Andreas Hahn

Enthusiastisches Erleben

Neopentekostale Spiritualität in psychologischer und theologischer Perspektive

Viele Ausprägungen innovativer und revitalisierter Religiosität werden von der Suche nach religiöser Erfahrung, nach spirituellem Erleben geleitet. Das gilt für esoterische Spiritualität mit ihren intuitiven Zugängen ebenso wie für gesellschaftliche Trends, in denen die Grenzen zwischen Wellness, Entspannungstechnik, Therapie und Transzendenzerlebnissen verschwimmen. Sogar Gewalterfahrungen können zu einem emotionalen „Kick“ führen. Erlebnisse scheinen zu einem neuen Narrativ für Religiosität zu werden.

Die christliche Variante dieser neuen Religiosität zeigt sich in den pfingstlich-charismatischen Bewegungen. Hier werden emotionale und enthusiastische Erfahrungen und Begabungen biblisch als sichtbare Manifestationen des Heiligen Geistes gedeutet. Eine deutliche Neuakzentuierung erhielt dieses gemeinsame Merkmal aller Pfingstbewegungen ab den 1980er Jahren durch Personen, Gemeinden und Werke, die sich einer „Third Wave“ (C. Peter Wagner) des Heiligen Geistes zugehörig fühlten und für die sich international der Begriff „neopentecostalism“ eingebürgert hat.1

Wahrnehmungen: „Power evangelism“ und Erweckungssehnsucht

Eine Reihe von Aspekten ist neu gegenüber der klassischen Pfingstbewegung:

  • Religiöse Ausdrucksformen werden in hohem Maße individualisiert.Dies führt zu zahlreichen unabhängigen Neugründungen von Gemeinden, Trägerkreisen und Netzwerken. Sie sind zweifellos attraktiv angesichts struktureller Individualisierung auch von Religion, in der sich konfessionelle Milieus auflösen und die Motive für eine Bekenntniszugehörigkeit sozial instabil geworden sind. Sie verstehen sich sehr pragmatisch als Instrumente zur Ausbreitung eines evangelikal-charismatischen Christentums, deren Strukturen auf individuelle Erlebnisbedürfnisse abgestimmt sind. Vor allem in größeren Städten werden nichtsakrale Gebäude zu Gottesdiensträumen umgestaltet, hier suchen vor allem junge Erwachsene und junge Familien nach neuen Ausdrucksformen für ihren Glauben – mit der Tendenz zu einer sehr viel homogeneren Gemeindebildung als in der klassischen Pfingstbewegung.
  • Die zentralen Topoi Geistestaufe und Glossolalie treten zurück zugunsten spektakulärer Charismen, einer Pluralität angeblicher Manifestationen des Geistes und deren öffentlicher Proklamation und Demonstration: „Power evangelism“ nannte John Wimber diese Form der Ausbreitung des Evangeliums, die auf der „übernatürlichen“ Macht des Heiligen Geistes gegründet sei. So bietet die auch in Deutschland einflussreiche Bethel Church aus Redding (Kalifornien), die ursprünglich zur Assemblies of God gehörte, einen Studiengang in „supernatural ministries“ an und sieht damit den „style of Jesus“ verwirklicht. In Deutschland laden „Erweckungscamps“ oder die ein- bis dreijährige „Schule der Erweckung“ dazu ein, „übernatürlich“ zu leben, die „königliche Identität“ zu entdecken und zum „Erweckungsträger“ zu werden.2
  • Heilungen als wichtige Zeichen der Pfingstbewegung werden in der neopentekostalen Bewegung unter dem Stichwort „Befreiungsdienst“ als Exorzismen angeboten. Krankheit wird als Schuldverstrickung gedeutet – auch als „Vorfahrensschuld“. Der zu Heilende müsse befreit werden von der Bindung an finstere Mächte, die oft dort am Werk seien, wo okkulte Praktiken ausgeübt worden seien. Neben spektakulären Heilungsgottesdiensten beten in den „Healing Rooms“ Teams aus Christen für körperliche und seelische Heilung. Der Kranke nehme im Glauben die in Christus bereits gegebene Heilung in Anspruch.
  • Prophetie und hörendes Gebet rücken stärker in den Fokus: Geistbegabten Personen würden übernatürliche Erkenntnisse und Deutungen offenbart. Sie stellen eine zuverlässige Diagnose, eine seelsorgerliche Anweisung oder eine politische Deutung dar. Prophetien geschehen nicht nur verbal, sondern auch visualisiert, z. B. beim „prophetischen Malen“.
  • Da die Pfingstbewegung in der Erweckungsbewegung wurzelt, kommt es in dieser „dritten Welle“ zu einer großen Erweckungssehnsucht, getragen von einer selbstbewussten Rhetorik: Wunder könne man erleben und demonstrieren. Jede neue „Welle“ wird als Durchbruch zu einer großen Erweckung begrüßt. Im Juli 2015 erwarteten 25 000 Besucher des „Awakening Europe“-Kongresses, dass sich 70 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus gerade von Nürnberg aus das Evangelium wie ein Feuer über ganz Europa verbreiten werde.3 An den Abenden der „Holy Spirit Night“ wurden 2016 jeweils eine halbe Stunde lang Gottes „creative miracles“ erlebt, mit Aufrufen und Beschwörungen Menschen geheilt und Dämonen ausgetrieben, begleitet von wildem Schreien und begeistertem Applaus.4 Im Hintergrund steht das Konzept der „geistlichen Kriegsführung“ (spiritual warfare), in dem das Konzept des Befreiungsdienstes kosmologisch ausgeweitet wird: Dämonische Mächte herrschen über bestimmte Gebiete und sind die Ursache für viele Glaubenshindernisse. Es gilt deshalb, einen „Raum für Gott einzunehmen“. So werden Gebiete ausgewählt und für sie eine „geistliche Landkarte“ erstellt (spiritual mapping). Durch Prophetien werden diese Mächte identifiziert und lokalisiert, die oft in Verbindung mit einer heidnischen oder nationalsozialistischen Vorgeschichte eines Ortes stehen. Der praktische Gebetskampf in Form von Gebetsmärschen oder Gebetshäusern proklamiert Gottes Macht und bindet Dämonen. Viele Initiativen versprechen auch gesellschaftliche Veränderungen. Teilweise lasse sich dies nur durch stellvertretende Buße erreichen, sodass etwa die Schuld nationalsozialistischer Verbrechen stellvertretend übernommen werde. Die „Märsche des Lebens“ der „TOS Gemeinde Tübingen“ sollen die geistlichen Folgen der Todesmärsche des Holocaust beseitigen. Ähnliche Vorstellungen stehen auch Pate bei den jährlich weltweit in vielen Hauptstädten durchgeführten „Märschen für Jesus“, die angesichts ihrer Größe und der Trägerkreise so etwas wie die „Vollversammlung der charismatischen Bewegung“ darstellen; die Teilnehmenden rekrutieren sich hauptsächlich aus neopentekostalen Gruppen, aber auch aus etablierten Kirchen.

