Einstellungen zu Evolution und Wissenschaft in Europa
Ein Tagungsbericht
Am 20. Februar 2009, kurz nach dem 200. Geburtstag Charles Darwins (geb. 12. Februar 1809), beschäftigte sich eine international angelegte Tagung in Dortmund mit dem Phänomen Kreationismus. Leiter und Moderator war Dittmar Graf (Fachgruppe Biologie und Biologiedidaktik der TU Dortmund). Die Fachtagung wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt; Kooperationspartner waren neben dem Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie (Dortmund) das Departement für Evolutionsbiologie der Universität Wien (Günther Pass) und die Fachgruppe Biologiedidaktik der Hacettepe Universität Ankara (Haluk Soran). Letzteres ist bedeutsam, da nach repräsentativen Umfragen in der Türkei mehr als die Hälfte der Bevölkerung die Evolutionstheorie ablehnt. Vertreter des Kreationismus oder der Bewegung für ein „intelligentes Design“ waren nicht beteiligt, auch keine Vertreter der betroffenen Religionen oder der wissenschaftlichen Theologie.
Den Ausgangspunkt der Tagung bildete die Resolution 1580 der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg vom 4. Oktober 2007 mit dem Titel „Die Gefahren des Kreationismus im Erziehungswesen“. Berichterstatter war zuerst der französische Sozialist Guy Lengage, dann Anne Brasseur, Mitglied des Europäischen Parlaments aus Luxemburg, die die Resolution in Dortmund vorstellte. Ziel sei ein Appell an die europäische Bildungspolitik gewesen, die Evolutionstheorie im naturwissenschaftlichen Unterricht zur Geltung zu bringen. Die Resolution richte sich nicht gegen die Religionen. Nach Aussage des Tagungsleiters verfolgte die Tagung einen ähnlichen Zweck, nämlich Maßnahmen gegen die religiös motivierte Evolutionskritik zu diskutieren. Deren Zunahme wurde anhand statistischer Erhebungen belegt. Die Referenten griffen diesen Punkt immer wieder auf und präsentierten eine Fülle einschlägiger Umfragen in zahlreichen europäischen Staaten. Graf erwähnte die strittige taktische Frage, ob nicht kreationistisch eingestellte Religionsgemeinschaften in die Abwehr des Kreationismus einzubeziehen seien. Praktisch beantwortete das Tagungsprogramm diese Frage mit „nein“.
Nach Grafs Einführung und dem Beitrag von Anne Brasseur diskutierte der Altmeister der Wissenschaftstheorie Gerhard Vollmer (Braunschweig) die Wissenschaftlichkeit des Evolutionsgedankens und der entsprechenden biologischen Theorien. Er führte aus, dass die Biologie meist mit deren hoher Erklärungskraft argumentiere und damit, dass ihre innere und äußere Konsistenz seit Darwin ständig gewachsen sei. Beides treffe zu, aber die Evolutionstheorien seien darüber hinaus im strengen Sinn prüfbar. Sie seien nämlich so formulierbar, dass sie empirisch widerlegt werden könnten. Dieser Sachverhalt würde in Forschung und Lehre nicht hinreichend vermittelt.
Anschließend behandelte der Wissenschaftshistoriker Thomas Junker (Tübingen) das Thema „Evolutionstheorie versus Kreationismus“ und machte klar, dass aus seiner Sicht zwischen Evolutionstheorie und Religion ein prinzipieller Widerspruch besteht. Darwins Leistung sei die Ausdehnung des naturwissenschaftlichen Weltbilds auf die Biologie gewesen. Folglich seien religiöse Menschen prinzipiell Kreationisten – oder sie seien inkonsequent in ihrem Denken und Reden. Damit setzte Junker unausgesprochen voraus, dass sich aus der Naturwissenschaft ohne weitere Prämissen oder Annahmen ein eindeutiges Weltbild ergibt und dass deshalb sämtliche im weitesten Sinn ontologischen Aussagen, auch religiöse, von diesem Weltbild her zu beurteilen sind. Rationale Voraussetzungen des Denkens im Plural gibt es dann nicht, vielmehr ist Rationalität mit Naturwissenschaft identisch. In der Konsequenz betrachtete Junker kreationistische und nicht kreationistische Varianten des Schöpfungsglaubens als Ausdruck religiöser Irrationalität.
Im Beitrag des Politologen Werner Patzelt (Dresden) ging es um Wissenschafts- und Evolutionsfeindlichkeit als gesellschaftliche Herausforderung. Er ersetzte die bis dahin vorherrschende Betroffenheitsrhetorik durch die Analyse von Spannungen und Bruchstellen im gesellschaftlichen Konsens, die durch den Kreationismus und ähnliche antimoderne Bewegungen offen gelegt würden. Die gesellschaftliche Herausforderung bestehe in der bestmöglichen Klärung von bisher Ungeklärtem, zum Beispiel bezüglich des Verhältnisses von Wissenschaft und Religion bei der Produktion „öffentlicher Wahrheiten“. Er kritisierte implizit damit die Tendenz, Gegenmaßnahmen gegen gesellschaftliche Risiken zu formulieren, ohne diese Risiken im Detail darzustellen und empirisch zu begründen. Damit blieb er allerdings allein, von den übrigen Referenten wurde eine wachsende Wissenschaftsfeindlichkeit der Religionen als selbstevident vorausgesetzt.
