Johannes Kandel

Empirische Forschungen zu Islam und Muslimen

Anmerkungen zur Muslim-Studie des Bundesministeriums des Innern 2012

Der öffentliche Diskurs über Islam und Muslime ist in erster Linie ein politischer Diskurs. Erfahrungen, Meinungen, Einschätzungen und Bewertungen werden, oft medial sensationsheischend aufbereitet, heftig diskutiert, wobei sich in den letzten Jahren scharfe Polarisierungen zeigten. „Islamophile“ Verteidiger der vermeintlich gesellschaftlich und politisch diskriminierten muslimischen Minderheit stritten gegen „Islamkritiker“, die, selbst ein breites Spektrum an politischen Orientierungen repräsentierend, „den Islam“ und „die Muslime“ vielfältiger Kritik unterwarfen. Abgesehen von eigenen Beobachtungen und Recherchen konnten sich die Kontrahenten auf eine Reihe von qualitativen Studien zu Muslimen in Deutschland stützen. Repräsentatives Material war indes rar bzw. gab es noch nicht.1

Diese Forschungslücke versuchte das Bundesministerium des Innern (BMI) zu schließen, das in den Jahren 2007 und 2009 (hier auch im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz) zwei Studien zu Muslimen in Deutschland veröffentlichte, die zum ersten Mal solide empirische Daten präsentierten und wichtige Einblicke in Sozialstruktur, Alltagsleben sowie gesellschaftliche und politische Orientierungen von Muslimen eröffneten: „Muslime in Deutschland“ (2007)2 und „Muslimisches Leben in Deutschland“ (2009)3.

In beiden Studien wird ein differenziertes Bild der ca. 4,3 Millionen Muslime in Deutschland gezeichnet, die sich in ethnischer, kultureller und religiöser Hinsicht unterscheiden, gleichwohl aber auch einige charakteristische Gemeinsamkeiten aufweisen: Die Religion besitzt im Vergleich zur Religiosität in der Mehrheitsgesellschaft eine erheblich größere Bedeutung für das Alltagsleben. Die religiöse Praxis und die Beachtung von religiösen Ge- und Verboten sind bemerkenswert hoch und stabil. Doch nur ein geringer Prozentsatz der Muslime beteiligt sich am muslimischen Vereins- und Verbandsleben. Bundesweit sind nur etwas über 20 Prozent in Vereinen bzw. Verbänden organisiert, die gleichwohl den Anspruch erheben, die „Mehrheit“ der Muslime in Deutschland zu vertreten. Die große Mehrheit der Muslime bejaht die Integration in die Aufnahmegesellschaft bei Beibehaltung ihrer Herkunftskultur und religiösen Identität, ohne dass dieses allgemeine Ziel näher operationalisiert und kritisch reflektiert wird. Gut belegt ist aber auch der Zusammenhang von mangelnder Integration, Empfänglichkeit für radikale und extremistische Ideologien, Gewaltbereitschaft und verstärkter Kriminalität für bestimmte Gruppen. Es gibt eine nicht unerhebliche Zahl an integrationsunwilligen Muslimen, von denen wiederum eine Minderheit radikalen ideologischen Positionen (Fundamentalismus, Islamismus) zuneigt. In diesem Segment muslimischer Bevölkerung finden wir jene „Risiko- oder Problemgruppen“ (wie die Autoren der Studie von 2007, Karin Brettfeld und Peter Wetzels, formulieren), die beunruhigen müssen.

Diese sehr aussagekräftigen und interessanten Studien wurden eher zurückhaltend diskutiert; es schien bisweilen so, dass sich das BMI vor den eigenen Ergebnissen fürchtete, stellte doch gerade die erste Studie u. a. fest, dass 14 Prozent der muslimischen Gesamtbevölkerung und 30 Prozent der jungen Muslime eine „Problemgruppe“ bilden, die durch hohe Distanz zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und/oder eine hohe Akzeptanz religiös-politischer Gewalt charakterisiert ist. Das BMI sorgte jedenfalls nicht für eine weite Verbreitung der Studie und schien auch an einer kontroversen Debatte nicht richtig interessiert zu sein.