Religiöses Erleben in psychologischer Perspektive

Ist es gerechtfertigt, die erwähnten paranormalen Erlebnisse als Kristallisationspunkte des Geistwirkens zu deuten, wie es im pentekostalen Christentum geschieht? Diese Frage beinhaltet einen theologischen wie einen psychologischen Aspekt. Vor einer theologischen Einschätzung möchte ich zunächst religionspsychologisch klären, was ein Erlebnis zu einem religiösenErlebnis macht.

Terminologische Klärungen

Dazu ist sinnvollerweise zwischen Wahrnehmung, Erlebnis und Erfahrung zu differenzieren:5 Unter Wahrnehmung soll alles verstanden werden, worauf sich das Bewusstsein intentional richten kann. Damit sind alle Ereignisse erfasst, die dem Bewusstsein erscheinen. Werden sie zu sinnhaften Repräsentationen verarbeitet und mit Emotionen belegt, sollen sie als Erlebnisse bzw. Erfahrungen bezeichnet werden. Erlebnisse sind dabei eher punktuelle Ereignisse, während Erfahrung durch wiederholte Erlebnisse gebildet, gewissermaßen „aufgeschichtet“ wird. Beide sind nicht „an sich“ gegeben, sondern benötigen Lernprozesse, individuelle wie sozialisatorische. Das Spektrum religiöser Erfahrungen reicht kontinuierlich von Gewöhnlichem (z. B. dem emotionalen Angesprochensein von einem Bibelwort oder einem Liedtext) bis zu Außeralltäglichem und sogar Ekstatischem. Enthusiastische Erfahrungen, die in ihrer Intensität als außeralltäglich erlebt werden, sind also nur ein Teil religiöser Erfahrungen.

Zum Gegenstand der Religionspsychologie

Mit diesem sehr weit gefassten, über Sinneswahrnehmungen hinausreichenden Wahrnehmungsbegriff wird kein Urteil über die „Objektivität“ der Wahrnehmungsgegenstände gefällt. Entscheidend ist nicht, ob es sich um eine Außenwahrnehmung „objektiver“ Gegenstände oder „nur“ um eine Innenwahrnehmung handelt. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, religiöse Erlebnisse und Erfahrungen nicht von vornherein reduktionistisch nur als innerpsychische Bilder, die nach außen projiziert werden, zu verstehen, und es kann bei spirituellen Erlebnissen die Möglichkeit offen bleiben, ob diese subjektiven Wahrnehmungen einer spirituellen Quelle – dem Heiligen Geist – zugeschrieben werden können. In diesem Fall müsste das religionswissenschaftliche Begriffssystem das theologische transzendieren, sodass Religionswissenschaft als rekonstruktive und empirische Wissenschaft der Theologie als hermeneutisch-normativer gegenübersteht. Beide schließen sich nicht aus, gehen aber auch nicht ineinander auf. Insofern konkrete Religionen immer auch (Sub-)Kulturen formen und prägen und darin ihre Gestalt und ihre Deutungskategorien gewinnen, wäre Religionspsychologie streng genommen „Kulturpsychologie“. Studien haben gezeigt, dass Gottesvorstellungen stark durch die religiöse Kultur, z. B. durch die Mitgliedschaft in bestimmten Denominationen, bedingt sind und es sich hierbei um relativ stabile Konstrukte handelt.

Eine intensive Glaubenserfahrung kann also als menschliche Selbsterfahrung interpretiert werden, sodass beispielsweise eine Intuition am Ende eines langen Lernprozesses zu einer spontanen, unmittelbaren Erkenntnis führt. Theologisch dagegen würde man diese Erfahrung als „Eingebung“ oder „Erleuchtung“ deuten, die aus dem Bereich der Transzendenz in den Menschen hineingelegt wird. Hier hat der Begriff Offenbarung seinen Ort.

