Energetische Psychotherapie und Meridian-Klopftechniken

Bei den Klopftechniken, deren Wirksamkeit im Rahmen einer „energetischen Psychotherapie“ erklärt wird, leitet ein Therapeut den Klienten zunächst an, sich intensiv an ein negatives Gefühl in der jüngeren Vergangenheit zu erinnern. Nachdem dieser sich auf eine Problematik und die sie begleitende Emotion und Körperwahrnehmung konzentriert hat, wird er aufgefordert, durch sanftes Klopfen oder Reiben bestimmte Akupunktur- bzw. Meridianpunkte zu stimulieren, was häufig mit einer selbstakzeptierenden Aussage verbunden werden soll. Zwischendurch soll er die Augen bewegen, summen oder zählen. Durch diese Methode könnten seelische Störungen vermindert oder gar zum Verschwinden gebracht werden. Einmal erlernt, soll sie auch als Selbsthilfe funktionieren. „Klopf-Klopf und die Angst ist weg?“, fragt polemisch ein Skeptiker (C. Bördlein).

Das Energie-Konzept löst wegen seiner Nähe zum esoterischen Menschenbild in psychologischen Fachkreisen zumeist Skepsis aus. Widersprechen „feinstoffliche Therapien“, deren Behandlungen an der „energetischen“ Hülle des Menschen ansetzen, nicht den Grundlagen der wissenschaftlichen Psychotherapie? Erst seit einigen Jahren wird die Hypothese, dass Gefühlszustände durch sensorische Stimulierung verändert werden können, wissenschaftlich untersucht.

Die Wurzeln der energetischen Psychotherapie liegen in der Traditionellen Chinesischen Medizin, hier insbesondere der Akupunktur. Aus dieser Kultur stammt die Vorstellung, dass im Körper und an ihm entlang unsichtbare Energieleitbahnen (Meridiane) verlaufen. Durch die Reizung definierter Punkte dieser Leitbahnen sollen Veränderungs- und Heilungsprozesse in Gang gebracht werden können. In den 1980er Jahren entwickelte ein amerikanischer Psychologe ein Verfahren, bei dem das Beklopfen von Akupunkturpunkten im psychotherapeutischen Kontext eine wesentliche Rolle spielte. Einer seiner Schüler, der Psychologe Fred Gallo, macht seit Anfang des Jahrtausends in Psychotherapeutenkreisen in Deutschland eine leicht veränderte Variante bekannt.

Das Beklopfen des eigenen Körpers zur Bewältigung von Ängsten und anderen belastenden Gefühlen ist recht ungewöhnlich und im Westen eine kulturfremde Provokation. Allerdings greifen sensorische Stimulierungen auf uraltes Wissen und auf Alltagserfahrungen zurück, etwa die, dass durch Berührung und durch Summen oder Singen die eigene Stimmung positiv beeinflusst werden kann und dass andere dadurch beruhigt und getröstet werden können. Die wissenschaftliche Erforschung solcher Phänomene und der psychosomatischen Zusammenhänge, wie negative Haltungen und Gefühle mittels sensorischer Stimulation kognitiv umstrukturiert werden können, sowie Überlegungen, wie dies in eine psychotherapeutische Behandlung einbezogen werden kann, stehen erst in den Anfängen.

Eine Pseudotherapie?

Lange vor ihrer wissenschaftlichen Erforschung erfreuten sich „Klopftherapien“ bei Heilpraktikern und Laien einer großen Beliebtheit. Die angeblich leichte Erlern- und Handhabbarkeit, die Einbeziehung des Körpers sowie vollmundige und weitreichende Versprechungen machten diese Verfahren attraktiv. Ein Anbieter stellt mit dem Motto „Klopf dich reich!“ bei der richtigen Anwendung der Methode großen finanziellen Erfolg in Aussicht. Der Buchmarkt ist mit diesbezüglichen Selbsthilfe-Ratgebern für alle möglichen Probleme und Konflikte überschwemmt, und in Fernsehshows werden spektakuläre Schnellheilungen demonstriert. Fachlich begründete Behandlungen versprechen dagegen keine umfassenden Heilerfolge durch diese Methode und haben keine utopischen Ziele. Sie sehen die Methode nicht als ein eigenständiges Verfahren an, sondern als eine die psychotherapeutische Behandlung ergänzende Zusatztechnik.

