Endzeitliche Liebesströme
Eine Erweckungsversammlung von „Wort+Geist“
„Die herrlichen Auswirkungen der Anwesenheit Jesu Christi im Glaubenden warten darauf entdeckt zu werden. Für jeden Einzelnen steht ein neues Leben voll göttlicher Liebe, echter Freude und außergewöhnlicher Freiheit bereit.“ Mit diesen Worten wirbt im Internet die umstrittene neupfingstlich-charismatische Bewegung Wort+Geist, deren Zentrum sich im bayerischen Röhrnbach befindet. Mittlerweile gibt es im deutschsprachigen Raum rund 30 Gemeinden. Der MD berichtete bereits über die problematische Entwicklung der Bewegung um den „Völkerapostel“ Helmut Bauer (5/2009, 177ff; 9/2009, 348f). Die Weltanschauungsbeauftragte der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Annette Kick, hat eine Erweckungsversammlung der Stuttgarter Tochtergemeinde besucht und ihre Eindrücke niedergeschrieben. In einem zweiten Beitrag liefert sie einen Erklärungsversuch für die Suggestionskraft Bauers und die zunehmenden Radikalisierungstendenzen von Wort+Geist.
„Apostel“ Helmut Bauer und die Sängerin „Contessa“ sind für den 28./29.11.2009 bei einer Erweckungsveranstaltung im Wort+Geist-Zentrum Stuttgart angekündigt. Die „Stuttgarter“ Gemeinde hat ihren Sitz in einem alten Fabrikgebäude am Rande des 40 km von Stuttgart entfernten Ortes Kirchentellinsfurt. Geleitet von ihrem „Pastor“ Georg Karl war sie einst eine Tochtergemeinde der Biblischen Glaubens-Gemeinde Stuttgart und wurde erst vor einigen Jahren von Wort+Geist übernommen.
Etwa 250 Personen, altersmäßig sehr gemischt, strömen zum Fabrikgebäude. Innen bietet sich ein überraschendes Bild: Vom Treppenhaus an, über den Vorraum bis hinein in den Gottesdienstraum stehen gleich- und gemischtgeschlechtliche Paare, die sich in innigen Umarmungen befinden. Nur wenige, vermutlich Neulinge, sitzen auf den Stühlen. Die Mehrheit wird in einen Reigen von Umarmungen, Streicheln, Lachen, Küssen hineingenommen, begleitet von ohrenbetäubender Musik. Es handelt sich um einen intensiven Austausch von Zärtlichkeiten und innigen Blicken, der bei vielen in einer Art Verzückung endet: in Form von Zittern, Weinen, Lachen, Schwanken, gemeinsamem Zu-Boden-Gehen. Eine etwa 35-jährige, sehr aufgedreht wirkende Frau reiht eine innige Begegnung an die andere. Unter anderem umarmt sie abwechselnd einen ihr offenbar unbekannten Mann und seine Partnerin. Für eine Weile setzt sie sich jeweils auf ein Knie der beiden, wie ein Kind bei seinen Eltern. Selbst während der Predigt Bauers bietet diese Frau sehr eindrucksvolle Umarmungsschauspiele. Bauer sagt: „Ich habe heute Morgen auf dem Parkplatz eine Frau getroffen, die gestern schon da war. Sie sagte mir aber, dass es sie erst heute Morgen auf dem Parkplatz erwischt habe. Wo ist sie?“ Die Frau meldet sich mit lautem Lachen und stürzt sich in die nächsten Arme. Sie will sich wohl immer wieder bestätigen lassen, dass das mit dem Liebesstrom tatsächlich „funktioniert“.