Emotionspsychologische Deutungsmodelle

Empirische Untersuchungen intrinsischer Motivationen für Religiosität haben gezeigt, dass dabei oft eine ganze Reihe von Motiven eine Rolle spielt.6

  • An erster Stelle ist hier das Coping – das Streben nach Kontrolle über existenzielle Erlebnisse – zu nennen. Studien zeigen, dass Geborgenheitsgefühle entstehen können, wenn ein bereits verinnerlichter Glaube aktiviert wird.
  • Auch das Streben nach positivem Selbstwertgefühl ist ein zentrales Motiv menschlichen Handelns und kann auch durch religiöse Kognitionen gestützt werden, z. B. durch den Glauben an die Gottebenbildlichkeit oder an das grundsätzliche Angenommensein des Menschen durch Gott oder auch durch das Bewusstsein, einer Glaubensgemeinschaft anzugehören, der Gott besonders nahe ist. Selbstwertgefühl und Gottesvorstellung beeinflussen sich gegenseitig. Allerdings kann auch eine narzisstische Persönlichkeitsstörung durch ein übersteigertes Erwählungsbewusstsein verstärkt werden.
  • Die Bereitschaft zu Dank und Verehrung („Lobpreis“) verleiht dem Leben Mehrwert und führt zu einer positiven Ich-Erweiterung und Bereicherung.

Kognitive Motive

Außer durch Emotionalität ist Religion auch kognitionsbestimmt: Es besteht Interesse an Erkenntnissen und logischer Kohärenz. Erst durch diesen Einbezug kognitiver Komponenten werden Erfahrungen zu religiösen Erfahrungen. Ohne kognitive Deutung könnten die zuvor genannten zentralen intrinsischen Motive ebenso gut als subjektive emotionale Erfahrung erklärt werden. Emotionen und Kognitionen stehen aber in einem wechselseitigen Verhältnis, Emotionen als komplexe Reaktionen auf Reize umfassen neben Gefühlen auch kognitive Komponenten. Unser Erleben wird bestimmt durch Sozialisationseinflüsse, durch Lernen und durch vorhandene Dispositionen (z. B. Wertebindungen). Es gibt keine reinen Erlebnisse!

Religiöse Erlebnisse entstehen – anders als bloße Körpergefühle – im Wechselspiel von emotionalen und kognitiven Komponenten aufgrund bewusster Bewertungen. Religiös beschriebene Erlebnisse sind also „postkognitive Emotionen“7, bei denen die Wahrnehmungen vertrauter religiöser Symbole oder Handlungen (z. B. Gottesdienstbesuche, Gebete) zu religiösen Sinnzusammenhängen verarbeitet und mit religiösen Gefühlen belegt werden.

Spezifisch religiös sind also nicht die Inhalte dieser Erfahrung, auch wenn immer wieder versucht wurde, die Intensität oder eine besondere Feierlichkeit als Kriterium herauszuarbeiten.8 Das „religiöse Gefühl“ ist von profanen zwischenmenschlichen Gefühlen nicht zu unterscheiden, weder in seinen motivationalen noch in seinen Ausdruckskomponenten und auch nicht in neurophysiologischer Hinsicht. Nur in der kognitiven Komponente unterscheiden sich religiöse von nichtreligiösen Gefühlen, und ohne das kognitive Referenzsystem ist keine religiöse Erfahrung denkbar. Erlebnisse sind folglich dann religiöse Erlebnisse, wenn sie von den erlebenden Personen als „religiös“ gedeutet werden.9

Kognitionen können auch Emotionen auslösen. Religiöse Gefühle sind keine unspezifischen und nachträglich als „over-belief“ gedeuteten Erlebnisse, sondern verdanken sich einem bewussten Aktivieren religiöser Überzeugungen. Eine entsprechende Wahrnehmung wirkt folglich nur noch als „Trigger“, um religiöses Erleben in Gang zu bringen. Die religiöse Deutung ist selbst ein Element des Erlebnisses und prägt dieses. In einem religiösen Referenzsystem wissen die Glaubenden auf intuitive, evidente Weise, dass sie jetzt eine religiöse Erfahrung machen.

Folgerungen für pentekostale Erfahrungen

Pentekostale Erfahrungen sind nicht wegen ihrer Inhalte und auch nicht wegen ihrer Intensität religiös, sondern weil sie in einen pentekostalen Referenzrahmen gestellt und dadurch erlebt werden. Wer eine Geisterfahrung erwartet, entwickelt psychisch auch die Bereitschaft, sie zu erleben. Erlebnisse und ihre Deutungen bilden in pentekostalen Gruppen eine für das Individuum nicht unterscheidbare psychologische Einheit, sodass der Eindruck einer Gottesbegegnung entstehen kann. Ein entsprechendes Setting fördert die Voraussetzungen dafür, dass Geisterfahrungen, Glossolalie, Heilungen oder Prophetie erlebt werden können. Es erstaunt daher nicht, wenn pentekostales Erleben in erster Linie in Gottesdiensten oder auf Großveranstaltungen geschieht. Hier wird ein gemeinsamer Erfahrungsraum geschaffen mit kollektiver Erfahrungsaufschichtung, Fokussierung und Selektion. Die Erlebnisse werden durch gemeinsame Narrationen leicht kommunizierbar. Pentekostale Bewegungen haben ein umfangreiches Referenzsystem ausgebildet, das Gotteserfahrung als Reaktion auf intentionale Handlungen oder passive Widerfahrnisse möglich macht. Ein intrinsisches Motiv wie beispielsweise das Coping kann bei einem Bekehrungszeugnis in starkem Schwarz-Weiß-Kontrast angesprochen werden. Besonders neopentekostale Prediger beschreiben nach meinem Eindruck sehr häufig frühere Extremerfahrungen (Drogenmissbrauch, Gewalt). Auch die Bereitschaft zur moralischen Selbstkontrolle ist ein häufig angesprochenes Motiv.