Anschließend gab der Biologe Ralf Sommer (Tübingen) einen interessanten Einblick in die Forschungsfelder der modernen Evolutionsbiologie, ohne sich speziell zum Umgang mit dem Kreationismus zu äußern.
Die Biologiedidaktiker Günther Pass (Wien) und James D. Williams (Sussex) schilderten danach die Situation des Biologieunterrichts und den Einfluss des Kreationismus in Österreich und Großbritannien. Williams stellte demoskopische Daten vor, die belegten, dass in England, und besonders in Nordirland, auch in den naturwissenschaftlichen Fächern teilweise kreationistische Inhalte gelehrt werden. Bedenkenswert war sein Hinweis, dass naturwissenschaftliche Lehrkräfte häufig nichts über Philosophie, Methode und Geschichte der Naturwissenschaft wüssten und deshalb Fragen hilflos gegenüberständen, die über Faktenwissen hinausgingen. Das lässt sich vermutlich auf Deutschland übertragen. Allerdings provozierte Williams selbst philosophische Rückfragen, weil er den Unterschied von Naturwissenschaft und Glauben folgendermaßen zusammenfasste: „Science is rational, and based on evidence; belief is irrational, and without evidence.“ In einem solchen „wissenschaftlichen Weltbild“ ist in der Tat alles ganz einfach – genauso einfach wie im Kreationismus.
Anita Wallin (Göteborg) kehrte zur empirischen Forschung zurück, indem sie eine Untersuchung an Oberstufenschülern vorstellte, die darauf abzielte, die Schwierigkeiten beim Verständnis der Evolutionstheorie zu identifizieren und didaktisch anzugehen. Sie unterstützte die Anregung von Williams, dass dafür einerseits inhaltliches Wissen, andererseits auch ein Verständnis für die Methode der Naturwissenschaft vermittelt werden muss. Schließlich ergänzte Haluk Soran (Ankara) die demoskopischen Daten durch Untersuchungen über die Überzeugungen von Lehramtsstudierenden in der Türkei und gab einen Überblick über die bildungspolitische Debatte vor Ort.
Ein persönliches Fazit: Viele Naturwissenschaftler stehen sowohl religiösen Sinngebungen als auch der kreationistischen Kritik an ihren Theorien gleichgültig gegenüber. Sie sind weder zu einem Dialog noch zu politischen Gegenmaßnahmen zu motivieren. Bei einer Veranstaltung vom Zuschnitt der Dortmunder Fachtagung treffen sich diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen am Verhältnis von Wissenschaft und Religion ein besonderes Interesse haben. In der Diskussion äußerten sich gegensätzliche Interessenlagen: Die einen wollten zwischen weltanschaulichen Sinndeutungen und naturwissenschaftlichem Diskurs differenzieren, um den Kreationismus für religiöse Positionen überflüssig zu machen. Aus dieser Sicht ist der Kreationismus eine theologische Position, die durch ihren falschen Anspruch entstellt wird, alternative Naturwissenschaft zu sein. Daher sind genuine Naturwissenschaft und genuine Religion vor diesem Anspruch zu schützen. Zum Beispiel wurde dafür plädiert, die dem „intelligent design“ zugeneigte Schöpfungstheologie des Wiener Kardinals Schönborn vorrangig als innerkatholische Positionierung zu verstehen. Die Naturwissenschaft habe dazu wenig zu sagen, vielmehr müssten sich – wenn sie dies wollten – Naturwissenschaftler als Personen mit ihren eigenen Sinndeutungen zu Wort melden. Andere hatten aber gerade an einer solchen Differenzierung kein Interesse. Aus ihrer Sicht schafft die Naturwissenschaft fortschreitend mehr weltanschauliche Eindeutigkeit und wird bald – so die Erwartung – die Geltung religiöser Welt- und Existenzdeutungen durch die Erklärung der biologischen Ursachen beenden.
Aus dieser Sicht ist der Kreationismus ein Symptom einer allgemeinen religiösen Irrationalität. Das eigentliche Problem sind dann nicht die vergleichsweise wenigen erklärten Kreationisten, sondern die noch nicht kulturell entmachteten Religionen, die dem vereinheitlichten wissenschaftlichen Weltbild im Weg stehen – und dies umso mehr, je differenzierter sie denken und reden. Vermutlich entgegen der Intention der Veranstalter bewegte sich die Aussprache immer wieder in diese religionskritische Richtung. Formuliert und diskutiert wurde die Frage nach dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion aber nicht. Um auf den Beitrag von Werner Patzelt zurückzukommen: Es gibt noch Klärungsbedarf.
Hansjörg Hemminger