Die bayerische Psychotherapeutenkammer lehnte bis 2012 die Vergabe von Fortbildungspunkten für Veranstaltungen zur energetischen Psychotherapie für die verpflichtende Weiterbildung ihrer Mitglieder ab. Die Ablehnung wurde damit begründet, dass bisher keine über einen Placebo-Effekt hinausgehende Wirkung belegt sei. In ihrer Begründung weist die Kammer ausdrücklich auf ihre Verantwortung hin, den Bereich der anerkannten Fortbildungen von Veranstaltungen freizuhalten, die dem Ansehen der Profession durch unseriöse oder esoterische Weiterbildungsinhalte schaden könnten. Mittlerweile lägen jedoch empirische Belege für die Wirksamkeit bestimmter Klopftechniken vor, die die Effekte ihres Verfahrens ohne esoterische Konzepte erklären könnten. Deshalb werden diesbezügliche Weiterbildungen, sofern die Wirkung der Techniken, um die es dabei geht, wissenschaftlich nachgewiesen sei, inzwischen von der Psychotherapeutenkammer anerkannt.

Wissenschaftliche Befunde

Das „Psychotherapeutenjournal“, die Verbandszeitschrift aller deutschen Psychotherapeutenkammern, hat sich in der Ausgabe 2/2014 erstmals mit Klopftechniken beschäftigt. In der redaktionellen Vorbemerkung wird betont, dass jedes neue Psychotherapieverfahren mindestens genauso effektiv sein müsse wie etablierte Methoden und dass es empirisch überprüfbare Aussagen zu seinen Wirkmechanismen vorzulegen habe. Darüber hinaus wird gefordert, dass die von dem Verfahren angenommenen Behandlungselemente – wenn sie anerkannt werden sollen – tatsächlich zur Effektivitätsverbesserung der Therapie beitragen müssen.

Bis vor Kurzem existierten nur einige Studien, die über positive Wirkungen energetischer Psychotherapie berichteten, und nur wenige davon erfüllten die aktuell gültigen wissenschaftlichen Qualitätsnormen. Erst in den letzten Jahren wurden in verschiedenen Ländern methodisch anspruchsvolle Studien mit Kontrollgruppen durchgeführt; ein aktueller Überblicksartikel hat 18 solcher Studien ausgewertet. Als hoch wirksam erwies sich energetische Psychotherapie bei der Behandlung bestimmter Phobien, Ängste und Zwänge. Auch bei Traumafolgestörungen und Essstörungen erwiesen sich Klopftechniken als effektiv. Als besonderer Vorzug des Verfahrens wird die kurze Behandlungsdauer genannt: Schon sehr kurze Interventionen könnten zu bedeutsamen und anhaltenden Besserungen führen. Auch das Ziel der Selbsthilfe werde in dem Verfahren bestens umgesetzt. Es lägen klare Hinweise dafür vor, dass die Verwendung der Methode wirksamer sei als eine Placebo-Behandlung.

Erklärungsansätze

Manche Anbieter von Klopftechniken greifen zur Erläuterung der angeblichen Wirkungen auf esoterische Deutungen der Quantenphysik, die Reinkarnationslehre oder die Medialität zurück. Die von Gallo und anderen weiterentwickelten Klopftechniken sind jedoch an der Neurobiologie und der modernen Psychotherapieforschung orientiert, und ihre Wirksamkeit wird im Rückgriff auf die Akupunkturlehre der Traditionellen Chinesischen Medizin begründet. Diese Klopftechniken kommen auch ohne den aus der Kinesiologie bekannten Muskeltest aus.