Neben intrinsischen Motiven spielt im pentekostalen Erleben auch die Steigerung der emotionalen Reaktionsbereitschaft eine große Rolle: eine knappe Stunde Anbetungszeit mit Liedern und vielen Wiederholungen, das Unterlegen von Gebeten mit einem beruhigenden Klangteppich, das Beten mit erhobenen Händen, eine betont metaphorische Sprache, das Verwenden von Bildern und Symbolen, die Tiefenschichten ansprechen usw. In diesen Handlungs- und Verhaltensschemata werden auch intensive enthusiastische Erfahrungen vorbereitet, die mit „altered states of consciousness“ einhergehen und bei denen die Ich-Aktivität und die Ich-Demarkation verändert werden. Betroffene nehmen einen Inhalt wahr, den sie als „von außen“ kommend beschreiben, als Vision bzw. Audition. In psychologischer Perspektive wird hierbei die Quelle der Wahrnehmungen vom bewussten Ich dissoziiert. Sie sind meistens kulturabhängig: Christen erscheint nicht Krishna, sondern Christus, Marien- und Fegefeuervisionen sind Katholiken vorbehalten.10

Solche Offenbarungserlebnisse können zumindest teilweise selbstinduziert sein, erst dann entwickeln sie eine gewisse Komplexität. Hierzu gehört auch die Glossolalie, bei der die Ich-Aktivität bewusst zurückgenommen wird. Sie entsteht nicht einfach spontan, sondern kann durch Vorbilder und Gruppendynamik gelernt werden. So entsteht das Phänomen, dass ganze Gruppen nahezu übergangslos glossolal zu beten beginnen. Glossolalie wirkt nur als neue Erfahrung ekstatisch und entwickelt im Laufe der Zeit Routinen. Vorherrschend ist dann das wohltuende Gefühl, nicht von den eigenen Gedanken geführt zu werden, sondern von Gottes Geist.

Schließlich gehören zu den „altered states of consciousness“ auch die Erfahrungen von Ergriffenheit bzw. Besessenheit, d. h. unfreiwillige Erfahrungen des Beherrschtwerdens von einer fremden Macht. Psychologisch werden diese Erfahrungen meist den dissoziativen Identitätsstörungen zugeordnet. Die „altered states of consciousness“ im religiösen Erleben haben jedoch keine zeitliche Ausdehnung der Dissoziationen auf das Alltagsleben, und es fehlt auch das in der psychiatrischen Diagnostik genannte Auftreten dysfunktionaler Amnesien. Enthusiastische Ergriffenheitserfahrungen sind folglich keine pathologischen Zwangshandlungen; ebenso wie Glossolalie sind sie nur unter aktiver Beteiligung der Personen möglich.11

Angesichts der Betonung emotionaler Erfahrungen im pentekostalen Christentum wäre zu prüfen, ob auch kognitive Komponenten berücksichtigt werden oder nur die subjektive Betroffenheit und Intuition als entscheidendes Evidenzkriterium fungiert. Dazu bedarf es aber einer metakognitiven Reflexion, die immer nur im Rückblick geleistet werden kann. Wo die Bereitschaft dazu eingeschränkt ist, trifft man auf Vorurteile mit dogmatischen Immunisierungsstrategien gegen Kritik und abweichende Deutungen und einer Neigung zu autoritaristischen Strukturen. Hierzu gehört auch die Tendenz zum Fundamentalismus. Die religionspsychologische Forschungslage ist hierzu noch relativ dünn, möglicherweise handelt es sich um Ambiguitätsintoleranz, verbunden mit einer unterentwickelten kognitiven Komplexität. Forschungsergebnisse weisen aber eine Neigung zu vereinfachender Informationsverarbeitung nur bei existenziellen Themen nach. Vergleicht man die sozialpolitischen Einstellungen in den USA und – noch! – in Westeuropa, so zeigt sich, dass auch hier kulturelle Faktoren und Sozialisationsfaktoren eine wichtige Rolle spielen dürften.12

Als Ergebnis der emotionspsychologischen Analyse bleibt festzuhalten: Viele pentekostale Erfahrungsmerkmale beinhalten auch eine intrinsisch motivierte Komponente. Ob pentekostale extrapsychische Deutungen des Geistwirkens berechtigt sind, bedarf nun einer theologischen Untersuchung.

Theologische Einschätzungen

Die Besonderheiten neopentekostaler Bewegungen sind m. E. anders einzuschätzen als die der klassischen Pfingstbewegungen. Vielen Gemeinden und Gruppen steht der Lernprozess, Teil des Leibes Christi zu sein, noch bevor. Sporadische und pragmatische Verbindungen zu anderen Christen bedeuten noch keine ökumenische Gemeinschaft. Wo es aber gelingt, diese neuen Aufbrüche ökumenisch einzubinden, können Fundamentalisierungstendenzen zurückgedrängt und positive Akzente gestärkt werden.

Individualisierung und Neuformatierung des Religiösen

Die neopentekostale Individualisierungstendenz führt dazu, Traditionen als weitgehend irrelevant zu sehen. Damit bürdet man die Glaubensvergewisserung dem Einzelnen auf, und es bedarf der subjektiven Erfahrung: „Ich glaube, weil ich erlebt habe, dass es wahr ist.“ Notwendig sind dann in den Glaubensgemeinschaften immer wieder neue Bestätigungen dieser Erfahrungen durch jeweils neue religiöse Erlebnisse. Glaubensüberzeugung wird zur Glaubenserfahrung. Hier zeigt sich ein Problem von Erfahrung als leitendem Narrativ: An der Wirklichkeit einer Erfahrung kann man nicht zweifeln, man kann sich aber auch nur zum Teil damit auseinandersetzen oder sie wirklich teilen, da jede und jeder eigene Erfahrungen macht, die nicht deckungsgleich mit den Erfahrungen anderer sind. Um hier Brücken zu schlagen, entstehen neue Narrative und typische Patterns, die pentekostale Spiritualität zur Sprache bringen und dem säkularen populären kulturellen Mainstream entnommen sind.