Nach einer langen, mit lauter Musik untermalten Eingangsphase begrüßt „Pastor“ Karl die Gäste mit hysterischem Lachen und Stöhnen: „Ahhh, spürt ihr es? Schon gestern Abend war hier alles bis zum Rand mit Liebe ausgefüllt. Und heute soll es noch mehr werden, die Vollendung! Unvorstellbar!“ Allgemeines Schreien, Johlen, Lachanfälle. Endlich schreitet Bauer mit einem Tross von Begleitern durch den Raum, in Siegerpose. Viele stürzen ihm nach, versuchen ihn zu berühren. Schnell bildet sich ein Knäuel von etwa zwölf Personen, die ihn und einander während des nun folgenden Lobpreises unentwegt verzückt umarmen und streicheln. Schaut man auf diesen sich bewegenden Knäuel von glückselig lächelnden Gesichtern und innig sich umarmenden Körpern, fühlt man sich auf eine orgiastische Party versetzt. Musik und Liedtexte des Lobpreises stören diesen Eindruck nicht wesentlich. Denn sie transportieren keine Inhalte, nur eine wohlig erotisierte Stimmung: „Deine Liebe in mir“; das Du, der Geber dieser Liebe wird nicht besungen, dafür umso enthusiastischer die Wirkungen: Sie macht „stark“, „schön“, „frei“, „vollkommen“, „strahlend“, sie „fließt aus mir“. Contessa, die Sängerin der Lobpreisband, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie während des Gottesdienstes immer wieder in extrem lautes, langes und schrilles Lachen ausbricht. Nach dem Lobpreis löst sich der Knäuel um Bauer allmählich auf. Eine Frau ist völlig versteift und muss zu ihrem Platz getragen werden. Da es nicht gelingt, sie auf ihren Stuhl zu setzen, wird sie einfach auf den Boden gelegt. Aus dem sich auflösenden Knäuel ist nun das genüssliche Glucksen und Lachen von Bauer zu hören: „Ahhh, das ist ein Gottesdienst! Ganz anders als die Gottesdienste, in die man fröhlich hineingeht und depressiv herauskommt, diese Geisterdienste!“ „Ja, jetzt seid ihr gefüllt. Macht’s euch schön gemütlich. Dann komme ich mit dem Wort zu euch.“ Er lässt sich eine Bibel bringen und liest Phil 4,6: „Sorgt euch um nichts ...“ Von einer Auslegung des Verses oder gar des Zusammenhangs kann aber keine Rede sein.
Bauer wirkt gar nicht wie ein fanatischer Prediger. Seine ruhige, sonore Stimme, die bayerische Dialektfärbung, das fröhliche Lachen – nicht hysterisch oder aggressiv wie bei vielen seiner Nachahmer –, der einfache Wortschatz, die gemütliche Beleibtheit, auch eine gewisse erotische Ausstrahlung – all das vermittelt den Eindruck von einem Menschen, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht, dem man vertrauen kann. Er scheint das Leben in vollen Zügen zu genießen und verspricht allen ein ebenso schönes Leben. Die weltfremdesten Lehren klingen aus dem Mund eines solchen Mannes glaubhaft.
Nach den ersten Sätzen seiner Predigt unterbricht Bauer sich und stellt klar: „Was ich sage, ist Gottes Wort. Er spricht durch mich, ich bin der Gesandte. Ich weiß noch nicht, was er heute sagen will. Wer hier meint, Pastor Bauer zu hören, dem bringt es nichts.“ Es sei übrigens nicht wahr, was die „Verfolger“ sagten, dass er einen Alleinanspruch als Apostel habe. Nach ihm würden noch viele kommen, solche wie er. Er sei nicht nur einer.
Ausgehend vom Stichwort „Sorge“ beschreibt Bauer lebensnah, wie Menschen sich sorgen, wie sie schlecht drauf sind, wie sie es schwer miteinander haben. Die Zuhörer, etwa das unglücklich wirkende Paar, fühlen sich sichtlich verstanden. Bauer beschreibt, wie er selbst manchmal mit schlechter Laune aufwacht. „Aber das ist seelisch, das kommt von außen!“ Wenn es so ist, macht er sich ein schönes Frühstück, setzt sich hin und fragt Gott, wo denn bitteschön die neue Kreatur sei. Und dann auf einmal komme die ganze Power wieder, die neue Kreatur setze sich wieder durch. „Das Alte ist das Seelische und kommt von außen. Es gibt keine Verbindung zwischen Seelischem und Geistlichem. Die meisten haben noch gar nicht begriffen, was die neue Kreatur ist. Und wo ist Gott? Wohin richtet sich das Gebet?“ Bauer bittet einen gut aussehenden jungen Mann aufzustehen. „Hier steht ein Tempel des Heiligen Geistes. Gott ist Geist. Da drin ist Gott“, sagt er und zeigt auf den Mann. „Ihr müsst also nichts tun, nichts denken, euch einfach nur füllen lassen von Gottes Geist, euch übernehmen lassen von der Liebe.“