Forschungsstand, Grundkategorien, Methodik und Forschungspraxis

Im März 2012 erschien eine dritte Studie4, die, kaum dass die ersten Ergebnisse in der BILD-Zeitung veröffentlicht wurden, heftige Kontroversen auslöste. Kritik und Verteidigung der Studie konzentrierten sich auf die festgestellte Integrationsunwilligkeit einer nicht unbedeutenden Gruppe junger Muslime.

Das Forschungsprojekt, gestartet im Februar 2009, ist gemäß den Maßstäben empirischer Sozialforschung valide und repräsentativ. Beteiligt waren Psychologen, Soziologen und Kommunikationswissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Jacobs University Bremen, der Johannes Kepler Universität Linz und der „aproxima Gesellschaft für Markt- und Sozialforschung Weimar mbH“. Die zentrale Ausgangsfrage lautete: „Welche Kriterien lassen sich empirisch begründen, um junge Muslime in Deutschland auf der Grundlage ihrer Einstellungen und Verhaltensweisen als integriert beziehungsweise radikalisiert und unter Umständen extrem islamistisch beurteilen zu können?“ (BMI, 2012, 24). Die Autoren übernehmen die aus der Extremismusforschung bekannte Unterscheidung von „Radikalisierung“ und „Extremismus“. Unter „radikal“ verstehen sie „(muslimische) Personen oder Organisationen, die sich tiefgehende gesellschaftliche und politische Veränderungen in Deutschland wünschen, die jedoch das gegenwärtige politische und rechtliche System der Bundesrepublik zumindest respektieren und die keine illegalen oder gewalttätigen Maßnahmen ergreifen oder gutheißen“ (BMI, 2012, 30).

Ferner wird„Radikalisierung“ durch folgende Indikatoren definiert: „Vorurteile gegenüber dem Westen; Vorurteile gegenüber Juden (Antisemitismus/Antizionismus); religiöser Fundamentalismus; negative Emotionen gegenüber dem Umgang des Westens mit der islamischen Welt; Demokratiedistanz (negative Einstellungen zur Demokratie); Akzeptanz ideologisch fundierter Gruppengewalt“ (BMI, 2012, 118f).

Der Begriff des „Extremismus“ soll nach Auffassung der Autoren im Rahmen ihrer Studie „nur auf diejenigen muslimischen Personen und Organisationen angewandt werden, die aktiv Maßnahmen ergreifen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gerichtet sind oder die ein derartiges Vorgehen begrüßen oder unterstützen. Beispiele für solche extremistischen Verhaltensweisen wären alle Formen des Terrorismus und der religiös motivierten Gewalt sowie die Zustimmung zu oder Unterstützung von derartigen Verhaltensweisen“ (BMI, 2012, 28ff).

Diese Extremismusdefinition ist m. E. zu „weich“, denn die Fokussierung auf aktive (z. T. gewalttätige) Maßnahmen und die Zustimmung dazu bzw. deren Unterstützung erfasst nicht ganz das, was der Verfassungsschutz unter „Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung“ versteht, obwohl die Definition des Verfassungsschutzes zitiert wird. Damit wird z. B. der wichtige Bereich extremistischer Ideologieproduktion ausgeblendet, der in seinen vielfältigen Formen nicht zwingend nur auf Unterstützung religiös-politisch motivierter Gewalt ausgerichtet sein muss, gleichwohl aber deutlich gegen die Prinzipien freiheitlicher Demokratie verstößt. Nach dieser Definition wären diverse islamistische Gruppierungen (z. B. Milli Görüş) nicht extremistisch.

„Religiöser Fundamentalismus“ wird als besonders „strenge Form der Religiosität“ gefasst, die von einem reduktiven Dualismus („gut“, „böse“, „erlaubt“, „verboten“) und dem Anspruch auf Durchsetzung als unantastbar geltender religiöser Lehren geprägt wird, die für die gesamte Lebensordnung der Menschen verbindlich gelten sollen. Das ist eine dem Forschungsstand im Großen und Ganzen entsprechende Definition.