Diese Entwicklung tendiert zu einer Trennung von Religion und (Hoch-)Kultur und führt zu einer Neuformatierung des Christentums: Wenn sich religiöse von kulturellen Markern lösen, entsteht etwas scheinbar „rein Religiöses“.13 Äußerliches und Formales wird zwar abgelehnt, aber losgelöst von den bisherigen kulturellen Systemen verbindet sich dieses „rein Religiöse“ jetzt wieder neu mit den Markern, die durch pfingstlich-charismatische Frömmigkeit geprägt sind. Ein Beispiel: „Lobpreis“ wird heute als ein bestimmter Musikstil verstanden (Mainstream Soft-Pop) und kaum mit anderen Stilen verbunden.

Ambivalenzen

Die pentekostale Suche nach unmittelbarer Gotteserfahrung greift vergessene Themen auf, die in unserem weitgehend säkularisierten Alltag wie auch im gegenwärtigen Protestantismus kaum vorkommen und die die Sehnsucht nach starken Gefühlen und einem Ausbrechen aus der banalen Alltagswelt wecken. Diese vergessenen Themen sind aber ambivalent. Der berechtigte Protest gegen einen erfahrungsarmen und geheimnisleeren, rein modernitätsverträglichen Glauben und die Skepsis gegenüber einem institutionalisierten Gewohnheitschristentum können auch zu einer Flucht in eine nur vermeintlich heile Welt führen, die zwar einfache Antworten und kompakte Lösungen in Lehre und Praxis verspricht, aber unter dem aufgebauten Erwartungsdruck fast notwendigerweise zu Enttäuschungen führt: Geisterfahrungen sind nicht planbar oder machbar. Wer diesen Weg verfolgt, tendiert auch zu Selbstinszenierungen.

Neue pentekostale Theologie

Um dem entgegenzuwirken, bedurfte es der Entwicklung einer pentekostalen Theologie jenseits einer biblizistischen Lukas-Exegese oder einer behaupteten Unmittelbarkeit urchristlicher und gegenwärtiger Erfahrungen.14 Allerdings entwickelte insbesondere der englischsprachige Raum schon seit längerer Zeit neue Perspektiven unter Einbezug traditioneller theologischer Methodik. Das 2014 von Jörg Haustein und Giovanni Maltese herausgegebene „Handbuch pfingstliche und charismatische Theologie“ bietet eine geradezu enzyklopädische Darstellung und Systematisierung der aktuellen pentekostalen Diskussion, deren Rezeption in Deutschland noch aussteht. Darin zeigt sich, dass selbst ekstatische Praktiken pentekostaler Kirchen in eine kontextuelle Rationalität eingeschrieben werden können, sodass sie nicht länger nur als prämoderne Ausdrucksformen gelten müssen.

Durch den Einbezug historisch-kritischer Bibelexegese ermöglicht es beispielsweise die Redaktionskritik, das für die Pfingstkirchen wichtige lukanische Doppelwerk theologisch zu profilieren und Lukas nicht nur als Historiker, sondern auch als Theologen mit einer spezifischen Sicht auf das Phänomen der Glossolalie zu verstehen. Andere systematisch-theologische Diskurse statten die Glossolalie mit sakramentaler Qualität aus, die eine rein subjektivistische Engführung verhindere. Und auch sprachphilosophisch werden – bezugnehmend auf Zeichentheorie (Husserl), Hermeneutik (Heidegger, Gadamer) und Sprechakttheorien (Austin, Searle) – neue Wege beschritten: Glossolalie zeige sich als ein Grenzfall der Sprache, als ein Widerstandsdiskurs gegen sprachphilosophische Kategorien.

Wenn Exorzismen beispielsweise liturgisch fest verortet werden – als Teil einer Anbetungszeit oder als diagnostische Handlung im Heilungsteil – erscheinen sie theologisch und liturgisch handhabbar. Die soteriologische Frage nach der Macht des Bösen angesichts des Sieges Christi, nach dem Verhältnis von geglaubtem Heil und körperlichem oder psychischem Wohlbefinden oder nach der Macht der Sünde bekommt einen liturgischen Ort, an dem Gottes Geist Raum gewinnen kann.

Natürlich besteht immer noch eine große Differenz zwischen diesen theologischen Erkenntnissen und den doch eher spezifischen Praxis- und Glaubensformen der pfingstkirchlichen Basis. Das ist aber kein Spezifikum von Pfingstkirchen! Nicht jede pfingstliche Praxis ist mit hochkirchlicher Theologie vergleichbar. Auch wenn diese theologischen Einlassungen den pfingstlichen Glauben mit seiner Dämonenwelt für Außenstehende nicht unbedingt plausibler machen, fordern sie doch zumindest dazu auf, eine kontextuell anders gebundene Vernunft als solche wahrzunehmen und dabei auch die eigenen dogmengeschichtlichen und fundamentaltheologischen Voraussetzungen mit zu bedenken. Ein so eröffneter Diskurs ließe auch die inhärente pfingstkirchliche Pluralität zutage treten und würde grundlegendere Diskussionen auch innerhalb des charismatischen Christentums anstoßen bzw. vertiefen.

Dies wird aber längst nicht überall im neopentekostalen Christentum begrüßt. Es gibt auch gegenläufige und damit hoch problematische Tendenzen, wenn beispielsweise bei der Tour der „Holy Spirit Night“ behauptet wird, die Zeit theologischer Diskurse sei „vorbei“ oder die „wahre Reformation“ bestehe darin, das übernatürliche Wirken des Geistes zu erleben.15

Trinitätstheologische Anfragen

Die pfingstlich-charismatische Betonung der Wirkungen des Heiligen Geistes führt nicht selten zu einer trinitätstheologischen Schieflage. Das ist keine bloß akademische Frage. Wenn enthusiastische Erfahrungen einseitig auf den Heiligen Geist zurückgeführt werden, dann gerät leicht aus dem Blick, dass diese Phänomene allgemein menschlicher Natur sein können. Sie sind und bleiben zweideutig, weil sie zu den Möglichkeiten geschöpflichen Existierens gehören. Eine Bezugnahme auf den ersten Glaubensartikel und die Schöpfungstheologie würde nichts von der Intensität oder der Wahrheit dieser Erlebnisse nehmen, aber ihre Divinisierung wie auch ihre Dämonisierung oder gar Pathologisierung verhindern.