In der Traditionellen Chinesischen Medizin wird ein psychosomatischer Zusammenhang vorausgesetzt, aufgrund dessen psychische Störungen zu einer Störung im Fluss subtiler Energien im Meridiansystem führen. Durch das Klopfen von Akupunkturpunkten sollen diese Störungen abgeschwächt und aufgelöst werden, was dann zu positiven emotionalen und kognitiven Wirkungen und zu veränderten Verhaltensweisen führe. Einschränkend wird allerdings in dem erwähnten Artikel des Psychotherapeutenjournals darauf hingewiesen, dass es bisher keine physikalischen Methoden gebe, um den Fluss solcher subtilen Energien oder die Blockierung dieses Energieflusses zu messen. Das Konzept der subtilen Energie benötigt noch mehr wissenschaftliche Erforschung, um als Wirksamkeitsbeleg der energetischen Psychotherapie zu gelten.

Darüber hinaus führen die Befürworter der Methode bewährte verhaltenstherapeutische Konzepte und physiologische Zusammenhänge an, mit denen die Wirkungen der energetischen Psychotherapie ebenso plausibel gemacht werden können. Im Sinne einer „Gegenkonditionierung“ oder einer „reziproken Hemmung“ ist es sinnvoll, eine aktivierte traumatische Erinnerung oder eine bedrohliche Situation mit einer angenehmen sensorischen Stimulation und einem positiven Glaubenssatz zu verbinden.

Einschätzung

Früher wurden Klopftechniken meist mit esoterischen Vorstellungen begründet. Die Wirksamkeit des Verfahrens kann aber auch mit bekannten psychologischen und neurophysiologischen Prinzipien erklärt werden, etwa im Kontext der systematischen Desensibilisierung. Die in jüngster Zeit veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchungen zur energetischen Psychotherapie zeigen, dass deren Methoden bei Angststörungen und der posttraumatischen Belastungsstörung oft in relativ kurzer Zeit zu bedeutsamen Besserungen führen. Auch können sie dabei helfen, Suchtdruck zu vermindern und Essstörungen zu behandeln.

Ein wesentliches Unterscheidungskriterium zur Einschätzung bilden die Wirksamkeitsbegründungen des Anbieters. Eine „subtile Energie“, die sensorische Stimulation angeblich in eine kognitive Umstrukturierung „übersetzt“, lässt sich mit gegenwärtig verfügbaren wissenschaftlichen Methoden nicht überprüfen. Das Energie-Konzept weist allerdings nicht automatisch auf ein esoterisches Menschenbild hin! Manche erstaunlichen psychophysischen Zusammenhänge können bei genauer Untersuchung plausibel erklärt werden. Klopftechniken aber, die ihre Wirkung mit „feinstofflichen“ Zusammenhängen begründen und einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten, haben im öffentlichen Gesundheitssystem nichts zu suchen.


Michael Utsch


Primärliteratur

Rainer und Regina Franke, Klopftherapien, in Rüdiger Dahlke (Hg.), Das große Buch vom ganzheitlichen Heilen, München 2007, 288-297
Christoph Jänicke/Jörg Grünwald, Feinstoffliche Therapien, in: dies., Alternativ heilen, München 2006, 236-251


Kritische Literatur

Michael Bohne (Hg.), Klopfen mit PEP. Prozessorientierte Energetische Psychologie in Therapie und Coaching, Heidelberg 2010
Christoph Bördlein, Klopf-Klopf und die Angst ist weg? Energiemeridiantechniken, in: Skeptiker 2/2013, 74-76
Christof T. Eschenröder, Wie wirksam sind die Techniken der Energetischen Psychotherapie?, in: Psychotherapeutenjournal 2/2014, 149-156
Claudia Wilhelm-Gößling/Christof T. Eschenröder (Hg.), Energetische Psychotherapie – integrativ, Tübingen 2012