Zur Beantwortung der Ausgangsfrage nach Integration und Radikalisierung haben die Autoren der Studie ein „integratives Theoriemodell“ entwickelt, das die Komplexität des Untersuchungsfeldes abbilden soll, indem Faktoren, die zu Integrationsbereitschaft bzw. zu Radikalisierungsprozessen beitragen, gebündelt und systematisiert werden (BMI, 2012, 33ff). Dazu gehören u. a. sozialstrukturelle Faktoren(z. B. Geschlecht, Alter, Bildung, Herkunftsland), psychologische Dispositionen/Einstellungen (z. B. Autoritarismus, traditionelle und militante Wertorientierungen, Antisemitismus), Diskriminierungswahrnehmungen, Verbreitung von Vorurteilen in westlichen Medien und die Berichterstattung in den Medien der Herkunftsländer, Tendenzen von Demokratiefeindlichkeit und die wahrgenommene Bedrohung des Islam durch westliche Werte, Einbindung in islamistische Organisationen (BMI, 2012, 34f).

Zielgruppen des Forschungsprojekts bildeten die Altersgruppen der 14- bis 32-jährigen „muslimischen Immigranten aus arabisch- und türkischsprachigen Ländern und muslimischen Deutschen“ (BMI, 2012, 38).

In zwei Erhebungszeiträumen wurden zunächst qualitative Mehrgenerationenfallstudien zu muslimischen Migranten und muslimischen Deutschen angefertigt, um qualitative Erkenntnisse über Integrations- und Radikalisierungstendenzen bei Muslimen in Deutschland zu gewinnen (Modul 1). Befragt wurden sechs Familien. Es folgte dann ein Pretest für die Telefonbefragung (Modul 2). Danach begann die eigentliche telefonische Panelbefragung von 14- bis 32-jährigen muslimischen Migranten (Modul 3) und muslimischen Deutschen (Modul 4). Die gefundenen Ergebnisse wurden mit den Befunden einer parallelen Panelstudie verglichen, die im gleichen Zeitraum mit deutschen Nichtmuslimenin der gleichen Altersspanne erhoben wurden (Modul 5). Das Projekt schloss mit der Analyse von neun islamorientierten Internetforen (mit 6725 „postings“), der Durchführung von Fokusgruppen (Modul 6) sowie einer Analyse zielgruppenorientierter Berichterstattung in ARD, ZDF, RTL, Sat 1, Al-Jazeera, Al Arabiya und den türkischen Sendern TRT Türk und Kanal D.

Das transdisziplinäre Forschungsdesign der Studie in der Verknüpfung von theoretischen Ansätzen aus Psychologie, Soziologie, Kommunikations- und Medienwissenschaft und der Einsatz eines multimethodischen Instrumentariums (Familieninterviews, standardisierte Panel-Befragung, Internetanalysen, Diskussionen mit Fokusgruppen und medienwissenschaftliche Inhaltsanalysen) erwies sich als den Forschungszielen adäquat.

Zusammenfassung einiger Ergebnisse

1. Die Mehrfachgenerationfallstudien machen deutlich, dass trotz der Generationsunterschiede und der verschiedenen lebensweltlichen Zugänge zur Religion bei den Befragten ein „Wir“-Gefühl als Muslime dominiert. Dieses „Muslim-Sein“ stellt für die meisten aber keinen Hinderungsgrund dar, in Deutschland „bi-kulturell“ zu leben, d. h. bei Anerkennung der ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschiede dennoch integriert zu sein, wobei die Auffassungen darüber, was Integration sei und in welchem Grad man sich integrieren müsse, deutlich differieren (BMI, 2012, 66ff, siehe auch unterschiedliche Integrationskonzepte, 107ff). So zeigen die stärker religiösen Familien eine tendenziell geringere Identifizierung mit Deutschland als die weniger religiösen. Bei den religiösen Familien geht mit der Religion offenbar eine traditionelle Werthaltung einher, die sie bei stärkerer Anpassung an die Kulturen des Aufnahmelandes gefährdet sehen (BMI, 2012, 96f). Die westliche Welt wird, vor allem aufgrund der vermeintlich durchgängig negativen Bewertung des Islam und der Muslime durch westliche Medien, auch distanziert und negativ gesehen. Terrorismus wird als „unislamisch“ verurteilt und als dem Islam insgesamt schädlich zurückgewiesen.