Immer wieder wird auf die real spürbare Liebe im Raum verwiesen. „Diese Liebe, das ist Gott. Das hat nichts mit Erotik zu tun. In Christus gibt es keine Männer und Frauen mehr. Das ist eine völlig andere, die göttliche Liebe.“ Die „Verfolger“ würden ihm vorwerfen, dass er sich zu wenig von der Esoterik abgrenze. Aber er habe erkannt: „Gott ist Energie“. Von dieser Energie sei beim Dalai Lama mehr zu spüren als bei den „Verfolgern“, den sogenannten Christen. „Und wenn schon so viele Menschen zum Dalai Lama pilgern, wie viele werden kommen, wenn sie merken, dass hier bei uns in Seinem Werk, im Leib Christi, der Geist Gottes selbst ist?“ Alles ist eins und scheint austauschbar: „Christus in uns“, „Geist Gottes“, „Gott“, „Energie“ und vor allem „Liebe“. „Gott ist Liebe“, man müsse sie nur strömen lassen und alles werde gut. Bauer sagt, er wolle „nie mehr etwas von Minderwertigkeitsgefühlen hören, auch keine Sündenbekenntnisse mehr, nie mehr! Sie blockieren nur die Liebe.“Auf einmal spricht er von seiner riesigen Power, die er einfach habe, die ihm manchmal selbst lästig sei. Sein massiger Körper bewegt sich plötzlich bedrohlich auf das Publikum zu, und er ruft: „Ich komm’ jetzt zu euch mit meiner Power!“
Er berichtet in bedrängendem Ton, wie er vor kurzem in Linz bei seinem Gang durch die Reihen alle mit seiner Kraft umgerissen habe; als erstes einen bis dahin kritischen Zuhörer. Die Ankündigung reicht, Bauer muss nicht mehr durch die Reihen gehen: Einige rennen nach vorn und fallen um. Lautes Schreien erfüllt den Raum, viele verfallen in unkontrolliertes Zucken und Schwanken. Eine ordentlich gekleidete und frisierte ältere Dame, die den Gottesdienst bis dahin relativ unbewegt verfolgt hat, gerät nun auch in merkwürdige Zuckungen. Die Ekstase nimmt beängstigende Ausmaße an. Aber Bauer hat die Situation im Griff. Er geht mit Lautstärke und Sprechtempo zurück, um danach wieder aufzudrehen. Er spielt mit der Stimmung im Raum wie mit einem Gaspedal. Fast nüchtern und kaufmännisch wirken dann seine Hinweise zu den verschiedenen „Darreichungsformen“ seiner Power. Man könne die Kraft auch über Tücher beziehen. Letzthin sei sogar jemand dadurch geheilt worden, dass er das Buch mit Bauers Foto vorne drauf über Nacht auf den Bauch gelegt habe.
Jetzt reißen viele Besucher sich Schals, Jacken usw. vom Leib, die in großen Waschkörben eingesammelt werden, damit sie sich mit Bauers Kraft vollsaugen können. Während die Segnungen und Kraftausteilungen weitergehen, verlasse ich nach mehr als zwei Stunden den Raum. Draußen auf dem Büchertisch liegen einige Stapel von Bauers neuem Werk „Liebe – der Weg weit darüber hinaus“, daneben samt Kugelschreiber die Unterschriftenlisten mit der Überschrift „Keine weiteren Verleumdungen von Wort+Geist“. Hier draußen prallt das „Außerirdische“, das Bauer so gerne beschwört, auf das Irdische: Zwei Besucherinnen, die sich offenbar kennen, treffen sich und wirken peinlich berührt über die Begegnung. „Das ist was hier, gell? Warst du gestern auch da?“ Verlegenes Lachen: „Nein, da war ich ganz woanders.“ Schließlich gibt sie zu: „Ich war auf einer Geburtstagsfeier bei Verwandten.“ Es wird für einen Augenblick überdeutlich, dass hier zwei Welten aufeinanderstoßen, die nicht vermittelbar sind: Entweder ist es unangemessen, noch auf bürgerliche Geburtstagsfeiern zu gehen, während in der alten Fabrikhalle die endzeitlichen Liebesströme fließen; oder, falls man weiterhin das Dorfleben mit seinen Gepflogenheiten als Alltag leben will, ist das orgiastische Treiben, das bis ins Treppenhaus schallt, der Ausflug in eine Parallelwelt, in der man die Nachbarin nicht treffen möchte.
Annette Kick, Stuttgart