosung von Leiden, Sterben und Tod lassen sich im Kern auf Grenzüberschreitungen des Menschen zurückführen, die ihn gegenüber seiner Bestimmung entfremden, als Gegenüber zu seinem Schöpfer zu leben. Wie wahrnehmungsfähig sind religiöse Orientierungen für die Grenzen und Gebrochenheit des Menschen? Am Umgang mit den Grenzen des Menschen scheiden sich die Geister. Die biblische Tradition und der sich von ihr her verstehende Gottesglaube wie auch die reformatorische Theologie wissen um die Zweideutigkeit der Religion, die unterdrücken und befreien, zerstören und heilen kann.16 Zum kirchlichen Handeln gehört deshalb auch die Förderung einer Kultur der Aufklärung, eine religionskritische Aufgabe. Die wieder entdeckte Attraktivität von Mystik und Mythos, die Hypostasierung des Synkretismus, die Legitimierung von Okkultismus und Astrologie etc. provozieren die Frage, ob hier nicht eine relativistische, manchmal auch atheistische Perspektive das Feld für eine neue Religionsbegeisterung freigegeben hat. Der sich ausbreitende mystisch-esoterische Religionstyp ist nicht allein als „Sehnsuchtsreligion“17, sondern auch in seiner Wendung gegen die Religion zu thematisieren. Eine selbst gebastelte Religion ist keine. Zahlreichen Ausdrucksformen neuer Religiosität wohnt eine Tendenz zur Vergöttlichung von Mensch und Welt inne, die dem christlichen Schöpfungsglauben entgegensteht. Die unbegreiflichen Naturkräfte wie auch die Kräfte, die der Mensch in sich selbst und seinem geschichtlichen Dasein erfährt, sind nicht mit der göttlichen Wirklichkeit zu identifizieren. Paranormale Erfahrungen, ekstatische Erlebnisse, Visionen der unsichtbaren Welt eröffnen aus der Perspektive des christlichen Glaubens keine unmittelbare und zweifelsfreie Erfahrung des Göttlichen. Sie gehören zur Schöpfung hinzu und stellen keinen besonderen Ort der Antreffbarkeit Gottes in der Welt dar.

Postmoderne Selbstrelativierungen, das ästhetische Collageprinzip sind kein Weg, mit der Krise der Kirchen in der Krise der Moderne umzugehen. Das Bündnis mit dem „postmodernen Lob der Vielfalt“ und einem gönnerhaften Beliebigkeitspluralismus enthält keine Hilfe für Menschen, die in der Vielfalt von Orientierungsmöglichkeiten Entscheidungen treffen müssen und nach Kriterien fragen. Damit ist kein Nein zu einem persönlichen religiösen Weg und einem individuellen Religionsvollzug gesagt; auch kein Votum gegen die Bereitschaft und Offenheit, von der Weisheit anderer Kulturen und Religionen zu lernen. Es gehört allerdings zu den Essentials christlichen Glaubens, dass der Mensch sich Sinn und Ziel des Lebens nicht selbst schaffen kann. Wenn es um die Erfahrung der göttlichen Gnade geht, ist er Empfangender.

Die Begegnung mit neuer Religiosität nötigt insbesondere zur Klärung der Frage, was geistbestimmte Spiritualität ist. Das christliche Verständnis des Geistes bleibt nicht so vage und unbestimmt, wie dies durchweg innerhalb neuer Religiosität der Fall ist. Theologische Ausbildung und kirchliche Praxis haben erst begonnen, sich auf den Dienst in einer religiös und weltanschaulich pluralistischen Welt einzustellen. Dazu gehört auch, sich zu einem tieferen Verstehen und einer deutlicheren Artikulation des eigenen Glaubens herausfordern zu lassen. Christinnen und Christen, die den Sinn ihres Lebens im Vertrauen auf den dreieinigen Gott gefunden haben, können der Aufgabe des Umgangs mit neuer Religiosität nur aus der Mitte ihres eigenen Glaubens begegnen.

Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Vollständig überarbeitete Neuausgabe, hg. von Reinhard Hempelmann, Ulrich Dehn, Andreas Fincke, Michael Nüchtern, Matthias Pöhlmann, Hans-Jürgen Ruppert, Michael Utsch im Auftrag der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), Berlin, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005, 688 Seiten, 29,95 Euro.


Reinhard Hempelmann


Anmerkungen

1 Vgl. dazu: Religionen, Religiosität und christlicher Glaube. Eine Studie, hrsg. im Auftrag der VELKD und der Arnoldshainer Konferenz, Gütersloh 1991, S. 17f.

2 Ebd., S. 18.

3 Ebd., S. 15.

4 Regina Polak (Hg.), Megatrend Religion? Neue Religiositäten in Europa, Ostfildern 2002.

5 Vgl. dazu auch Christoph Schwöbel, Interreligiöse Begegnung und fragmentarische Gotteserfahrung, in: Concilium 37, 2001, S. 92-104.

6 Michael N. Ebertz, Neu!, in: Klaus Hofmeister/Lothar Bauerochse (Hg.), Machtworte des Zeitgeistes, Würzburg 2001, S. 100.

7 Hans-Joachim Höhn, Zerstreuungen. Religion zwischen Sinnsuche und Erlebnismarkt, Düsseldorf 1998, S. 16 (Anm. 10) im Anschluss an Franz-Xaver Kaufmann.

8 Rodney Stark/William S. Bainbridge, The Future of Religion, Secularization, Revival and Cult Formation, Berkeley/Ca. 1985, S. 24ff. Vgl. dazu auch Reinhart Hummel, Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland?, Darmstadt 1994, S. 71ff.

9 Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie (1941), in: Kerygma und Mythos I, Hans-Werner Bartsch (Hg.), Hamburg 21951, S. 18.

10 Edmund Runggaldier beschreibt diesen Vorgang mit folgenden Worten: „Bei vielen Esoterikern und faktischen Anhängern der neuen Religiosität wird das eine Weltbild nicht durch das andere ersetzt, wohl aber erweitert. Das wissenschaftliche wird für den Alltag beibehalten, und das alternative greift im rein privaten Bereich um sich“. Ders., Philosophie der Esoterik, Stuttgart 1996.

11 Gianni Vattimo, Glauben – Philosophieren, Stuttgart 1997, S. 19.

12 Hans-Joachim Höhn, Zerstreuungen. Religion zwischen Sinnsuche und Erlebnismarkt, Düsseldorf 1998.

13 Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Events. Soziologie des Außergewöhnlichen, Opladen 2000, S. 19.

14 Reinhart Hummel, Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland?, Darmstadt 1994, S. 92.

15 Christoph Schwöbel, Der Geist Gottes und die Spiritualität des Menschen, in: ders., Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003, S. 356.

16 Darauf verweist mit Recht die Studie: Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert, Hannover 1999, S. 26. Sie verweist dazu u. a. auf die prophetische Kultkritik, die von Jesus betonte Unterordnung der Religionsgesetze unter ihren humanen Zweck, das urchristliche Verständnis des Todes Jesu als Ende von sakralen Opferritualen.

17 Vgl. dazu Maria Widl, Sehnsuchtsreligion. Neue religiöse Kulturformen als Herausforderung für die Praxis der Kirchen, Frankfurt/M. 1994.