2. An der telefonischen Panelbefragung von nichtdeutschen Muslimen, deutschen Muslimen und deutschen Nichtmuslimen nahmen in der ersten Welle (2009) 923 Personen teil, von denen 755 (82 Prozent) einen Migrationshintergrund hatten. 849 Personen (92 Prozent) gehörten einer Religionsgemeinschaft an, 717 von ihnen waren Muslime, 132 Christen. Bei den Muslimen dominierte mit 60 Prozent die sunnitische Glaubensrichtung, 9 Prozent gaben an, Schiiten zu sein. 6 Prozent waren Ahmadis, 5 Prozent Aleviten (BMI, 2012, 124ff). In der zweiten Welle der Befragung (2010) nahmen nur noch 439 Personen teil. Zwischen diesen beiden Teilnehmergruppen zeigten sich „bezüglich der Variablen Alter, derzeitiger beruflicher Status sowie höchster berufsqualifizierender Abschluss bedeutsame Unterschiede“ (BMI, 2012, 142).

Im Blick auf die Frage nach der Integration untersuchten die Autoren, inwieweit die Befragten ihre traditionelle Herkunftskultur zu bewahren wünschen und zugleich bestrebt sind, „wesentliche Beschaffenheiten der neuen Mehrheitskultur zu übernehmen“ (BMI, 2012, 110). Sie fragten aber auch danach, ob und in welchem Umfang Einheimische bereit seien, Zuwanderern die Bewahrung ihrer Herkunftskultur zu gestatten. Ist der „Akkulturationsprozess“ (d. h. der Prozess der Veränderung von Kulturen im Aufeinandertreffen von Zuwanderern und Einheimischen) auf Bewahrung und Übernahme zugleich gerichtet, sprechen die Autoren von „Integration“. Dies ist gleichwohl nur eine Dimension im Akkulturationsprozess: Wird von Zuwanderern die Übernahme von zentralen Elementen der Mehrheitskultur verweigert, so ist die Folge „Separation und Marginalisierung“. Verneinen Einheimische gegenüber Zuwanderern die Bewahrung der Herkunftskultur, so fordern sie „Assimilation bzw. Marginalisierung“.

Es gibt somit unterschiedliche Orientierungen im Akkulturationsprozess, sowohl aufseiten der Einheimischen als auch der Zuwanderer. Die Autoren unterscheiden vier grundlegende „Akkulturationsorientierungen“, die eher politisch-konzeptionell formuliert so lauten: „Multikulturalismus der Mehrheitsgesellschaft deckt sich mit der Integration der Einwanderer, Melting Pot wird als Entsprechung zur Assimilation begriffen, Segregation ist das Pendant zur Separation, und Exklusion entspricht der Marginalisierung“ (BMI, 2012, 111).