Allerdings wird in vielen neopentekostalen Aufbrüchen und Veranstaltungen gerade das „übernatürliche“ Wirken des Heiligen Geistes herausgestellt. Eine solche unmittelbare Bezugnahme auf den dritten Glaubensartikel blendet den geschöpflichen Anteil charismatischer Erfahrungen vorschnell aus. Ein „altered state of consciousness“ ist sicherlich eine faszinierende Erfahrung. Dass aber hier eine Grundstruktur des christlichen Glaubens vorliege und durch tranceartigen Kontrollverlust ein Kontakt mit der göttlichen Kraft entstehe, ist eine mögliche, aber nur im Kontext charismatischer Frömmigkeit nachvollziehbare Deutung. Wer die Erfahrbarkeit des Heiligen Geistes auf spektakuläre Manifestationen konzentriert, engt sie faktisch ein. Religiöse Erfahrung ist ambivalent. Die Gebrochenheit des menschlichen und auch des christlichen Lebens darf nicht aus dem Blick geraten, sonst wird das Böse nur außerhalb des Christen und der christlichen Gemeinde verortet.

Dualistisches Weltbild

Ein daraus folgendes dualistisches Weltbild tendiert zum Fundamentalismus, zur Selbstabschließung und Arroganz sowie zu der Sicht, Erweckungen seien machbar und planbar, ohne dass eine kritische Aufarbeitung ausbleibender Erfüllung von Prophetien nötig sei. Politische Einschätzungen von Gottes Geschichtshandeln haben sich oft als gefährlich erwiesen und blenden die eigene perspektivische Gebundenheit aus. In der Seelsorge werden Prophetien und hörendes Gebet mit nicht zu hinterfragender Vollmacht vorgetragen, die ein eigenes Urteil über die „Eindrücke“ kaum ermöglicht. Ein Gebet ist ein unverfügbares Reden mit Gott, aber kein Kampf und kein Machtmittel. Übernatürliche Heilungsversprechungen sind biblisch-theologisch nicht gedeckt und setzen Menschen massiv unter Druck, wenn Heilungen als automatische Folge rechten Glaubens gesehen werden und dann ausbleiben. Würden charismatisch begabte Heiler Gottes Wirken auch durch geschöpfliche Kräfte betonen, wäre der Zusammenhang zwischen Heilungsgebeten und medizinischem Helfen deutlicher, und es würden Deutungsmöglichkeiten auch bei ausbleibender Heilung eröffnet.

Erlebnissehnsucht darf nicht zur Erlebnissucht werden und ekstatisches Verhalten nicht so zu einer neuen Norm erhoben, dass man sich diesen neu vorgegebenen Verhaltensmustern nur schwer entziehen kann.

Schließlich tendiert ein charismatisches Verständnis von Gemeindeleitung zu Machtmissbrauch. Hier lebt der alte Gegensatz vom Amt und Charisma wieder auf, der nicht dualistisch zu lösen ist.

Folgerungen: Pentekostale und evangelisch-theologische Pneumatologie

Diese dualistische Tendenz offenbart im Gegenzug eine strukturelle Schwäche protestantischer Positionen: Es ist mühsam, die Gebrochenheit des Glaubenslebens, die Ambivalenz von Religion und das grundsätzliche Aushalten einer Offenheit in letzten Fragen beizubehalten und zu betonen. Leichter haben es da Kompaktlösungen und einfache Antworten. Der Fundamentalismus – auch der charismatische Geistfundamentalismus – hat immer die Evidenz des ersten Eindrucks auf seiner Seite. Es ist nicht leicht, dieser Evidenz im Diskurs zu begegnen. Man muss sie daher von innen her, aus einem Verständnis pentekostaler Anliegen heraus, erweitern, damit die eigentlich komplexere Problemlage ins Bewusstsein gelangen kann. Hierzu bedarf es einer gut begründeten und erfahrungsorientierten Pneumatologie.

In evangelisch-theologischer Perspektive wird die Erfahrbarkeit von Gottes Präsenz in der Welt durch Christus und sein Wort beschrieben. Dies entspricht dem neutestamentlichen Befund: Vor allem bei Paulus weist der Geist auf Christi befreiende Gegenwart hin. Hierin liegt das unterscheidend Christliche begründet und nicht in einzelnen ekstatischen Erfahrungen. Diese sieht auch Paulus als ambivalent. Ekstase ist kein Kriterium, sondern bedarf eines Kriteriums, und dies ist nach Paulus das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn (1. Kor 12,3).

Eine theologisch angemessene Beschreibung des Geistwirkens darf sich also nicht einfach an emotionalen Erfahrungen – und seien sie noch so intensiv – orientieren, sondern sollte die darin zum Ausdruck kommende Macht des Auferstandenen, mit der eine neue Schöpfung heraufgeführt wird, akzentuieren.16 Insofern die Neuschöpfung noch nicht vollendet ist, stehen auch die Charismen unter diesem eschatologischen Vorbehalt und sind Charismatiker noch nicht am Ziel. Die Charismen können nur erbeten werden, wir können nicht über sie verfügen.

In dieser christologischen Perspektive kann gut begründet auch die Dimension des Außergewöhnlichen aufgenommen werden, insofern sie mehr ist als enthusiastisches Erleben.