Bei allen befragten Muslimen ist das Ziel, die eigene Herkunftskultur zu bewahren, stark ausgeprägt, am stärksten aber bei den nichtdeutschen Muslimen (BMI, 2012, 607ff). Die Integrationsneigung ist unterschiedlich, am stärksten jedoch bei den deutschen Muslimen, am schwächs­ten bei den nichtdeutschen Muslimen. 78 Prozent der deutschen Muslime befürworten Integration, aber nur 55 Prozent der nichtdeutschen Muslime (BMI, 2012, 614). 22 Prozent haben eine eher distanzierte Haltung und präferieren die Herkunftskultur. Das ist ein Ergebnis, das für Fortschritte in der Integration spricht, jedenfalls wird es so von einigen Autoren der Studie gewertet. Doch relativieren sie ihre Ergebnisse selbst. Wie sie in selbstkritischer Bewertung darstellen, erheben sie nicht den Anspruch, „die Probleme, Phänomene, Ursachen und Auswirkungen der Integrations- und/oder Radikalisierungsprozesse junger Muslime in Deutschland so zu spiegeln beziehungsweise so zu erklären, wie sie sich tatsächlich im gegenwärtigen Deutschland abspielen“ (BMI, 2012, 631). Sie bilden „Interpretationskonstrukte“ ab, d. h. sie wollen nicht die politischen Probleme von Integration und Radikalisierung klären, sondern aus dezidiert psychologisch-sozialwissenschaftlicher und kommunikationswissenschaftlicher Sicht „psychologische Konstruktionen auffinden, die uns etwas darüber sagen können, wie die Einstellungen von Muslimen und Nichtmuslimen zur Integration und zur Radikalisierung beschaffen sind und verursacht werden“ (BMI, 2012, 633). Sie wissen, dass eine Interviewsituation ein ganz unterschiedliches individuelles Kommunikationsverhalten provozieren kann, das etwa zwischen den Polen „Self-Disclosure“ (Selbstöffnung) und „Impression-Management“ (gezielte Selbstdarstellung) liegt. So mögen die Antworten wenig darüber aussagen, welche konkreten Vorstellungen die Befragten mit Integration verbinden, geschweige denn, dass sie Rückschlüsse auf tatsächliches integratives Verhalten zuließen. Eine Prüfung der Antworten auf ihre „Faktizität“ wollen die Autoren auch explizit vermeiden. Sie bescheiden sich mit den subjektiven Perspektiven der Befragten, die sie gleichwohl mit ihren „wissenschaftlichen Konstruktionen“ kontrastieren, wobei diese „Konstruktionen“ auf „Partialtheorien“ und bereits vorliegenden empirischen Befunden fußen (BMI, 2012, 634ff). Eine Prüfung der „Faktizität“ wäre ggf. nur mithilfe von Integrationsmonitoring zu erreichen, wobei die bislang entwickelten Prüfverfahren zurzeit noch viel zu wenig trennscharf und differenziert erscheinen. Der hier formulierte Vorbehalt gilt natürlich auch für den Aspekt der Radikalisierung und des Fundamentalismus.

Etwa 15 Prozent der deutschen Muslime können im Blick auf Radikalisierung und Fundamentalismus als „streng Religiöse mit starken Abneigungen gegenüber dem Westen, tendenzieller Gewaltakzeptanz und ohne Integrationstendenz“ identifiziert werden. Dieses Einstellungsmuster weisen bei den nichtdeutschen Muslimen 23,8 Prozent der Befragten auf (BMI, 2012, 615). Die Autoren weisen jedoch ausdrücklich darauf hin, dass diese Prozentangaben „keinesfalls weder auf alle in Deutschland lebenden Muslime im Allgemeinen noch auf alle in Deutschland lebenden jungen Muslime im Alter von 14 bis 32 Jahren hochgerechnet werden können und dürfen“ (BMI, 2012, 277). Das muss dann auch für die 78 Prozent der deutschen Muslime und die 55 Prozent der nichtdeutschen Muslime gelten, die Integration befürworten.

Für alle befragten Muslime gilt – mit gewissen Schwankungen – dass eine „traditionelle Religiosität“ religiösen Fundamentalismus fördert, der wiederum Gewaltakzeptanz verstärkt. Religiöser Fundamentalismus ist zudem eine für Muslime sehr stabile Eigenschaft. „Autoritäre Einstellungen“ unterstützen wiederum Gewaltakzeptanz, und erlebte gruppenbezogene Diskriminierungen befördern Angst vor dem Westen, Vorurteile und Distanz zur Demokratie. Vorurteile gegenüber Juden sind bei den befragten Muslimen deutlich stärker ausgeprägt als bei deutschen Nichtmuslimen. Dies gilt auf der Ebene einzelner Items gleichermaßen für „politische Israelkritik“ und „israelorientierten Antisemitismus“ (BMI, 2012, 220). Im Blick auf die ethnische Herkunft haben Muslime, die aus dem Nahen Osten und von der arabischen Halbinsel stammen, signifikant stärkere Vorurteile als Muslime, die in Afghanistan, Pakistan oder auf dem Balkan geboren sind (BMI, 2012, 230). Bei den „negativen Emotionen gegenüber dem Umgang der westlichen Welt mit dem Islam“ überwiegen bei den befragten Muslimen Trauer, gefolgt von Angst und Wut, während Hass die am wenigsten empfundene Emotion ist (BMI, 2012, 255). Für die Messung von „Demokratiedistanz“ haben die Autoren keine Gesamtskala bilden können, sondern fragten vier Statements ab (BMI, 2012, 258). Dabei zeigte sich, dass die nichtdeutschen Muslime am stärksten dem Statement zustimmen: „Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe.“