Die Wirklichkeit von Geisterfahrungen und die „Unterscheidung der Geister“

Das Neue Testament beschreibt eine über die sichtbare, physische Welt hinausreichende transzendente, nichtmaterielle Wirklichkeit, die „Mächte und Gewalten“, Engel und Dämonen umfasst. Beide durchdringen sich, und der Mensch hat an beiden Anteil. Wie aber kann man von dieser Transzendenz sprechen, wie kann man von einem transzendent „agierenden“ Gott sprechen, will man nicht in ein naives, vorwissenschaftliches dualistisches Weltbild zurückfallen und damit den psychologischen – wie allen wissenschaftlichen – Erkenntnissen ihren Wert absprechen? Evangelische Theologie und Kirche tun sich an dieser Stelle schwer.

Unsere religionspsychologischen Erörterungen haben gezeigt, dass pentekostale Erfahrungen intrinsisch motiviert sind. Eine reduktionistische Beschränkung auf rein intrapsychische Beschreibungen kann vermieden werden, wenn Psychologie und Theologie so in ein Verhältnis gebracht werden, dass die Psychologie sich für transzendentes Erleben öffnet. Dazu müssten die fremdpsychischen Aspekte religiösen Erlebens so erfasst werden, dass sie über die immanenten intrapsychischen Aspekte hinausweisen.

Diese Möglichkeit bietet eine symbolische Redeweise. Symbole weisen über sich hinaus auf eine nicht unmittelbar zugängliche und insofern transzendente, aber zugleich anders nicht sagbare Welt, die sie repräsentieren und gegenwärtig machen. Sie eröffnen eine Wirklichkeitsschicht, die der nichtsymbolischen Redeweise unzugänglich ist.17

Dabei verbinden Symbole eine empirische und eine nichtempirische, existenzielle oder soziale Ebene. Auf der nichtempirischen Ebene wird nach Sinn gesucht, und Symbole leiten diese Suche. Symbole müssen aber erst zu solchen werden, sie sind nicht für sich gegeben, sondern werden zu Symbolen für diejenigen, die sie dazu machen. Es gibt sie nicht vor dem, sondern erst in dem Prozess der Sinnbildung.18 Sie lassen ein Bedürfnis nach Interpretation als Kommunikation über diese Sinnbildung entstehen, man kann sich nur interpretierend darüber verständigen.19 Im Vergleich zur begrifflich-definiten Sprache der Wissenschaften vermitteln sie nicht weniger, sondern mehr Wirklichkeit. Denn im Erlebnis des Symbols wird neben der Schicht des Sagbaren auch noch die Schicht des Unsagbaren als Grundsituation der menschlichen Existenz erfahren. An die Stelle wissenschaftlicher – auch psychologischer – Präzision tritt symbolische Deutung.

Auch religiöse Rede geht über das Wirkliche hinaus, ohne jedoch am Wirklichen vorbeizureden. Sie spricht der Wirklichkeit ein Mehr an Sein zu, als diese selbst aufweisen kann, und beansprucht darin, der Wirklichkeit gerecht zu werden. Bestimmte Möglichkeiten sollen der Wirklichkeit als zum Sein dieser Wirklichkeit zugehörig zugesprochen werden.20 Das geschieht in Riten, in liturgischen Formulierungen oder in den Symbolen von Taufe oder Abendmahl. So steht in der Symbolsprache eine Möglichkeit zur Verfügung, religiöse Erlebnisse so zu deuten und zu kommunizieren, dass transzendente Einflüsse wie auch unsere Reaktionen als eine Wirklichkeit beschrieben werden, die physisch wie psychisch anrührt. Enthusiastische Ergriffenheitserfahrungen sind dabei zwar als intrapsychische Intuitionen in religionspsychologischer Begriffssprache präzise erklärbar, um sie aber als externe Eingebungen bzw. als Offenbarungen deutend zu verstehen, bedarf es einer theologisch reflektierten Symbolsprache.

Dies geschieht z. B. in einem symbolischen Verstehen des Menschen, wie es in der gesamten biblischen Anthropologie ihren Ausdruck findet.21 Ergriffenheitserfahrungen legen ein anthropologisches Verständnis vom Menschen als „Gefäß“ zugrunde: Gott kann den Menschen „von außen“ kommend „in sich“ aufnehmen. „Innen“ bzw. die Struktur als „Gefäß“ ist aber nicht begrifflich, sondern symbolisch zu verstehen: „Innen“ bezeichnet das, was nicht vor aller Augen liegt, und ist somit eher sozial gedacht. Diese Symbolsprache des Geistes ist von diesem selbst zu unterscheiden.

Der transzendente Gott erschließt sich so nicht durch physische Sinneswahrnehmung und begriffliche Präzision, sondern durch Imagination und Intuition. Die so erschlossene Realität ist der Psyche ähnlich, liegt aber außerhalb dieser. Ein Zugang zu dieser Wirklichkeit eröffnet sich durch Meditationstechniken, Suggestion oder religiöse Rituale. Ein geeignetes Setting stellt der pentekostale Referenzrahmen zur Verfügung.

Das Spannungsfeld zwischen psychologischer und theologischer Deutung wird sich dabei aber nicht auflösen lassen. Es bedarf guter religionspsychologischer Kenntnisse und eines entsprechenden Einfühlungsvermögens, um zu entscheiden, ob die Ursache für eine pentekostale Ergriffenheitserfahrung nicht leichter und sparsamer intrapsychisch gedeutet werden kann. Eine extrapsychische Deutung – als Wirken des Heiligen Geistes – muss theologisch am Kriterium der befreienden Gegenwart Christ gemessen werden.