3. Die Medienanalyse der Autoren – Hauptnachrichtensendungen ausgewählter deutscher (ARD Tagesschau, ZDF heute, RTL Aktuell, Sat.1 Nachrichten), türkischer (TRT-Türk, Kanal D) und arabischsprachiger Sender (Al Jazeera, Al Arabiya) –, fokussiert auf 692 Beiträge, zeigte (stichpunktartig): Konzentration der Beiträge auf Probleme und Konflikte zwischen Muslimen und Nichtmuslimen im Inland; Fokussierung auf den Nahostkonflikt bei arabischen und türkischen Sendern; türkische Sender behandeln häufig das Verhältnis von Muslimen und Nichtmuslimen in der Türkei; überdurchschnittliche Kriegsberichterstattung und Berichte über Terrorismus in deutschen Sendern; die thematischen Schwerpunkte der Sender sind: (1) Türkei, (2) Israel, (3) Afghanistan-Krieg, (4) Deutschland, (5) Terrorismus, (6) Westen als Täter und (7) Dramatisierung; Muslime werden sowohl als Opfer als auch als Täter dargestellt.

Angesichts der politischen Tagesaktualität verwundert die Konzentration der Sender auf die genannten Themen nicht. Die Autoren enthalten sich auch an dieser Stelle jeder Medienschelte.

Insgesamt ergibt sich ein düsteres Bild im Blick auf die deutschen Privatsender (RTL und Sat 1) sowie die arabischen (Al Jazeera, Al Arabiya) und türkischen (Kanal D und TRT Türk) Sender: Sie befördern ganz offensichtlich religiösen Fundamentalismus, negative Emotionen gegenüber dem Westen und äußern die stärksten Vorurteile gegenüber den Juden. Die türkischen Sender verstärken zudem ideologisch fundierte Gewaltakzeptanz und machen Israel allein für die Konflikte im Nahen Osten verantwortlich (BMI, 2012, 618).

Von den neun untersuchten Internetforen waren nur drei als explizit islamistisch/fundamentalistisch zu bezeichnen. Welche Wirkungen diese auf die Nutzer haben, konnte mit dem Frageansatz des Projekts nicht geklärt werden.

4. Ausführlich widmet sich Autor Wolfgang Frindte der Frage, ob die Veröffentlichung des Buches von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ und der ihn begleitende „Medien-Hype“ das Verhältnis von Muslimen und Nichtmuslimen gestört und somit Integration eher behindert haben. Er stellt bei den Befragten einen „Sarrazin-Effekt“ empirisch fest und schlussfolgert: „Bedenkt man, dass es in den Debatten um das Buch von Thilo Sarrazin vor allem um die Unterschiede zwischen muslimischer Kultur und Lebenswelt einerseits und den christlich-jüdischen Traditionen und kulturellen Werten andererseits ging, so legen unsere Befunde zumindest die Annahme nahe, dass die kontrovers geführten Debatten (an denen die Muslime in Deutschland nur teilweise beteiligt waren) auch einen konträren und sicher von niemandem gewollten Effekt gehabt haben könnten: Mit der Veröffentlichung des besagten Buches und durch die anschließenden Debatten haben sich möglicherweise die nichtdeutschen Muslime als noch weiter aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen wahrgenommen und deshalb mit noch stärker ausgeprägten Vorurteilen gegenüber dem Westen und den Juden und mit einer noch stärkeren Abgrenzung von der Kultur der deutschen Mehrheitsgesellschaft reagiert“ (BMI, 2012, 593).

Sicherlich hat Sarrazins Buch Polarisierungen, wie sie Frindte beschreibt, verstärkt. Doch können Polarisierungen auch zu offener Debatte und Klärungen beitragen. Dabei kommt es auf den Zustand öffentlicher Kommunikationskultur und deren Wahrnehmungsfähigkeit an, Fakten von Versäumnissen deutscher Integrationspolitik sachgerecht zu diskutieren. Es hat sich in den Debatten über dieses Buch gezeigt, dass die Fähigkeit vor allem nichtdeutscher Muslime zur Sach- und Selbstkritik jedenfalls sehr schwach ausgeprägt ist, wie Frindte empirisch belegt.

Schlussfolgerungen

Trotz des heuristisch fruchtbaren multi-methodischen Ansatzes der Studie, einer Mischung aus qualitativen und quantitativen Verfahren, bietet sie im Blick auf Interpretationen, Bewertungen und Analysen von Integration und Radikalisierung nichts wirklich Neues. Nur eine kleine Minderheit der befragten Muslime lässt sich als „radikalisiert“ kennzeichnen. Eine Größenordnung dieser Minderheit in Bezug auf die muslimische Gesamtbevölkerung oder muslimische Jugendliche in der Altersspanne zwischen 14 und 32 Jahren kann nach Aussage der Autoren aus den Ergebnissen und mit den Verfahren der Studie nicht hochgerechnet werden. So wurde viel Aufwand ohne wirkliche belastbare Aussagen betrieben, denn gesellschaftlich und politisch wäre ja eine Einschätzung dieser Größenordnungen von höchster Relevanz. Insofern haben die Autoren ihre eigene Ausgangsfrage nicht befriedigend beantwortet.

Vor diesem Hintergrund wirken die Schlussfolgerungen der Autoren, insbesondere ihre praktischen Anregungen, tendenziell abgehoben von ihren Forschungsergebnissen. Viele dieser Anregungen sind nicht neu und wurden längst in der Integrations- und Muslimdebatte positiv aufgenommen. Bei einigen der Anregungen muss gleichwohl kritisch nachgefragt werden. Es ist inzwischen eine Binsenweisheit, dass das religiös-fundamentalistische Lager differenziert zu betrachten ist und eher „friedliche“ Gruppen von militanten Dschihadisten zu unterscheiden sind. Gleichwohl gibt es hier Grauzonen und fließende Übergänge, vor allem im Blick auf die expandierende Gruppe der Salafisten. Den Salafismus pauschal als „apolitisch“ zu bezeichnen, ist abwegig. Die Ideologieproduzenten sind nicht weniger politisch-islamistisch und daher gefährlich für die freiheitliche Demokratie als die offen militant auftretenden Dschihadisten. Deshalb sind solche Gruppierungen keineswegs aus der Terrorismusbekämpfung auszunehmen und nur von „Sektenbeauftragten“ zu beobachten, wie die Autoren empfehlen (BMI, 2012, 648). Es bleibt unklar, was die Studie im Blick auf bestimmte fundamentalistische Gruppen eigentlich will: Einerseits sei es nicht zielführend, „restriktiv“ gegen sie vorzugehen, andererseits auch nicht zielführend, sie in gesellschaftliche Dialoge mit einzubeziehen (BMI, 2012, 648). Sollen Zivilgesellschaft, Staat und Politik sie ignorieren? Wohl kaum!