Die psychische Realität solcher Erfahrungen kann präzise analysiert werden, ihre theologische Wahrheit aber nur christologisch bzw. trinitarisch gedeutet. Eine darauf gegründete Anthropologie formuliert das unterscheidend Christliche in religiöser Erfahrung.

Daher gilt es, geeignete Symbole zu finden, die Gottes befreiende Gegenwart zum Ausdruck bringen. Wer an Gottes Offenbarung in Kreuz und Auferstehung glaubt, erlebt diese Symbole als wahr. In ihnen machen sich nicht nur innerpsychische Komponenten – oder theologisch gesprochen: geschöpfliche! – bemerkbar, sondern auch der befreiende und Neues schaffende Gott. Wenn sich solche Symbole einer dafür offenen Psyche einprägen, fließen sie in psychisches Erleben ein und erweisen ihre „Wahrheit“ darin, dass sie den Gekreuzigten und Auferstandenen erlebbar und kommunizierbar machen.

So kann begründet von der Gegenwart des Heiligen Geistes gesprochen werden. Weil er aber niemals verfügbar ist – auch nicht in theologischer Begrifflichkeit! –, kann man sich dieser Gegenwart nur in einer Haltung des Bittens und des Vertrauens öffnen. Hier sorgfältig zu unterscheiden, ist die Aufgabe einer „Unterscheidung der Geister“.


Andreas Hahn


Anmerkungen

  1. Die Einteilung in drei „Wellen“ wird zunehmend als westlich zentrierte Engführung kritisiert; vgl. die Einführung bei Jörg Haustein/Giovanni Maltese (Hg.): Handbuch pfingstliche und charismatische Theologie, Göttingen 2014, 16-65. Zum Begriff „neopentecostalism“ s. Matthias Pöhlmann/Christine Jahn (Hg.): Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, Gütersloh 2015, 219.
  2. Vgl. www.bssm.net  (Abruf: 28.8.2017); in Deutschland z. B. die „Jugendmissionsgemeinschaft Bielefeld“, die regelmäßig dazu einlädt.
  3. Vgl. Reinhard Hempelmann: Erweckungsprophetien über Europa („Awakening Europe“), in: MD 9/2015, 350-352.
  4. Vgl. Andreas Hahn: Heiliger Geist oder inszenierte Manipulation? Die Tour der „Holy Spirit Night“, in: MD 11/2016, 426-429.
  5. Zur Terminologie s. Erich Nestler: Pneuma. Außeralltägliche Erlebnisse und ihre biographischen Kontexte, Konstanz 1998, 149ff.
  6. Vgl. dazu den forschungsgeschichtlichen Überblick bei Bernhard Grom: Religionspsychologie, München 2007, 33ff. Den Bereich der extrinsischen Motive können wir für unsere Thematik ausblenden.
  7. Ebd., 185.
  8. So z. B. William James oder auch Rudolf Otto, der das Ergriffensein vom „Numinosen“ und die Erfahrung des „tremendum“ und „fascinosum“ zum Kriterium erklärte. Religiöses Erleben ist aber nur in besonderen Fällen „numinos“, ebd., 182f. 186.
  9. Vgl. ebd., 198f.
  10. Vgl. ebd., 217.
  11. Vgl. Nestler: Pneuma (s. Fußnote 5), 248.
  12. Vgl. Grom: Religionspsychologie (s. Fußnote 6), 155ff.
  13. Diesen Ansatz vertritt der französische Religionssoziologe Oliver Roy: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen, München 2010, bes. 45ff, 257ff.
  14. Fast alle pentekostalen Aufbrüche verstehen sich als Wiederholung des Azusa-Street-Ereignisses, das wiederum als Wiederherstellung des neutestamentlichen Pfingstereignisses gedeutet wurde.
  15. Vgl. Hahn: Heiliger Geist oder inszenierte Manipulation? (s. Fußnote 4), 428f.
  16. In pentekostaler Pneumatologie gibt es als Pendant zu diesen Überlegungen beispielsweise D. Lyle Dabneys These von der „Kenosis des Geistes“: Der Geist nimmt sich zurück und entäußert sich, wodurch eine alle Diskontinuitäten umfassende Kontinuität zwischen Schöpfung und Erlösung entsteht. Die Verlassenheit am Kreuz kann verstanden werden als Anwesenheit des Geistes beim Sohn. Diese begleitende, aber nicht identische Kenosis beschreibt eine Kontinuität zwischen Schöpfung und Heil im Werk des Geistes und lässt die Rechtfertigungslehre von der in der Auferstehung stattfindenden Neuschöpfung her verstehen. D. Lyle Dabney: Die Natur des Geistes. Schöpfung als Vorahnung Gottes, in: Haustein/Maltese (Hg.), Handbuch (s. Fußnote 1), 232-245. Frank Macchia griff diesen Gedanken auf und deutete die Rechtfertigung als Erlösung aus der geistgewirkten Neuschöpfung und nicht als juristische Statusveränderung (vgl. ebd., 34).
  17. Zum Symbolbegriff vgl. Paul Tillich: Das religiöse Symbol, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5, Die Frage nach dem Unbedingten, Schriften zur Religionsphilosophie, Berlin 1964, 196-212.
  18. Vgl. Johannes Anderegg: Symbol und ästhetische Erfahrung, in: Jürgen Oelkers/Klaus Wegenast (Hg.): Das Symbol – Brücke des Verstehens, Stuttgart 1991, 49.
  19. Vgl. ebd., 50.
  20. Vgl. Eberhard Jüngel: Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie, in: Paul Ricoeur/Eberhard Jüngel: Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, 71.
  21. Dies geschieht z. B., wenn ein Teil für den ganzen Menschen steht und ihn damit in einer bestimmten Perspektive deutet, als Herz (leb), als Seele (näfäsh) – biblisch wird der Mensch synekdochisch beschrieben.