Gänzlich undifferenziert argumentieren die Autoren, wenn sie fordern, dass auf „restriktive Maßnahmen“ wie „Kopftuchverbot“ oder „Minarettverbot“ zu verzichten sei, um nicht unerwünschte Radikalisierungen zu verstärken. Zunächst einmal können „Kopftuchverbot“ und „Minarettverbot“ nicht auf die gleiche Ebene gestellt werden, denn hier werden politische und rechtliche Grundfragen von Religionsfreiheit in unterschiedlicher Weise berührt. Abgesehen davon, dass es weder von der Politik noch aus der Zivilgesellschaft (mit wenigen Ausnahmen) Forderungen nach einem pauschalen Kopftuchverbot in öffentlichen Räumen gibt, muss die Kopftuchproblematik im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 24.9.2003) betrachtet und zwischen öffentlichem Dienst und öffentlichem Raum unterschieden werden. Es ist keineswegs zwingend, dass Kopftuchverbote im öffentlichen Dienst, die in zahlreichen Bundesländern erlassen worden sind, pauschal die „Extremisten“ stärken. Für die Mehrheitsgesellschaft kommt es darauf an, solche Verbote sachgerecht zu kommunizieren, denn es geht dabei stets um eine Güterabwägung zwischen individueller Religionsfreiheit und Grundrechten Dritter bzw. Gütern von Verfassungsrang, wie die ausführliche Kopftuchdebatte hinreichend deutlich gemacht haben müsste.

Es ist auch nicht einzusehen, warum Terrorismus nicht auch als „religiös motivierte Gewalt“ bezeichnet werden sollte (BMI, 2012, 647). Es ist ein gut gesichertes Faktum der internationalen Terrorismusforschung (z. B. bei Hoffman, Juergensmeyer, Coolsaet)5, dass der religiös motivierte Terrorismus seit den 1980er Jahren stark zugenommen hat, was auch die von den Autoren häufig zitierten moderaten und säkularen Muslime einräumen. Gerade weil sich die Mehrheit der Muslime von solcher Gewalt distanziert und einen „Missbrauch“ des Islam unterstellt, kommt es darauf an, Ursachen, Verlaufsformen und Argumentationsstrategien religiös motivierter Gewalt herauszuarbeiten und den Verwendungskontext des Religiösen durch dschihadistische Gruppierungen genauer Analysen zu unterziehen. Es kann nicht angehen, aus welchen Gründen auch immer auf die Herstellung dieses Zusammenhanges und offensiver öffentlicher Diskussion zu verzichten.

Für die Muslime definieren die Autoren das zentrale gesellschaftliche Integrationsproblem als Konstruktion und Wahrung muslimischer Identität in nichtmuslimischer Umgebung. Sie verwenden häufig die Kategorie „muslimische Identität“, ohne deutlich zu machen, was sie darunter verstehen und wie diese „Identität“ in nichtmuslimischer Umgebung gelebt werden sollte. Doch genau darauf kommt es im gesellschaftlichen und politischen Diskurs an. Die Frage bleibt offen, wie sich „muslimische Identität“ aus Sicht der Muslime definiert, welche Vorstellungen von „muslimischer Identität“ in der Mehrheitsgesellschaft vorherrschen und wie besagte Identität zu den fundamentalen Verfassungsprinzipien des demokratischen, pluralistischen Rechtsstaats und grundlegenden Elementen der Mehrheitskultur steht.


Johannes Kandel, Berlin
 

Anmerkungen

1 Zum Forschungsstand vgl. die Zusammenfassung in „Muslimisches Leben in NRW“, hg. vom Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales, Düsseldorf 2011, 9ff.

2 Karin Brettfeld/Peter Wetzels, Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Ergebnisse von Befragungen einer multizentrischen Studie in städtischen Lebensräumen, Hamburg 2007.

3 Sonja Haug/Stephanie Müssig/Anja Stichs, Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009.

4 Bundesministerium des Innern (Hg.), Lebenswelten junger Muslime in Deutschland. Ein sozial- und medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Prävention islamistischer Radikalisierungsprozesse in Deutschland. Abschlussbericht von W. Frindte, K. Boehnke, H. Kreikenbom, W. Wagner, Berlin 2012.

5 Bruce Hoffman, Terrorismus. Der unerklärte Krieg, Bonn 2002; Mark Juergensmeyer, Terror in the Mind of God, Berkeley 2003; ders., Die Globalisierung religiöser Gewalt, Hamburg 2009; Rik Coolsaet (Hg.), Jihadi Terrorism and the Radicalisation Challenge in Europe, Aldershot 2008.